Marginalien

Der text+kritik-Band zu Gottfried Benn gibt sich zufrieden

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinz Ludwig Arnold hat mit text+kritik ein erstaunliches Projekt realisiert. 169 Bände, zum Teil in mehreren Fassungen und Auflagen hat er bisher publiziert, 35 Sonderbände ergänzen das Programm. Jedes Quartal kommt ein neuer Band hinzu, und damit eine neue Monografie, die in vielen Fällen überhaupt so etwas wie eine literaturwissenschaftliche Forschung begründet. Mit anderen Bänden, etwa zur Gruppe 47 oder zu Heinrich Mann, Heinrich von Kleist oder Bertolt Brecht hat er die Forschung deutlich beeinflusst, teilweise sogar Standardwerke vorgelegt. Arnold hat damit vor allem eine wichtige Aufgabe übernommen, nämlich die der Schaltstelle zwischen Feuilleton und Literaturwissenschaft. Zwar sind die Bände von text+kritik einem allgemeineren Interesse verpflichtet und die Wahl der Themen ist durchaus davon beeinflusst, worüber derzeit im Feuilleton gesprochen wird (gelegentlich wird allerdings antizyklisch agiert). Aber wer spräche sich davon frei.

Auch hat Arnold eben immer wieder Autoren verschiedener Profession verpflichten können, Wissenschaftler, Publizisten und Autoren. Für die Literaturwissenschaftler ist text+kritik dabei zu einer Art experimentellem Freiraum geworden, in dem sie auch Unerprobtes und - was lange ein wenig anrüchig schien - allzu Nahe-Liegendes umsetzen konnten. Damit lassen sich an den text+kritik-Bänden eben auch die jeweiligen neuen Denkmoden und Konjunkturen relativ früh erkennen und nachvollziehen.

Spätestens damit ist bei den wichtigeren unter ihnen gelegentlich eine Neubearbeitung geboten, wie es in dem hier vorliegenden Fall Gottfried Benn zum zweiten Mal geschieht. Die erste Auflage ist 1974 erschienen, die zweite, eine Neufassung erschien 1985, und nun, erneut mit neuen Texten, ist die dritte Auflage erschienen.

Arnold hat hier eine interessante thematische, personelle und methodische Mischung zusammengestellt, zugleich hat der Band ein einigermaßen klares Profil. Neben jüngeren Kolleginnen und Kollegen wie Yvonne Wübben, Elisabeth Kampmann und Agis Sideras, Wissenschaftlern der mittleren Generation wie Thomas Wegmann oder Cäcilia Töpler und etablierten wie Joachim Dyck hat Arnold auch ältere Kollegen wie Theo Buck und Uwe-K. Ketelsen gewinnen können. Hinzu kommen Mitarbeiter, die als Wissenschaftler und literarische Autoren publizieren (etwa Anja Liedtke oder Norbert Hummelt).

Die Beiträgermischung erzeugt eine Verschiebung des Bands vom wissenschaftlichen zum literarischen Diskurs, die Arnold selbst mit einer Collage von Texten Benns eröffnet (in der Auflage von 1985 stand eine Reihe von Gedichten an dieser Stelle). Allerdings provoziert das die Frage, welches Erkenntnisinteresse damit bedient werden soll. Zwar lässt sich dem entgegnen, dass sich wissenschaftlich gebende Texte oft aus mehr oder weniger geschickt zusammengestellten und moderierten Zitaten besteht. Aber solch üble Nachrede ist das Los, das jede Literaturwissenschaft tragen muss, die ja - böswillig formuliert: ein Parasit - immer nur kommentiert und neu montiert, was die Autoren zuvor geschrieben haben. Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass die literaturwissenschaftliche Arbeit auch die Aufgabe hat, ein kulturelles Feld zu sondieren, zu analysieren, auszuwerten und zu ordnen, das - so marginal es mittlerweile auch scheinen mag - zu den zentralen Orientierungsinstitutionen von Gesellschaften gehört. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, welche Auswahl Arnold mit diesem Band getroffen hat, welche Paradigmen er bedient und welche er außen vor lässt.

Thematisch schreitet der Band das Gesamtfeld Benn ab, wenn auch mit der Einschränkung: so weit es einem Buch dieser Größenordnung möglich ist. Größere Faszination übt dabei der Dialog "Ithaka" aus, den gleich drei Beiträge in ihre Überlegungen einbeziehen. Daneben ist das naturwissenschaftlich-medizinische Paradigma in zwei Beiträgen präsent - bei Yvonne Wübbens Beitrag zur Rezeption der Hirnforschung durch Benn und bei Thomas Wegmanns Versuch, das Motiv des Parasiten als zentrales Paradigma für Benns Anthropologie und Ästhetik zu etablieren. Uwe-K. Ketelsen und Joachim Dyck nehmen sich Benns Faschismus-Wende vor, Ketelsen konkret zu Benns Versuch, sich in einen faschistischen Kulturdiskurs einzuschreiben. Dyck hingegen widmet sich dem Verhältnis Klaus Mann - Gottfried Benn. Auffallend gering besetzt ist das Spätwerk: Elisabeth Kampmann skizziert Benns Wirkung in der jungen Bundesrepublik und deren Bedingungen. Daneben stehen Einzelbeiträge, darunter Theo Bucks Analyse des Gedichts "Einsamer nie -", ein Vergleich Benns mit William Carlos Williams (Jan Wagner), Benns Verhältnis zu Else Lasker-Schüler (Jakob Hessing) oder ein Vergleich des Berichts Benns zur Hinrichtung Edith Cavells 1915 in Brüssel (einem der großen Skandale des Ersten Weltkriegs) und Ernst Jüngers Hinrichtungsbericht aus den "Strahlungen", datiert mit dem 29. Mai 1941 (Jörg Döring).

Die Beiträge sind auffallend heterogen in Methodik und vorgetragenen Thesen, was nicht notwendig ein Schaden ist. Stark vertreten ist der persönliche Zugang, wie ihn etwa Jan Wagner oder Norbert Hummelt in ihren Beiträgen wagen - für wissenschaftliche Publikationen zumindest ein schwieriges Vorgehen. Textorientierte Beiträge (wie etwa Theo Bucks Beitrag oder im Wesentlichen der Beitrag von Jörg Döring, der dieses Verfahren auf Wolfgang Koeppen höchst erfolgreich angewandt hat) stehen neben solchen, die ihre These beinahe klassisch mit Belegen aus dem Referenzbereich des jeweiligen Werkabschnitts zu stützen versuchen. Zudem sind sozialhistorische Texte sind zu finden und sogar ein psychoanalytischer Beitrag. Eine Mischung also, die viel verspricht, zumal bei den Beiträgern. Auf eine Biografie Benns hat Arnold dieses Mal ebenso verzichtet wie auf eine Bibliografie.

Und dennoch hinterlässt der Band einen überraschend belanglosen Eindruck. Wenn Helmut Lethen oder die neue Benn-Biografie von Gunnar Decker zur Auseinandersetzung, ja zum Widerspruch reizen, sind die Beiträge des text+kritik-Bandes auffallend zahnlos. Die Parallelen von Williams und Benn: ja, interessant. Die Parallelen und Unterschiede zwischen Jüngers und Benns Hinrichtungsbericht: vielleicht aufschlussreich. Die Werkphasen Benns gelesen analog zur "Entstehung und zum Verlauf eines schizophrenen Zusammenbruch[s]" Cäcilia Töpler): Wenns denn sein muss (ich glaube übrigens, es muss nicht). Der Parasit als Paradigma im Werk Benns - meinetwegen auch das. Aber zwingend oder zum Widerspruch reizend ist das meiste in diesem Band nicht. Ohne Zweifel haben etwa Ketelsen, Dyck und Kampmann in ihren Beiträgen genaue Beobachtungen und präzise Analysen vorgelegt. Auch Bucks detailgenauer Gang ins Gedicht, der dem Leser notwendig Geduld abverlangt, gehört zu den Perlen des Bands. Und dennoch können sie den Gesamteindruck nicht wirklich positiv beeinflussen. Selbst die Kritik an der methodischen Haltbarkeit der Schizophrenie-Analogie oder am Kurzschluss von Subjekt und Text (Töpler), reizt nicht wirklich zur energischen Auseinandersetzung. Und die Frage bleibt offen, warum das so ist.

Wenn man hormonelle Störungen des Rezensenten oder einen gewissen Benn-Forschungsüberdruss ausschließen will (beides wären arg unprofessionelle Ursachen), dann mag als Grund zurückbleiben, dass Arnolds Redaktionsprinzip, das ja dankenswerter Weise auf methodische Vielfalt setzt und auf die Integration der Professionen, die mit der Literatur zu tun haben, in diesem Fall auf den Band negativ zurückgeschlagen ist. Oder man hält dem Band einfach nur zu Gute, dass er einige gute und sogar herausragende Benn-Beiträge enthält, wie es wohl meist der Fall ist, und damit hat es sich.

Soll heißen: Sammelbände in der Gänze zu lesen, kann zu deutlichen Nebenwirkungen führen. Wen man allerdings bei solchen Symptomen fragen müsste, was dagegen zu tun sei, entzieht sich meiner Kenntnis. Eine Packungsbeilage gibt es, die hilft nicht weiter, und Ärzte und Apotheker sollte man besser nicht angehen, am Ende kennen sie genug von Benn, um einen damit voll zu schwatzen. Und nichts ist schlimmer als ein Zahnarzt, der bohrt und dabei Kulturgut und Lesefrüchte absondert. Geben wir uns also ebenso zufrieden mit dem Ergebnis, wie der Band sich damit zufrieden gibt, dieses und jenes zu Benn zu sagen.


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Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Gottfried Benn. Heft 44.
edition text & kritik, München 2006.
223 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3883778192

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