Raabs Tierleben

In „Bobophon“ erfindet Thomas Raab erbauliche kybernetische Lehrfabeln

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So bunt wie das Cover seines Buches ist das literarische Bestiarium, das der Wiener Autor Thomas Raab und sein Illustrator Christian Wallner auf 130 Seiten darbieten. Von der Grünalge bis zum Elefanten reicht die Spanne der Tiere, denen die 37 Abschnitte gewidmet sind. Mit der klassischen „Lehrfabel“, auf die im Untertitel ironisch Bezug genommen wird, haben die Texte nur gemeinsam, dass die Schilderung von Tieren auf menschliche Eigenschaften und Verhaltensformen verweist. Wie dieser Zusammenhang ausgestaltet ist, stellt sich allerdings recht unterschiedlich dar. Der zoologischen Klassifikation des naturwissenschaftlich versierten Kognitionsforschers Raab  – jeder Überschrift ist der lateinische Name der Spezies beigegeben – sei daher eine (provisorische wie unsaubere) Text-Klassifikation gegenübergestellt, um so zu einer angemessenen Bewertung zu kommen.

Zahlenmäßig am stärksten vertreten sind Texte, in denen Tiere selbst zu Wort kommen. Dennoch entsprechen sie nicht dem klassischen Schema der Tierfabel, da die Typisierung und die Ebene der Uneigentlichkeit fehlen – wie sollte etwa der Legebericht einer Henne, die dazu noch über die Menschen spricht, „uneigentlich“ gelesen werden? Auch wenn es außerhalb der Tierfabel eine lange Tradition von sprechenden Tieren in der Literatur geben mag, ist die bloße Perspektivumkehr wie sie Raab hier vornimmt, doch zu unergiebig, wenn weiter nichts dazukommt.

Näher am allegorisierenden Verfahren der Tierfabel sind Texte, die mit Montage arbeiten: In einem von menschlichen Akteuren handelnden kohärenten Text sind Passagen mit zoologischen Beschreibungen von Tieren einmontiert. Dass es zu einem Sinneffekt kommt, die Sinnebenen produktiv interagieren, hängt vor allem davon ab, dass das menschliche Verhalten nicht schon so vollständig gedeutet und bewertet ist, dass die Tier-Analogie gar nicht mehr „zünden“ kann. Das detailreich geschilderte Balzverhalten von Jugendlichen in der Disco beispielsweise mit der ungeschlechtlichen Fortpflanzung einer Alge zu kontrastieren, lässt uns weder die Jugendlichen noch die Alge neu sehen. Die Karrierepläne eines Privatdozenten namens Wickelbär stehen in keinem anderen Licht, wenn sie von Informationen zum zoologischen Wickelbären unterbrochen werden. Und wenn der Trend zu XXL-Models aufs Korn genommen wird, scheint der Autor sein eigenes Verfahren zu parodieren, indem er ihnen, motiviert durch das Modeaccessoire Gürtel, das Gürteltier gegenüberstellt. Die Glosse gewinnt nicht nur nicht dadurch, sondern verliert noch an Wirkung. Blass bleibt die Tier-Mensch-Analogie auch, wenn die Tiere ohnehin in der Alltagsmetaphorik geläufige Bildspender sind: illegale Darknet-Händler/Erpresser als „Ratten“ oder eine Firmenübernahme als Einverleibung durch Raubfische (vgl. die idiomatische Rede von „Haifischbecken“ und „großen Fischen“).

Eine weitere Variante, um den Zusammenhang zwischen Tier und Mensch herzustellen, sind formal konventionelle Schilderungen von Erlebnissen mit oder Beobachtungen an Tieren. Ein Ethnologe etwa studiert das Gruppenverhalten von Möwen und Enten und zieht seine Schlüsse. Oder ein Ich-Erzähler sinniert über eine tote Taube im Innenhof und beginnt, seine Partnerschaft in einem neuen Licht zu sehen. Ähnlich gerät einem anderen Erzähler das Erlebnis mit einer an einen Stock gebundenen Schildkröte aus seiner Jugendzeit zu einem metaphysischen Denkbild über „Schönheit in der Beschränktheit“, indem er seine Existenz in der der Schildkröte wiedererkennt.

Nur fünf Texte schließlich umfasst die letzte Textgruppe; hier werden allegorische Fantasietiere mit satirischer Note vorgestellt: der Kunstkakadu, der Platzhirsch, der Nischentiger und die Revolutionsschnecke. Aus diesen Spezies ragt turmhoch – oder besser: giraffenhoch – die gelungenste Kreatur bzw. Kreation des ganzen Bandes heraus: die „Diskursbiene“. Anders als bei den übrigen Tieren ist das satirische Angriffsziel klar identifizierbar: die Genderforscherinnen unserer Tage. Ist es so originell, über diese herzuziehen, die ohnehin schon notorisches Objekt gesellschaftlicher Anfeindungen sind? Ja – wenn die Satire mehr ist als eine griffige Einkleidung für Ressentiments; was sie eigentlich immer sein sollte. Die Raabsche „Diskursbiene“ hat als Text einen solchen poetischen Mehrwert. Hier werden nicht Menschliches und Tierisches äußerlich in Analogie gesetzt, sondern sind in einer bestechenden Kreation, die unmittelbar einleuchtet, eins geworden.

Unweigerlich muss man an das vor nunmehr 100 Jahren erstmals erschienene Große Bestiarium der deutschen Literatur des Österreichers Franz Blei denken, der seine schreibenden Zeitgenossen so meisterhaft in Tierarten verwandelt hat, dass die Verkleidung ihre Charakterzüge und Eigenarten kenntlich werden lässt. Genau dies ist Raab nun an einer zeittypischen Sozialfigur statt an einem Individuum gelungen. Es ist geradezu, als hätte der Günter Eich der „Maulwürfe“ Franz Blei gelesen, um einen Gender-Maulwurf zu verfassen. Wie bei Eich ist es der Überschuss einer leicht absurden Sprachlogik, der über das Funktionieren der Satire hinausgeht und dem Text seinen poetischen Duktus verleiht – etwa wenn sich unmerklich über Lautassoziation aus dem erwartbaren Wort „Pollen“ das Wort „Pollution“ ergibt, was wiederum zur Frage führt: „Onaniert sie? Nein! Sie habilitiert. Das ist etwas anderes“. Sprachfantasie und Sprachspiel sind dem Autor sonst leider eher fremd; das hätte manches Tierporträt womöglich etwas lebendiger gemacht.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die unterschiedlichen Schreibweisen und Texttypen im Fokus zu uneinheitlich sind, als dass die Sammlung wie aus einem Guss erschiene. Viele Texte weisen eine eher satirische Ausrichtung auf, andere wiederum nicht. Dazu beigetragen haben mag auch, dass die Stücke über einen Zeitraum von immerhin 14 Jahren entstanden sind, wie der Autor im letzten Abschnitt anmerkt, und wohl nicht nochmals überarbeitet wurden. Dieser Abschnitt – er ist der Spezies Homo sapiens gewidmet – fügt der Beurteilung des Ganzen nochmal eine besondere Dimension hinzu, gibt er uns doch so etwas wie einen programmatischen Schlüssel, eine Ex-post-Lesehilfe an die Hand.

Unter dem Titel „Üble Nachrede“ beginnt diese Nach-Rede wie ein zivilisationskritisches Manifest mit der Kerndiagnose eines allgegenwärtigen Zwanges zur Lüge – der Anfang ist sogar auf dem Rückendeckel abgedruckt –, leitet daraus eine Art Poetik ab und geht dann über in eine Offenlegung der Antriebsgründe des Autors: Hass, Ekel, Verzweiflung und Ressentiments. Nun ist es nie besonders glücklich, Texten, die für sich stehen sollten, Hinweise darüber beizufügen, was der Verfasser mit ihnen sagen wollte. Diese Nach-Rede benennt zwar genug „Übles“, ist allerdings auch irritierend, hat man doch Mühe, das vom Autor Intendierte im soeben Gelesenen wiederzuerkennen. Das Buch richte sich gegen „namenlose Typen gesellschaftlicher Segmente, die mir nahe sind“, lesen wir, doch konkrete soziale Milieus, die dem entsprechen könnten, wie die der netzaffinen Designer und Künstler, Wissenschaftler und Therapeuten, kommen nur in weniger als der Hälfte der Texte vor, halten sich daher auch nicht sonderlich eindrücklich im Bewusstsein des Lesers/ der Leserin. Für Raab bilden sie alle die seinen Abscheu weckende urbane Gruppe der Bobos („Bourgeois Bohemiens“ nach dem US-Journalisten David Brooks, 2000), welche er im Visier hat, die aber in seiner Aufzählung gesellschaftlicher Antagonismen auch wiederum nur eine Untergruppe bilden.

Immerhin erklärt sich so der Titel der ganzen Sammlung: wie ein Babyphon die Lautäußerungen eines Babys aus dem Nebenzimmer verstärkt überträgt, so ist das Bobophon quasi ein Abhörgerät für das Sozialmilieus der Bobos. Das mag eine famose Titel- und Buchidee sein, doch das Buch müsste dann anders aussehen – sind doch nicht die Bobos die durchgehende Referenzgröße der Stücke, sondern vielmehr die variierende Tier-Einkleidung, die „zoologische Oberfläche“ eines „sozialpsychologischen Schlüsseltextes“, wie Raab schreibt. Und da wäre es womöglich zweckdienlicher gewesen, sich für eine Schreibweise zu entscheiden: also entweder eine charakterologische Typengalerie mit Fantasietieren wie der „Diskursbiene“ oder eine solche mit sprechenden Tieren.

Etwas ausgleichend gegenüber dieser kompositorischen Uneinheitlichkeit und konzeptionellen Unwucht wirken die Schwarzweiß-Illustrationen von Christian Wallner, eines Freundes des Autors. Dabei sind sie ihrerseits stilistisch und zeichentechnisch recht vielgestaltig. Es finden sich flächige Darstellungen in grafischer Mischtechnik ebenso darunter wie impulsiv hingeworfene Kohleskizzen. Fast nie jedoch wiederholen die Grafiken bildnerisch, was der Text sagt, im Sinne einer platten Wiedererkennbarkeit; sie sind also alles andere als nur „illustrativ“. Dafür bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen assoziativer Abstraktion und mimetischer Stilisierung des im jeweiligen Text Beschriebenen und besitzen einen expressiven Eigenwert, der zuweilen über den Textbezug hinausgeht.

Titelbild

Thomas Raab: Bobophon. Lehrfabeln.
Mit Zeichnungen von Christian Wallner.
Ritter Verlag, Klagenfurt 2020.
130 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783854156000

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