Der flüsternde Celan
Claudia Rankine montiert in „Lass mich nicht einsam sein“ ein amerikanisches Seelenporträt zwischen euphorisiertem Wir und bodenloser Einsamkeit in der Ersatzexistenz von TV und Antidepressiva
Von Simon Scharf
Wenn etwas das bereits formal bestechende schmale Buch Lass mich nicht einsam sein. Ein amerikanischer Refrain der US-amerikanischen Schriftstellerin und Lyrikprofessorin Claudia Rankine durchzieht, sind es Hoffnungslosigkeit und omnipräsente Trauer, eine Art lyrisches Todesbewusstsein. Vom Krebstod der Freundin, über die Depression des redenschreibenden Freundes, bis hin zu den Toden von Schwester und Ehemann sowieso des eigenen Vaters – das erzählende Ich dokumentiert gewissermaßen collagenhaft, zwischen Bild, Dialog, Gedicht, Aphorismus und einer auffallenden Leere der Seiten changierend, die eigene fragile Selbst- und Weltverortung.
Auch wenn sich der Tod vermeintlich nähert und die tragischen Nachrichten aus dem eigenen Umfeld die „Einschläge näher kommen lässt“ (hier mutieren das Telefon und der Blick zu Vorboten des Todes), schildert Rankine in Form pointierter und im höchsten Maße bildlicher Alltagsminiaturen eine Art virtuelle, vermittelte Existenz, der die Präsenz abhanden kommt: Symptomatisch dafür steht zunächst das Fernsehen als Leitmotiv des Buches – wiederkehrend visualisiert im Text und prominent zu erkennen auf dem Buchcover mit dem Instrument der Fernbedienung. Es verkörpert das Paradox von Ab- und Anwesenheit, vermittelt das tagesaktuelle Geschehen in bildgewaltiger Wucht bei gleichzeitiger Möglichkeit, sich zu entziehen und die eigene Welt per Fernbedienung und Favoritenliste selbst zu konstruieren. Das Fernsehen bildet das Grundrauschen des Alltags, navigiert in den Schlaf und beruhigt durch die vermeintliche Anwesenheit der anderen Stimmen – und verfestigt doch das Bewusstsein der Einsamkeit, der Ohnmacht und des Zuschauens mit Blick auf eine nicht zu beeinflussende Parallelwelt. Auch die permanent wiederkehrenden Antidepressiva (sei es in Form der Auflistung von Pharmaunternehmen oder der Darstellung von Anwendungshinweisen) setzen das Ich in Distanz zur Welt: Über die Depression wird die Kälte der Gesellschaft kompensiert, schaffen es die handelnden Personen gerade so, am alltäglichen Wahnsinn teilzuhaben bzw. den eigenen Rückzug in die Einsamkeit zu verzögern – gleichzeitig profitiert eine mächtige Branche.
Rankines fein gewobener Text, der Elemente des Langgedichts und des möglicherweise autobiografisch geprägten Essays zusammenbringt, ist dabei eingebettet (das amerikanische Original erschien 2004) in eine hochinteressante politische Begleitreflexion, die nicht zuletzt durch den gegenwärtig vielfach dargelegten Abgesang auf den Westen und die amerikanische Außenpolitik eine besondere Aktualität gewinnt: Das erzählende (oder lyrische?) Ich beobachtet bei sich ein „grundsätzlich mangelndes Vertrauen in die Verfassung unseres Landes“, das zunächst (wie schon im Werk Citizen, auch bei Spector Books erschienen) zurückgeht auf die fast zeitlose und allgegenwärtige rassistische Polizeigewalt und die scheinbar institutionalisierten Formen entsprechender Diskriminierung und Benachteiligung. Trauer, Hoffnungslosigkeit und der fehlende Glaube an ein Lernen aus der Geschichte zeigen sich aber auch, wenn es um die Konsequenzen der Terroranschläge des 11. Septembers geht: Rankine entlarvt ein erstarktes Nationalbewusstsein (in Anbetracht der äußeren Bedrohung) als altes Freund-Feind-Denken und als „fehlende Bereitschaft, komplex zu sein“, ertappt sich gar bei der Angst, eingestehen zu müssen, „dass wir nie komplex waren“. Lakonisch dokumentiert sie die wiederkehrenden und in ihrer Absurdität für sich stehenden Sicherheitsmaßnahmen der US-Regierung sowie den ins Leere laufenden Umstand, Krieg zu führen, um die Welt friedlicher zu machen.
Auf Celan und Levinas hoffend arbeitet sich Claudia Rankine zuletzt ab – und darin liegt gewissermaßen das Gegenmittel im Angesicht der Vielzahl an Konflikten – an einer Lebensform der Präsenz und Anwesenheit, der Überwindung eines vermittelten und medialisierten Daseins durch die Zuwendung zum Anderen. Dieses Andere kann abstrakt, etwa der Traum sein, meint aber auch und vor allem den Menschen: Das Warten auf den Anderen, das Für-den-Anderen und Im-Anderen-Sein wird zum rettenden Ufer – und beschließt einen überaus ambitionierten, zu Trauer und Hoffnung gleichermaßen anregenden und diese poetisch ausgestaltenden Text.
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