Illusionen im Räderwerk der spätmodernen Gesellschaft

Andreas Reckwitz über aktuelle Krisen nach der Epoche des Neoliberalismus

Von Maurizio BachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maurizio Bach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Umfassendere Gegenwartsdiagnosen sind in der Soziologie eher rar geworden. Die fachliche Spezialisierung und eine ausufernden Detailforschung stehen dem immer mehr entgegen. So lässt sich der publizistische Erfolg eines Autors wie Andreas Reckwitz, prominenter Kultursoziologe und Leibnitz-Preisträger, wohl auch damit erklären, dass er verspricht, die Gesellschaft als Totalität in den Blick zu nehmen, die aktuellen Krisen und Tendenzen gleichsam im Weitwinkel zu betrachten. Wer wüsste nicht gerne, warum die moderne Gesellschaft ständig im Krisenmodus ist, wo die Übel unserer vergesellschafteten Welt ihre Ursprünge haben und wie die Entwicklung gesamtgesellschaftlich weitergehen wird? Deshalb möchte Reckwitz Ökonomie, Kultur, Politik und Lebenswelt in ihrem inneren Zusammen- und Widerspiel entschlüsseln und damit das Räderwerk der modernen Gesellschaft freilegen. Nichts weniger als „die Kulturgeschichte der Spätmoderne insgesamt“ möchte er schreiben, wobei der Kulturbegriff freilich äußerst weit gefasst wird, beispielsweise die Produktionsstile ebenso einschließt wie die Emotionen der Menschen. Auch in Das Ende der Illusionen, eine Reprise des preisgekrönten Vorgängerbuches Die Gesellschaft der Singularitäten (2017), ist sein Hauptgegenstand wieder der fundamentale Strukturwandel der Industriegesellschaft im Zuge von Globalisierung und Individualisierung. Seine zentralen Bezugsgrößen sind die sozialen Klassen, Schichten und Milieus, und in Internationalisierung, Bildungsexpansion, Wertewandel und Migration sieht er die trendbestimmenden Triebkräfte der großen Transformation unserer Zeit.

Das Ende der Illusionen wurde unter dem Eindruck der Zeitenwende geschrieben, die wir aktuell mit der Wahl Trumps, dem Brexit, der Flüchtlingskrise, dem Niedergang der Sozialdemokratie und dem Aufstieg des Rechtspopulismus erleben. Sie löst nach Reckwitz die Epoche der trente glorieuse des Neoliberalismus ab, der in eine tiefe Krise geraten sei.

Die aktuelle Krise manifestiere sich in dreifacher Hinsicht: sozioökonomisch in Gestalt verschärfter Ungleichheit als Folge von allgemeinen Vermarktlichungsprozessen und einer „Überdynamisierung“; soziokulturell in einer Tendenz zur „Singularisierung“, die in einem verbreiteten „Egoismus der Einzelnen gegen die Institutionen“ münde, aber auch einer neuen Sehnsucht nach homogenen und geschlossenen Gemeinschaften („Neogemeinschaften“) Vorschub leiste; schließlich auf politischer Ebene als rapider Vertrauensverlust in die demokratischen Organe sowie im Aufstieg des antiliberalen Populismus.

Allerdings verfügt Reckwitz über keine schlüssige Theorie, mit der überprüfbare Hypothesen über kausale Mechanismen formuliert werden könnten, die dieses Räderwerk begrifflich fassbar machen würden. Stattdessen dienen lediglich deskriptive Annahmen über schichtspezifische Lebensstile („Klassenkulturen“) und vor allem Vermutungen über deren Wirkungen auf die Emotions- und Verhaltensebene als lose Klammer, die die disparaten Analysenstränge miteinander verbinden. Unausgeführt bleibt, wie oder woher der Autor seine Einsichten über die Werte, Orientierungen und Empfindungen der jeweiligen Schichten gewonnen hat. Zwar erweitert Reckwitz das etwas angestaubte soziologische Klassenschema um einige neue deskriptive Dimensionen: Zusätzlich zu den klassischen sozio-ökonomischen Determinanten, wie Stellung im Produktionsprozess und Vermögen, finden auch – Bourdieu lässt grüßen! – die kulturellen Praktiken wie Konsum, Freizeitgestaltung, Bildung, Beziehungen, politische Orientierungen etc. Berücksichtigung. Auf eigene empirische Forschungen dazu stützt er sich aber eher selten.

Für unsere Gegenwart, die postindustrielle Spätmoderne, unterscheidet Reckwitz, neben der kleinen Oberschicht, etwas unkonventionell drei soziale Klassen: die „alte Mittelschicht“, die „neue Mittelschicht“ sowie die „prekäre Klasse“. Die alte Mittelschicht repräsentiert das konservative, räumlich verwurzelte und latent nationalistische Milieu. Es vertritt den traditionellen „materialistischen“ Wertekanon, der vor allem Wohlstand, Ordnung und Disziplin hochschätzt. Diese Schicht, ehemals die Hauptträgerin der durchschnittlichen Moralnormen und das ökonomische Rückgrat des Nationalstaates, erfährt mit der Globalisierung und dem Übergang zur digitalen Wissensgesellschaft eine tendenzielle Entwertung und Marginalisierung. Deren Weltsicht und soziale Praktiken verlieren zunehmend an Bedeutung, was zu einem Prestigeverlust führe. Das treibe sie nach Reckwitz tendenziell in die Arme der Nationalisten und Populisten.

Ins Abseits gedrängt werde der alte Mittelstand paradoxerweise von seinen eigenen Nachfahren, den jüngeren Mittelschichtsgenerationen, die vor allem in den kreativen, akademischen und urbanen Dienstleistungs- und Wissenssektoren aktiv sind. Stilprägend für diese Leute sei ein auf maximaler Selbständigkeit, Internationalität, räumlicher Mobilität und Diversität ausgerichteter Lebensstil. Deren durchschnittliche Lebensentwürfe zielten auf materiellen Erfolg und individuelle Selbstverwirklichung, Autonomiegewinne und soziale Gleichheit, technische Perfektion und emotionale Empathie, berufliche Routine und expressive Selbstdarstellung – mithin auf hybride Balancen widersprüchlicher Anforderungen. Die neue Mittelschicht bilde das entscheidende Leitmilieu und die Avantgarde der Gesellschaft des „radikalisierten Individualismus“ sowie des liberalen Kosmopolitismus. Deren wichtigste Bezugsebene sei nicht mehr der Nationalstaat, sondern der europäische Raum und die Weltgesellschaft.

Als „prekäre Klasse“ bezeichnet der Autor dagegen die neuen Unterschichten, die sich im Wesentlichen aus dem sogenannten Dienstleistungsproletariat und den zahlreichen „Überflüssigen“ der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie zusammensetzen. Das „Sichdurchschlagen“ und „Sichdurchwursteln“ unter strukturell unsicheren Lebensbedingungen sei das Los dieses Heeres von unfreiwilligen Außenseitern, von Entwurzelten und Deklassierten. Obwohl sie aufgrund ihrer wahllosen Zusammensetzung kein politisches Kollektivbewusstsein entwickeln könnten, würden sie leicht zum sozialen Substrat rechtsradikaler Protestbewegungen und des allgemeinen Volkszorns werden.

Hier bringt Reckwitz nun überraschenderweise Gefühle ins Spiel, wenngleich eher ad hoc und laienpsychologisch: Strukturelle Empfindungslagen wie die „Deklassierungs- und Entwertungsängste“ der alten Mittelschichten und die dumpfen Ressentiments der einheimischen prekären Klasse böten dem populistische Nationalismus einen breiten „Resonanzraum“.

Das mag so sein, jedenfalls aus der Vogelperspektive betrachtet. Man wüsste aber doch gerne mehr und Genaueres über die sozialen Mechanismen oder den Transmissionsriemen, die an der offensichtlichen Verlängerung der gesellschaftlichen Widersprüche in nationalistische Konflikte und entsprechende Polarisierungen auf politischen Ebenen beteiligt sind. Wie formieren und reproduzieren sich schichtspezifische Emotions-, Werte- und Einstellungsmuster? In welchen konkreten sozialen Kontexten geschieht das? Unter welchen Voraussetzungen kommt es zu Brüchen, Neuorientierungen oder gar Radikalisierungen in sozialen Milieus? Welche Rolle spielen dabei zum Beispiel intermediäre Institutionen wie politische Parteien, die Eigenlogik demokratischer Wahlen, die Massenmedien, die sozialen Bewegungen, das Machtstreben von Politikern und Politikerinnen usw.? Mit ein wenig buddhistisch angereicherter Küchenpsychologie, die bei der Genese von „negativen“ Massenemotionen wie Aggressionen und Depressionen einen recht simplen Reiz-Reaktions-Mechanismus am Werke sieht und sie mit einer sozialstrukturellen „Enttäuschungsspirale“ erklärt, kommt man dann doch über triviale Aussagen kaum hinaus.

Wenn der Soziologie gelegentlich abstrakter Schematismus, hölzerne Diktion und implizite (politische) Werturteile vorgehalten werden, dann eignete sich das Ende der Illusionen nicht gerade als Gegenbeweis. Immerhin informiert der Text über aktuelle gesellschaftliche Krisen und Trends, indem er einen beeindruckenden Fundus an älteren und neueren Theorien, Thesen und Befunden aus der einschlägigen Literatur Revue passieren lässt.

Titelbild

Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
306 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127353

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