Eine Entdeckung, die Beachtung verdient

Christoph Ribbat zeichnet in „Die Atemlehrerin“ ebenso spannungsreich wie kurzweilig das Leben der jüdischen Therapeutin Carola Spitz nach

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einigem Recht behauptet der Klappentext der zur Rede stehenden Studie, dass „[a]us dem Nachlass einer nahezu unbekannten Emigrantin […] eine fesselnde Familien- und Kulturgeschichte“ entstehe. Er untertreibt dabei insofern, als sich der souverän erzählende Autor bei seinem flüssig zu lesenden, doch zugleich unaufdringlich theoriebewussten und -durchdrungenen (Re-)Konstruktionsversuch des Lebens von Carola Henriette Spitz bzw. Speads geb. Joseph keineswegs nur auf den Nachlass gestützt hat.

Es verhält sich vielmehr so, dass sich die (Re-)Konstruktion der ersten Lebenshälfte von Carola Speads diversen schriftlichen Quellen verdankt, darunter in der Tat „im Zentrum“ der vom Autor erstmals erschlossene, in Connecticut „privat aufbewahrt[e]“ Nachlass von Carola Spitz und deren Ehemann Otto. Dieser Nachlass enthält u. a. die „ebenso ausführlich[] wie präzise“ ihre Kindheit und Jugend beleuchtenden Tagebücher Carolas sowie deren „detaillierten Kursprotokolle[]“, die es zusammen mit „unsystematisch gesammelten Notizen“ erlauben, „[i]hre Tätigkeit in den zwanziger und dreißiger Jahren“ in wesentlichen Zügen nachzuzeichnen.

Die (Re-)Konstruktion der zweiten Lebenshälfte nach der noch Enkel und Urenkel prägenden Flucht über Amsterdam und Paris letztendlich nach New York zwischen 1938 und 1940 hingegen erfolgt anhand von „ausführlichen Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, […] Publikationen sowie nach der von ihren Schülerinnen und Schülern posthum zusammengestellten, unveröffentlichten Festschrift A Glimpse of Paradise.“

Unaufdringlich theoriebewusst: „[E]in genau nachgezeichnetes Leben“, so der Autor in seinem „Quellen“ benannten Nachwort unter Berufung auf Hermione Lee, verspreche „Kohärenz und Authentizität“, doch erweise sich „die Darstellung dieses Lebens […] immer als lückenhaft und tendenziös […] und jede Kohärenz als Konstrukt.“ Eingedenk dieser Erkenntnis habe er „an keiner Stelle“ seines Buches „etwas bewusst und willentlich imaginiert, sondern jedes Detail […] aus Quellen oder Gesprächen bezogen.“ Und detail- und kenntnisreich, zumal auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht, ist das Buch allemal.

Das ist in fünf Kapitel mit den sprechenden bzw. neugierig machenden Titeln „Das Studio der Körperlichen Umerziehung“, „Wandervogel“, „Mehr als ein Guru“, „Die Liste der jüdischen Gymnastiklehrerinnen“ und „Blumen von Charlotte“ untergliedert und endet mit einem zwanzigseitigen, wohldosierten Apparat („Quellen“, „Anmerkungen“, „Bildnachweise“).

Die Studie beginnt „im Herbst des Jahres 1954“ in New York, wo die zu diesem Zeitpunkt dreiundfünfzigjährige, immer noch am „Kulturschock“ und an Amerika leidende Carola Speads in allerbester Lage seit ein paar Jahren ihr „Studio of Physical Re-Education“ betreibt, dem Selbstverständnis nach ein „Raum der Wissenschaft“. Ouvertüren- bzw. potpourrihaft wird (hier wie anderenorts) bis in ‚Niederungen’ und ‚Nichtigkeiten‘ hinein aus ihrem privaten und beruflichen Alltag und dessen lokalen, sozialen und ökonomischen Einbettungen erzählt, werden für sie privat und/oder beruflich wichtige Personen sowie weitere Personen der zurückliegenden und aktuellen Kulturszene eingeführt, wird punktuell, doch pointiert in Carolas Zukunft und in ihre Vergangenheit geschaut. Darüber hinaus werden mehr oder minder weitreichende Hinweise auf ihre berufliche Tätigkeit, ihre Methodik, ihr professionelles Selbstverständnis und deren erweiterte (z. T. mehr als fragwürdige, nämlich nationalsozialistische politische bzw. gesellschaftspolitische) Kontexte damals und jetzt sowie auf ihre Überzeugungen gegeben. Schließlich wird das Schicksal von „[s]iebzigtausend deutschsprachige[n] Flüchtlinge[n]“ in New York angerissen (u. a. die Kissingers), wird an diverse modische Musts and No-Gos der 1940er und 1950er Jahre erinnert, werden ökologische Desaster der Zeit in Erinnerung gerufen, die unmittelbar etwas mit Atmen zu tun haben.

Ganz zentral in diesem facettenreich schillernden, die Lust am Weiterlesen auch des Fachfremden nachdrücklich befördernden Kapitel: Der Bruch mit der in den New Yorker Jahren wesentlich erfolgreicheren, es bis zur Millionärin bringenden Charlotte Selver, mit der Carola über Jahrzehnte zusammengearbeitet hat – beide sind Schülerinnen der legendären, im zweiten Buchkapitel ausführlich vorgestellten Pädagogin und Gymnastiklehrerin Elsa Gindler – und die ihr lange Zeit wie eine Schwester war.

Das zweite Kapitel beginnt mit Carolas Tagebucheinträgen vom 4. bis 8. März 1911 – die öfters kränkelnde, in den begüterten Verhältnissen eines Fabrikanten hineingeborene Neuneinhalbjährige ist an Diphtherie erkrankt, einer Krankheit, die „[a]llein im Jahr 1892 […] 50 000 preußischen Kindern das Leben“ kostete. Dann geht es rasch bis ins Jahr 1918, in dem Carola zum „der konservativen Bürgerlichkeit verbundenen“ Wandervogel und damit Teil der vielgestaltigen Lebensreformbewegung wird, und dann weiter in die 1920er Jahre, in denen sie gegen den Widerstand der Eltern Deutsch, Englisch und Philosophie in Berlin und Freiburg studiert und nebenher Gymnastik betreibt.

Bald aber wird sie das Studium abbrechen, sich ganz der Gymnastik (bei Anna Hermann) widmen und Mitglied im Deutschen Gymnastikbund (DGB) werden. Dabei werden – für bestimmte Zeiträume lässt das Quellenmaterial „kaum tiefere Einblicke in das Leben“ der Biographierten zu – Carolas Geschichte und diejenige anderer ihr wichtigen Personen geschickt mit einlässlichen, u.a. etliche damals populäre Sachbuchtitel und den umstrittenen Wilhelm-Prager-„Kulturfilm“ Wege zu Kraft und Schönheit (1925) präsentierenden Ausführungen zur Zeitgeschichte und zur Lebensreformbewegung verbunden.

Als entscheidend für die späten 1920er bzw. frühen 1930er Jahre werden der Tod des Vaters 1928 und der Bruch mit der Mutter, eine begonnene Psychoanalyse und das Kennenlernen ihres zukünftigen Mannes Otto herausgestellt. Er, ein vierzehn Jahre älterer Geschäftsmann und Gentleman durch und durch, ist ein verwitweter „jüdischer Tscheche mit deutscher Muttersprache“ und einer neunjährigen Tochter mit Namen Dorothea. Sie heiratet ihn im Jahre 1932 und adoptiert seine Tochter.

Das ähnlich wie das erste thematisch bunte dritte Kapitel ist durch den ständigen Wechsel zwischen der Gegenwart der späten 1940er bis frühen 1960er Jahre, Ereignissen der Vorkriegszeit und kritischen Perspektiven auf die die „Zeit der politischen Bewegungen“ ablösende „therapeutische Kultur“ der 1970er Jahre strukturiert. Anlass dafür bietet die Tatsache, dass Carola 1955 „erstmals seit 1938 wieder in Deutschland“ ist, und der Umstand, dass sie Mitte der 1970er Jahre zu einem Buchprojekt über ihr Fachgebiet Atmen aufgefordert wird – dieses wiederum wird 1978 unter dem Titel Breathing: The ABCs erscheinen, wie das Kapitelende verrät.

Mit den weder an „political talk“ noch an „community talk“ interessierten Speads‘ zusammenhängende Stichworte sind u. a. Börsen- bzw. Salatölschwindel (1963), Populationsveränderungen in Manhattan bzw. New York, die Mitarbeiter des Manhattan Projects als Atemschüler, Atemkongress in Freiburg 1959, persönliche Entschädigungsforderungen und -zahlungen, Adolf Eichmann, Fluchtgeschichten von Familienmitgliedern, Elsa Gindler, Charlotte Selver, deren „Sensory Awarness“ und das Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien, Tochter und Enkelkinder, schließlich das „Studio der Körperlichen Umerziehung“ und seine Kundschaft.

Mit dem vierten Kapitel geht es auf dem Zeitpfeil wieder zurück zunächst ins Jahr 1933, in die Zeit der ersten Boykotte gegen Juden. Die betreffen auch 61 jüdische Gymnastiklehrerinnen – mehrheitlich schließt sich die Gymnastikbewegung dennoch bzw. im Übrigen willig den Nationalsozialisten an. Das zeigt sich in den folgenden Jahren beispielsweise daran, dass die „wichtigste deutsche Gymnastikzeitschrift“ nunmehr „ausführliche Anleitungen für Aufmärsche“ druckt – „[d]ie herrschenden Ideologen wollen das Individuum im vermeintlich ‚reinen‘ und homogenen ‚Volkskörper‘“, in der „biologisch definierte[n] ‚Blutsgemeinschaft‘“ aufgehen lassen. Praktisch wird dieses Programm u.a. von der „äußerst erfolgreiche[n] Jutta-Klamt-Schule“ in Berlin und von dem Bestsellerautor Hans Surén umgesetzt – der wird 1936 „Sonderbevollmächtigter des Reichsbauernführers für Leibeserziehung in der Landbevölkerung“ werden.

Vor diesem Hintergrund hat Carola nur noch sehr wenige, allesamt jüdische Schülerinnen. Auch von deren weiterem Schicksal wird erzählt, ebenso von Carolas Schwierigkeiten, Berufliches und Privates unter einen Hut zu bringen, von einer sie lange Zeit belastenden Fehlgeburt, von Urlaubsreisen ins Ausland.

Zentral dann aber geht es um die Jahre 1937 bis 1940 – u. a. im Kontext sich verschärfender Maßnahmen gegen Juden in Deutschland, der Konferenz von Évian (1938), generellen Fluchtgeschehens und genereller Fluchtfolgen, Frankreichs Flüchtlingspolitik, des „Komitees für unamerikanische Umtriebe“ und dessen Politik sowie des frühen Kriegsgeschehens im Westen – um Verfolgungen, Verhaftungen, diplomatische Versuche des Freikaufens, Enteignung und um die Flucht der Spitzes: „Otto, Carola und Dorothea bewerben sich um Auswanderungsvisa für die Vereinigten Staaten. Die Wartezeiten sind unübersehbar. Sie haben zu lange gewartet.“

Diese Flucht – an Bord ihres Schiffes S.S. Champlain befinden sich auch Vera und Vladimir Nabokow – gelingt schließlich dennoch und führt sie zunächst nach Cleveland, Ohio, dann rasch nach New York und dort in das Stadtviertel Washington Hights, aufgrund des hohen Anteils an deutschen Flüchtlingen umgangssprachlich auch „Viertes Reich“ genannt.

Das vierte Kapitel endet mit der auf dem Briefwechsel zwischen Carola und ihrer Mutter fußenden Darstellung jener letzten Lebensjahre, die Carolas Mutter Paula Joseph als Emigrantin in den Niederlanden verbringt, skeptisch und resigniert und „,darauf gefasst‘, ihr ‚unnützes Leben‘ in Amsterdam zu beschließen“ – das wird nicht der Fall sein: Paula Joseph wird, wie das fünfte Kapitel verrät, am 30. Dezember 1942 nach Westerbork deportiert, am 11. Januar 1943 in einen Zug nach Auschwitz „gezwungen“ und wohl am 14. Januar 1943 dort umgebracht werden.

Dieses fünfte, längste Buchkapitel beginnt mit dem Tod von Otto Spitz im Jahre 1980: „Aber Carola kommt zurück. Ihre Laufbahn hat nun erst wirklich begonnen“, zumal ihr Buch Breathing von der Fachwelt sehr positiv aufgenommen wird. Allerdings: „Ein kommerzieller Erfolg wird Carolas Buch dennoch nicht. Die Konkurrenz“ – Ratgeber gibt es für alle Lebenslagen, Freizeit- und Gesundheitsaktivitäten – „ist immens.“

Erzählt wird dann u. a. von Carolas Bruder Heinz aus den 1930er Jahren, von gravierenden Altersgebrechen und einem Pflegeheimaufenthalt Carolas in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, von einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung dann doch wieder daheim und ihrer auf Gesten reduzierten Arbeit im Studio der Körperlichen Umerziehung, von einem Treffen zwischen Charlotte und ihr, von Gesprächen zwanzig Jahre nach Carola Speads Tod (26. Juni 1999) mit ihren Nachkommen, in denen sie als „Großmutter, als Lehrerin, als Emigrantin“ das Zentrum abgibt, vom „emanzipativen Charakter“ jener internationalen „weiblich geprägten Subkultur“, die „kleinbürgerlich und kurios“ (Ernst Bloch) zu nennen die Sache verfehle, davon auch einlässlich, wie vom Holocaust generell und im Einzelfall wie dem vorliegenden überhaupt erzählt werden kann.

„Als Geistesgröße im Exil“, so der Autor abschließend, könne man Carola Joseph/Spitz/Speads zwar „nicht porträtieren“, wohl aber „als den viel interessanteren Fall: eine Intellektuelle in den Zwängen des Alltags.“ Als „konsequent unpolitische Figur“ tauge sie, die schon in den frühen dreißiger Jahren origineller Weise „lebensreformerische Selbsterkundung“ und Psychoanalyse kombiniert habe, „nur bedingt als Heldinnengestalt.“ Dennoch könne ihr Leben, das Leben gerettet und so neues Leben, neue Generationen möglich gemacht habe, fesseln, weil es „ein Beispiel für die Spannungen des 20. Jahrhunderts“ sei,

die so viele Biografien zerstörten, limitierten, als absurd erscheinen ließen. Ihre Lebens-, Berufs- und Familiengeschichte beleuchtet enorme Privilegien einerseits und völlige Entrechtung andererseits. Sie beinhaltet vornehme Berliner Bürgerlichkeit wie aggressiven deutschen Antisemitismus, luxuriöse Selbsterkundung wie industriellen Massenmord. Sie ist auch eine Geschichte des Verschweigens: Sie zeigt, wie man Realitäten ausblendet, vielleicht ausblenden muss, um sein Leben weiterzuleben.

Titelbild

Christoph Ribbat: Die Atemlehrerin. Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
191 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783518429273

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