Facetten einer Nachgeschichte von 1968
In ihrem Erinnerungs- und Materialienband „Arbeitet nie!“ gibt Hanna Mittelstädt Einblicke in die Geschichte der Edition Nautilus und in ihr eigenes Leben
Von Günter Rinke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Obertitel dieses Buchs scheint völlig in die Irre zu führen, denn auf einer der letzten Seiten fragt sich Hanna Mittelstädt, wie sie ihre Zeit „ohne die feste und kompakte Struktur der Arbeit“ nun, nachdem sie sich aus ihrem Verlag zurückgezogen hat, gestalten soll. Dieses Buch handelt zu einem großen Teil von Arbeit, materiell oft am Rand des Existenzminimums und insofern im Modus der Selbstausbeutung. Das „andere[ ] Leben“, das erfunden werden soll, verbindet sich mit einem anderen als dem in unserer Gesellschaft üblichen Arbeitsbegriff. „Arbeitet nie!“ heißt nicht, dass man gar nichts tun soll, sondern es heißt offenbar: Verrichtet keine Lohnarbeit, lasst euch nicht ausbeuten, arbeitet für eure eigenen Ziele und für euch selbst.
Der Ursprung der Parole, so dokumentiert es ein Foto auf der allerersten Seite des Bandes, ist eine Aufschrift auf einer Fabrikmauer in Paris aus dem Jahr 1953: „Ne travaillez jamais“. Wer mag diesen Satz da hingekritzelt haben? Übernommen wurde die Parole von der Bewegung der Situationisten, der sich die Autorin und ihre Mitstreiter verpflichtet fühlten, als sie Anfang der 1970er Jahre den MaD-Verlag (Materialien Analysen Dokumente) gründeten, aus dem einige Jahre später die Edition Nautilus wurde. Die Mitstreiter, das waren über Jahrzehnte Lutz Schulenburg und der wesentlich ältere Dichter und Übersetzer Pierre Gallissaires. Die Parole „Arbeitet nie!“ ist dann im Pariser Mai 1968 von den Aufständischen übernommen worden.
Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg, bis zum frühen Tod Schulenburgs 2013 ein Paar, waren als Schüler von den Ereignissen der Jahre 1967/68 fasziniert, allerdings zu jung, um sich als Achtundsechziger zu verstehen. In den siebziger Jahren auf der Suche nach einem Weg zwischen den dogmatischen Linken der K-Gruppen und der moskautreuen DKP einerseits und den undogmatischen Spontis andererseits, die ihnen „theoretisch zu unscharf“ waren, fanden sie zur Situationistischen Internationale, die Theorie und (Lebens)Praxis, Kunst und Politik zu verbinden versuchte. Diese Bewegung, deren wichtigster Wortführer Guy Debord war, kam Anfang der siebziger Jahre zum Erliegen und sollte nun unter der Bezeichnung „Subrealisten“ fortgeführt werden. Die Verwandtschaft mit dem Wort Surrealismus ist keineswegs zufällig, galten doch die Surrealisten und auch die Dadaisten als ästhetische Vorbilder.
Was erwartet Interessierte, die dieses Buch, vielleicht wegen des Titels oder weil sie Bücher aus der Edition Nautilus kennen, zur Hand nehmen? Keineswegs handelt es sich um eine klassische Autobiographie oder eine Verlagschronik, obwohl der Band zugleich beides ist. Mittelstädt verzichtet fast völlig auf eine Chronologie, sie springt in der Zeit hin und her und schafft es trotzdem, eine folgerichtige Geschichte zu erzählen. Ihr Buch ist zugleich Verlagsgeschichte, Erlebnisbericht, Programmschrift – und nicht zuletzt eine große Liebeserklärung an Lutz Schulenburg, den sie zum Ko-Autor macht. Denn ein beträchtlicher Teil des Buchs stammt von ihm, in Form zahlreicher zitierter Briefe.
Das gab es damals in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren noch: eine ausgeprägte Briefkultur. Man hat den Eindruck, die Briefe waren ein Entfaltungs- und Bewegungsraum der ‚Subrealisten‘, sie boten den Freiraum für einen sich fortzeugenden Sprachfluss, ein Strömen der Worte und Sätze, sobald die Quelle angefangen hat zu sprudeln, also mit der Anrede die Schreibsituation geschaffen war. Schulenburg schrieb konsequent alle Worte klein, was der Flussmetapher noch mehr Plausibilität gibt. Durch das Fehlen der Großbuchstaben wirkt das Schriftbild besonders einheitlich (im Buch kursiv gesetzt wie auch die Briefe von anderen Absendern), Absätze sind eher selten. Verständlichkeit ist nicht das wichtigste Kriterium; in einem Brief von 1980 schreibt Schulenburg selbstironisch von seinen „beliebt unlesbaren briefen“ und seinem „barbarischen kauderwelsch“, wie überhaupt Selbstironie und Esprit zu seinen Stärken gehörten. Er konnte aber auch giftig werden, wie folgender Satz über einen Rezensenten zeigt: „und letztens hat so ein schwachkopf sich erlaubt, eine rezension genannte suppe in die FR zu schütten, der mensch heißt mueller […]“
Trotz dieses Warnrufs fahre ich unverdrossen mit meiner Besprechung fort und beschreibe weiter den Aufbau dieses spannenden Buchs: Hanna Mittelstädts Text umfasst einerseits Episoden aus der Verlagsgeschichte – ein Verzeichnis aller Nautilus-Publikationen, später ergänzt durch Nemo Press, von 1972 bis 2013 schließt den Band ab – zum anderen Erzählungen aus ihrem Leben, die in poetischer Sprache erfüllte Augenblicke wiedergeben. Zum Situationismus gehören nicht nur politischer Kampf, Aufstand, revolutionäre Perspektiven, sondern auch Freundschaft, Sinnlichkeit, Wahrnehmung des Schönen in der Welt, Momente, in denen die Utopie sich erfüllt, obwohl das große Ganze von einer Erfüllung utopischer Hoffnungen noch weit entfernt ist. „Wir schwimmen im wunderschönen Kristall der Quellen des Horizonts.“ Dieses Zitat von Francis Picabia ist eines von vielen im Text eingestreuten Zitaten von Autoren, die der Verlag publiziert hat.
Das wichtigste, aufwendigste, riskanteste Großprojekt des Nautilus-Verlags war die Gesamtausgabe der Schriften Franz Jungs, von Schulenburg geradezu verbissen vorangetrieben und unter großen Mühen nach jahrelanger Arbeit zum Abschluss gebracht. Neben der Frage, die Schulenburg und Mittelstädt sich stellten: Warum kennen eigentlich so wenige Menschen Franz Jung? ist auch interessant, warum sie selbst so viel – wohl leider vergebliche – Mühe darauf verwandten, diesen Autor wieder bekannt zu machen. Es ist wahrscheinlich das große Dennoch, das ihr Leben und Arbeiten bestimmte, ebenso wie Franz Jungs Schreiben. In seiner Autobiographie Der Weg nach unten (Sonderausgabe der Edition Nautilus, erschienen in 2. Auflage 1988, S. 434) finde ich eine Selbstaussage, die ein Leitwort seiner Existenz als Schriftsteller und Zeitgenosse sein könnte:
Ich habe den Ehrgeiz überwunden, als Schriftsteller anerkannt zu werden, als Geschäftsmann, als Liebhaber – und, wenn man das so will in dieser verrotteten Gesellschaft, selbst als anständiger Mensch; ich bin nicht anständig. Zwar nicht gerade ein Dieb, wie alle, die dieser Zeit dienen, oder ein Erpresser, Straßenräuber oder sonstwas, weil ich weiß, alles das hat keinen Zweck; wozu die Umwege?
In einem anderen Text verlangt er von sich „unbestechliche, voraussetzungslose Beobachtung“. Das ist ein hoher Anspruch, den sich auch die ‚Situationisten‘ bzw. ‚Subrealisten‘ gestellt haben dürften. Kann Hanna Mittelstädt ihn in ihrem Buch immer einlösen? Gibt es nicht doch zu viele ‚linke‘ Klischees und Begriffe, die sich beim Nachdenken darüber als überdehnt oder als Schablonen erweisen? Immer wieder geht es um den „Kampf“ gegen die „Herrschenden“, den „Aufstand“, die „Revolution“, die Vorliebe für die „Bewegung“ (statt Partei), der die Autorin sogar nach Mexiko nachreiste, wo die Zapatisten sich seit 1994 mehrmals gegen die Zentralregierung auflehnten. „Solidarität“, ebenfalls ein Lieblingswort, mit dieser „Bewegung“ mag noch einleuchten, bei der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ kommt man jedoch ins Grübeln. Denn ganz klar ist die Abgrenzung gegenüber diesen gewalttätigen Gruppen nicht, wenn vom „bewaffneten Kampf“ die Rede ist, und das Wort „Terrorismus“ mit dem Beiwort „sogenannt“ versehen wird, wenn es mehrmals heißt, der Staat habe sein Gewaltmonopol „brachial“ durchgesetzt. Es gibt inzwischen Bücher über die Opfer der RAF, die „ein starkes Gefühl der Verbundenheit“ mit diesen Tätern problematisch erscheinen lassen.
Immerhin findet Hanna Mittelstädt auch Worte der Selbstkritik:
Unseren Kurs zu halten, erforderte Beharrung und Sturheit, die sicher oft übertrieben waren. Unsere Kritik an Ideologien aller Art näherte sich doch hin und wieder der Rechthaberei an, die wir bei den anderen so vehement ablehnten.
Die Verlagsmitarbeiter hatten eine Gratwanderung zu vollziehen, die nicht immer gelingen konnte. Lange Zeit bewegten sie sich „unter dem Radar“, „am Rand der Warenökonomie“, oft tatsächlich durch Solidarität von Geldgebern am Leben erhalten. Aber diese Existenzform ließ sich im Umfeld des Büchermarkts nicht konsequent durchhalten. Man brauchte einen Vertrieb, durch dessen Insolvenz auch einmal Geld verlorengehen konnte, man brauchte Vertreter, die die Titel in die Buchhandlungen brachten, man musste auf der Buchmesse präsent sein, was sicher auch kein reines Vergnügen war. So war man hin und wieder gezwungen, Projekte anzuschieben, die Geld in die Kasse brachten. Ein Beispiel ist die Silvester-Ausgabe von Dinner for One, die sich alljährlich gut verkaufte.
Und es kann geschehen, dass der ökonomische Erfolg unvermutet über einen kleinen Verlag hereinbricht, so mit Andrea Maria Schenkels Kriminalroman Tannöd (2006), der sich unerwartet gut verkaufte, ebenso wie der Nachfolgeband Kalteis. Welche juristischen und menschlichen Probleme diese Erfolge nach sich zogen, ist bei Mittelstädt spannend und menschlich bewegend nachzulesen.
Obwohl ich die politische Einstellung Mittelstädts in vieler Hinsicht nicht teile, empfehle ich ihr Buch mit Nachdruck zur Lektüre. Die vielen Passagen, in denen sie, wenn man so will „körpernah“ Erlebnisse in dieser Welt schildert, sind hinreißend schön geschrieben. Vor allem das Schwimmen bedeutet der Autorin viel. Wenn sie sich nach einer anstrengenden Reise abends bei Cadaqués ins Mittelmeer gleiten lässt oder im Dezember bei Triest trotz der Kälte dem Wasser nicht widerstehen kann, spürt man beinahe ein Prickeln auf der Haut. Das Häuschen am Hamburger Elbstrand mit überwuchertem Garten wird beim Lesen als Refugium erfahrbar. Und als die Lockdowns über Europa verhängt wurden, hielt sich Hanna Mittelstädt im von Touristen freien Venedig auf, worum man sie nachträglich beneiden kann.
Es ist also nicht nur ein sehr informatives Buch, bei dessen Lektüre man sich immer wieder Namen und Buchtitel herausschreiben kann, die man einmal lesen sollte. Es ist auch ein sehr schönes Buch über ein reiches Leben, das nicht nur durch Sprache, sondern auch durch eine Anzahl von Schwarz-Weiß-Fotos illustriert wird. Vielleicht ist es auch ein Buch über eine leider zusehends verblassende Lese- und Schreibkultur.
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