Rio Reiser war das Sprachrohr einer Generation und hat deutsche Musikgeschichte geschrieben
Einige Neuerscheinungen würdigen den Sänger und Songwriter zu seinem 75. Geburtstag
Von Manfred Orlick
Er war der „König von Deutschland“ oder skandierte „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Mit der Band „Ton Steine Scherben“ rüttelte der Frontmann Rio Reiser in den 1970ern die Republik auf. In den 1980er-Jahren landete er dann mit seinem Solo-Debüt König von Deutschland einen großen Hit.
Am 9. Januar 1950 wurde er als Ralph Christian Möbius in Berlin geboren. Seine Brüder waren Peter Möbius (1941–2020) und Gert Möbius (*1943). Da der Vater Ingenieur bei der Siemens AG war, musste die Familie oft umziehen. So besuchte Klein-Ralph mehrere Schulen. Mit 17 Jahren brach er die Schule ab und begann eine Ausbildung in einem Fotostudio in Offenbach-Bieber. Nebenbei brachte er sich selbst das Spielen auf dem Cello, der Gitarre und dem Klavier bei und hatte erste Auftritte. Zwischendurch büchste der bekennende Beatles-Fan (später Stones) nach Liverpool aus. Bis Ende der 60er Jahre trat er zusammen mit dem Hoffmanns Comic Theater (HCT) auf. In dieser Zeit änderte er auch seinen Namen in Rio Reiser, angelehnt an die Hauptfigur des psychologischen Romans Anton Reiser von Karl Philipp Moritz (1756-1793).
Im Jahr 1970 gründete Reiser in einem Kreuzberger Hinterhofstudio gemeinsam mit Freunden R.P.S. Lanrue (bürgerlich Ralph Peter Steitz), Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel die Band „Ton Steine Scherben“. Mit ihren sozialkritischen Texten, die ein Aufbegehren gegen eine spießige bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft waren, wurden sie zur Galionsfigur der Berliner Protestbewegung. Bereits die erste Single „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ (B-Seite „Wir streiken“) war ein provokativer Anarchosong, radikal und authentisch. „Der Urknall der deutschen Rockmusik.“ Keine andere Gruppe traf mit ihrer Musik das Lebensgefühl der rebellischen Jugend dieser Zeit besser als „Ton Steine Scherben“. Ihre Songs, der Soundtrack der 1968er, begleiteten oft Demos und Hausbesetzungen. Sie waren ausschließlich deutsch und wirkten damit als Wegbereiter. Noch vor Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen, Herbert Grönemeyer, Nina Hagen oder Nena machten sie deutsche Rockmusik populär. „Sie alle haben von meinem Wein getrunken“, äußerste Reiser später einmal. 1970 outete er sich und machte in Interviews aus seiner Homosexualität kein Geheimnis. Allerdings spielte sein Schwulsein in der Öffentlichkeit eher eine untergeordnete Rolle.
Obwohl die Band ihren linken Idealen treu blieb, sah sie sich zunehmend politisch missbraucht. Sie zog sich 1975 auf einen Bauernhof in der nordfriesischen Gemeinde Fresenhagen zurück. Ein Kaff nahe der dänischen Grenze. Hier gründete man die „Freie Republik“ als eine Kultstätte der Rockmusik. Landleben statt Großstadt. Später erinnerten sich die Bandmitglieder: „Gartenarbeit statt Hausbesetzungen, Kuhfladen statt Kommunismus und jede Menge Viecher.“ Hier richtete man sich auch ein Tonstudio ein, wo im ersten Jahr auch das dritte Studioalbum Wenn die Nacht am tiefsten … mit mehr melancholischen Songs entstand. Es folgte eine sechsjährige Studiopause, in der Filmmusik und verschiedene Theaterprojekte realisiert wurden. Erst 1981 erschien die Doppel-LP Tonsteinescherben IV, begleitet von einer ausgedehnten Tour, die allerdings einen Schuldenberg hinterließ. Die Managerin Claudia Roth sollte aus der finanziellen Misere helfen. Nach der LP Scherben (1983) und dem Live-Album Ton Steine Scherben in Berlin (1984) löste sich die Band Mitte der 80er hochverschuldet auf.
Nach fünfzehn Jahren Bandgeschichte machte Rio Reiser alleine weiter. Bereits im November 1986 veröffentlichte er als Solokünstler sein Debütalbum Rio I mit den Songs König von Deutschland, Alles Lüge, Für immer und dich und Junimond, die zu seinen größten Hits wurden. Den Tonsteinescherben-Fans waren die neue Musikrichtung und der kommerzielle Erfolg ihres ehemaligen Idols ein Dorn im Auge. Das nachfolgende Solo-Album Blinder Passagier (1987) konnte allerdings nicht an diesen Erfolg anknüpfen.
Nach der politischen Wende 1989/90 war Reiser voller Hoffnung auf eine „linke Alternative“ im wiedervereinigten Deutschland in die PDS eingetreten. Seine Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht, denn er wurde meist nur als Zugpferd im Wahlkampf benutzt. Der Parteieintritt hatte außerdem zur Folge, dass seine Lieder aus den Radioprogrammen verschwanden und Fernsehauftritte seltener wurden. In den 90ern ging es bergab mit seiner Gesundheit. Selbstzweifel, Depressionen, Einsamkeit und jahrelanger Alkoholmissbrauch forderten ihren Tribut. Sie hatten ihn kaputtgemacht. Sein sechstes und letztes Solo-Album Himmel und Hölle (1995) gilt als eines der besten Werke des Künstlers. Zehn Jahre nach dem König von Deutschland resümierte er in dem Song Hoffnung: „Nehmt mir die Krone ab, die mich erdrückt …“. Gegen ärztlichen Rat begab sich Reiser im Mai 1996 noch einmal auf eine Deutschland-Tour, die er jedoch abbrechen musste. Am 20. August 1996 starb Rio Reiser mit 46 Jahren an Kreislaufversagen und inneren Blutungen in Fresenhagen. Mit einer Sondergenehmigung wurde er auf seinem Privatgrundstück beigesetzt. Jahrelang war sein Grab eine Pilgerstätte für Fans, ehe er nach dem Verkauf des Grundstücks nach Berlin umgebettet wurde. Am 21. August 2022, 26 Jahre nach dem Tod der Kiez-Legende, wurde der ehemalige Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg in Rio-Reiser-Platz umbenannt.
Einige Neuerscheinungen würdigen den 75. Geburtstag von Rio Reiser. Unter dem Titel Ich will ich sein hat der Mainzer Ventil Verlag ausgewählte Songtexte von Rio Reiser aus seiner Zeit mit „Ton Steine Scherben“ sowie aus seinen Solojahren herausgebracht. Den Auftakt macht der Song Mein Name ist Mensch von der LP Warum geht es mir so dreckig? (1971). Der Text stellt auch heute noch ein zeitloses Bekenntnis für mehr Menschlichkeit dar: „Der Planet Erde wird uns allen gehören / Und jeder wird haben, was er braucht … Ich bin über zehntausend Jahre alt / Und mein Name ist Mensch“.
Genau hundert Songtexte hat der Herausgeber Gunther Buskies ausgewählt, der selbst Musiker und Komponist ist. Einige Texte werden von Weggefährt*innen, prominenten Fans oder Freunden kommentiert – so von den Scherben-Gründungsmitgliedern Kai Sichtermann, Wolfgang Seidel und R.P.S Lanrue. Schorsch Kamerun, Sänger von den Goldenen Zitronen, berichtet, wie Reiser es trotz Versuchung immer verstand, „im Showmodus andere und sich selbst auf überlegenen Abstand zu halten“. Claudia Roth hat von Rio gelernt, „welche Kraft Emotionen haben können, wenn sie glaubwürdig, ehrlich und authentisch sind.“ Rios Bruder Gert C. erinnert sich, wie ihre Tante Lollo bei einem Reiser-Konzert im Herbst 1987 im Berlin-Schöneberger Metropol bei einem Song, den Rio für ihren verstorbenen Mann Robert geschrieben hatte, in Tränen ausbrach. Obwohl der Liedermacher Reinhard Mey Reiser nur einmal kurz getroffen hatte, war er von dessen Leidenschaft und Haltung beeindruckt. Sebastian Krumbiegel von den „Prinzen“ hatte dagegen das Glück, Reiser persönlich kennenzulernen. Für ihn ist ein Mensch erst dann wirklich tot, „wenn keiner mehr über ihn spricht oder eben seine Lieder singt. Lang lebe Rio!“
Die persönlichen Anmerkungen ergänzen die Songtexte mit Würdigungen, Liebeserklärungen, Anekdoten, Reflexionen und interessanten Storys. Zahlreiche Fotos, eine Diskografie und eine Kurzbiografie der Autor*innen runden die Neuerscheinung ab.
Mit der Neuerscheinung Für immer und dich hat der Reclam Verlag in seiner Universal-Bibliothek (Band 14573) ebenfalls eine Auswahl von Reisers Songtexten herausgebracht. Die Sammlung mit den wichtigsten Songs und 20 bisher unveröffentlichten Texten stellte Gert C. Möbius zusammen. Der Band mit knapp neunzig Texten liefert einen Querschnitt durch Reisers Werk, von den Anfängen über „Ton Steine Scherben“ bis zu seinen Soloerfolgen. Die erstmals publizierten Texte aus Reisers Nachlass werden dabei in alphabetischer Reihenfolge wiedergegeben.
In seinem umfangreichen Nachwort „Ein Happy End sollte es schon geben“ untersucht der Literaturwissenschaftler und Kenner der deutschen Liedermacherszene Oliver Kobold das Phänomen Rio Reiser und seine Songpoesie. Reiser hatte von Anfang an nicht nur für die Schublade geschrieben; die meisten seiner Texte waren für Aufführungen, für Theater, Film und andere Anlässe vorgesehen. Mitunter lagen aber zwischen der Entstehung eines Songs und seiner Veröffentlichung durchaus Jahre. Durch ihre Qualität konnten sie sich in einem zeitlich und inhaltlich anderen Kontext behaupten. Reisers Lyrics entfalteten sich dabei meist erst im Vortrag und im Zusammenspiel mit Musik.
Reisers Bruder Gert C. erinnert in einem kurzen Begleittext an Rios Notiz- und Tagebücher, die er mit dem Titel Halt dich an deiner Liebe fest vor einigen Jahren veröffentlicht hat. In ihnen hielt der Musiker Alltagssituationen und seelische Nöte, ebenso Gehörtes und Gesehenes fest. Seine sensible und verletzliche Seite wird ebenfalls in den persönlichen Aufzeichnungen sichtbar.
Neben der Auswahl von Songtexten legte der Reclam Verlag zum Jubiläum auch einen Rio Reiser-Band in seiner beliebten 100 Seiten-Reihe vor. Die Autoren, Hannes Eyber und Jens Johler, sind ausgewiesene Experten, die schon über Jahrzehnte die Entwicklung von „Ton Steine Scherben“ und Rio Reiser begleitet haben. Eyber war Songtexter und Produzent der letzten Studio-LPs von „Ton Steine Scherben“ und verfasste zusammen mit Reiser dessen biographisches Buch König von Deutschland (1994). Jens Johler war mit Kai Sichtermann Autor von Keine Macht für Niemand (2000), der Biographie der Band „Ton Steine Scherben“.
Nach einem kurzen Intro zeichnet das Autoren-Duo in neun Kapiteln den Lebensweg und die Karriere des Ausnahmekünstlers ohne jedwede Verklärung nach – von den drei Möbius-Brüdern, die von Kindheit an eine verschworene Gemeinschaft waren, bis zum Ende des wilden Lebens im August 1996. Dazwischen wird von der Gründung der Band berichtet, von den Liedtexten, in denen Reiser „wie Martin Luther einst dem Volk aufs Maul geschaut hatte“, oder von der „Freien Republik Fresenhagen“. Seine Solokarriere nach der Auflösung der Band wird ebenfalls mit vielen interessanten Details betrachtet. Der Jubiläumsband wird neben einigen Abbildungen auch durch Zitate, eine Auflistung der „neun Phasen eines produktiven Lebens“ sowie zwei Playlists (https://www.reclam.de/rio_reiser) bereichert.
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