Selbst noch dem Tod eine letzte Pointe abringen

Tobias Rüther gelingt es in der Biografie „Herrndorf“, dem Leben wie dem Sterben Wolfgang Herrndorfs gerecht zu werden

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits der Titel mit dem bloßen Nachnamen Herrndorf ist bezeichnend, um von Anfang an eine zu starke Identifikation mit dem Kultschreiber der Nuller Jahre zu vermeiden, mit jenem Herrndorf, der in erster Linie durch seinen Coming-of-Age und Road-Trip-Roman Tschick bekannt wurde. Auf dem Einband ist ein Selbstportrait Herrndorfs von 1988 zu sehen, das ihn sehr naturalistisch aus einer etwas erhöhten Froschperspektive zeigt. Das gibt schon einen ersten Hinweis auf die vom Biografen später getroffene Feststellung, dass der junge Herrndorf, anders als der spätere Schriftsteller, innerhalb seines Kunststudiums vor allem ein sehr guter, wenngleich traditionell beeinflusster Maler war, der sich insbesondere intensiv mit dem Werk Vermeers auseinandersetzte.

Um einmal mit dem (allerdings einzigen) Manko zu beginnen, was die Lektüre zunächst etwas beeinträchtigt: Was dem Buch auf den ersten Blick im Anhang fehlt, ist eine tabellarische Übersicht des Lebens Wolfgang Herrndorfs, die man sich zwecks einer schnelleren oder auch späteren Orientierung als Leser*in gewünscht hätte. So muss man sich im Werk die Details etwas mühsam zusammensuchen, eines Werks, das ohne Zweifel sehr in die Details und die Einzelheiten geht.

Zu Beginn situiert Tobias Rüther Wolfgang Herrndorf in seiner norddeutschen Heimat: Namentlich die Felder von Garstedt haben eine besondere Bedeutung, nicht nur für den Schriftsteller, sondern auch für den Maler Herrndorf. Zugleich wird deutlich gemacht, wie prägend diese Landschaft für sein Schaffen gewesen ist:  „Über den Feldern von Garstedt sieht der Himmel so aus, als hätte Wolfgang Herrndorf ihn gemalt. Darüber weiß-graue Wolken in einem weiten blassblauen norddeutschen Himmel.“ Am Schluss wird dieses Motiv resümierend noch einmal vom Autor aufgenommen.

In diesem Zusammenhang wird zugleich das Aufwachsen innerhalb seiner Familie beleuchtet: die Familie Herrndorf, die 1965 in eine Neubausiedlung zieht, also kurz nach Wolfgang Herrndorfs Geburt. Es wird der Kontrast dieser Landschaft im Umfeld Hamburgs deutlich, die Umgebung einer Kleinstadt, damals noch von Feldern durchsetzt und nicht so verstädtert wie heute, als Ausgangspunkt seines Schreibens und Malens. Wolfgang Herrndorf kann „zu Fuß zur Grundschule laufen”. Die Jahre seiner Kindheit sind geprägt von der ländlichen Umgebung, einem Gebiet, wo früher Mühlen standen, deshalb auch der Name Mahlenberg. Und auf der anderen Seite sind durch den Vorstadtcharakter schon die Entwicklungen hin zu einer modernen Gesellschaft zu spüren.

Bereits in der Schule wird eine psychische Verfasstheit deutlich, die Wolfgang Herrndorf sein Leben lang begleiten wird: die Einsamkeit. Dennoch hat er ein sehr enges Verhältnis zu seiner „geliebten Grundschullehrerin“ Constanze Pallasch, und er wird durchaus von den anderem gemocht, nicht zuletzt von den Schulkameradinnen.

Von Anfang an wird Wolfgang Herrndorf in der Biographie im Fokus seiner Begabungen gezeigt, vor allem des Malens und Schreibens. Der Autor, der Herrndorf selbst nicht kennengelernt hat, führte dazu ausführliche Gespräche, vor allem mit den Eltern Katrin Herrndorf und Christoph Herrndorf, aber auch mit seiner Freundin und späteren Frau Carola Wimmer, sowie mit anderen Freundinnen und Freunden, die sich überwiegend in der bis heute bestehenden Kneipe Prassnik in Berlin-Mitte trafen. Eine der Gruppen, der Herrndorf angehört, sind die „höflichen Paparazzi“, ein loser Zusammenschluss einer Kritikergruppe, die sich immer wieder, vor allem im Netz, über Literatur und Kritiken austauschen und darüber schreiben.

Der „größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation” lebt im Grunde ein sehr geregeltes Leben, mit, vom Alkoholkonsum einmal abgesehen, wenigen Exzessen oder Ausschlägen. Nach dem Abitur und der „norddeutschen Kindheit und Jugend” von 1965 bis 1986 geht er nach Nürnberg, um dort Kunst zu studieren. Die „Nürnberger Jahre” währen von 1986 bis 1992. Während dieser Zeit lebt er in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Professorin Christine Colditz, die viele Jahre mit seinen Arbeiten und ihrer Meinung nach seiner relativ traditionellen Malweise nichts anzufangen weiß, was schließlich in dem Appell gipfelt: “Steigen Sie von Ihrem hohen Ross, die Renaissance ist vorbei.“ Schon früh beginnt Herrndorf für Satiremagazine zu malen und zu zeichnen, geht schließlich nach Berlin, arbeitet bei dem Satiremagazin Titanic und bei der TAZ, und entscheidet sich schließlich dazu, nur noch zu schreiben.

Während der Berliner Jahre, von 1992 bis zu seinem Tod 2013, wird ihm ein bösartiger unheilbarer Gehirntumor, ein Glioblastom, diagnostiziert. Er versucht, genau auszurechnen, wieviel Zeit ihm wohl noch bleiben wird, beendet Tschick und Sand, schreibt seinen Blog Arbeit und Struktur, womit wie als Motto seine Arbeit überschrieben werden kann, und erschießt sich schließlich am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals am 26. August 2013, wo ein Kreuz, seinem Wunsch entsprechend aus einfachem Winkeleisen geschweißt, an ihn erinnert. Wichtige Stationen seines Lebens werden im Buch zusätzlich anhand von Bildern dokumentiert.

Was den eigentlichen Reiz dieser Biographie ausmacht, ist die offene Konfrontation mit der Person Wolfgang Herrndorf und mit seiner Existenz als Schriftsteller im Kreis auch seiner Freunde und Entourage, durch die man sich mit ihm und ihnen auf besondere Weise verbunden fühlt. Besonders ergreifend wird die Freundschaftsbeziehung mit Herrndorfs australischem Freund Calvin Scott geschildert, der mit ihm zusammen studiert, dann lange Jahre in Berlin lebt und schließlich zurück nach Australien geht. Kurz vor Herrndorfs Tod treffen sie sich noch einmal in Berlin wieder. Überhaupt spielte Freundschaft für Herrndorf eine entscheidende Rolle, was nicht zuletzt in seinen Hauptwerken Tschik und Sand deutlich wird.

Der Autor versteht es, die Leser*innen in den Sog des Lebens von Wolfgang Herrndorf hineinzuziehen. Am Ende ist man beinahe betroffen, dass das Buch nach knapp 380 Seiten schon zu Ende ist und es kommt einem die von Herrndorf selbst „erfundene” literaturkritische Kategorie „Durchlesebuch” in den Sinn. Zudem hat man den Autor nicht nur in Bezug auf Familie und Freundeskreis, sondern auch durch seine vielen Quintessenzen kennengelernt sowie seine Absicht, jede „Aussage” mit einer Pointe zu beenden. Selbst die Bekanntmachung seiner tödlichen Krankheit bei seinen Freunden könnte er mit „Habe ich da was verpasst?” kommentiert haben, was er auch in einem anderen Kontext benutzt. Neben Christoph Schlingensief war Wolfgang Herrndorf derjenige deutschsprachige Schriftsteller dieser Generation, der den Tod zum Gegenstand seines Schreibens machte.

Um seinen Tod herum gelang es ihm, gleich noch einmal mehrere Pointen zu setzen: Als seine Eltern ihn kurz zuvor noch mal besuchten und seine Mutter die vielen leeren Pfandflaschen wegtragen wollte, meinte Herrndorf trocken, dass dies doch „seine Lebensversicherung” sei. Mit der Traueranzeige, die die „höflichen Paparrazi“ in der TAZ schalteten, wurde die folgende letzte Bitte veröffentlicht:

„Ich hoffe, es kommt keiner auf die Idee, eine Annonce aufzugeben oder einen Kranz zu kaufen. Besauft euch in Prassnik.“ In Trauer um Wolfgang Herrndorf 1965 – 2013. Wir höflichen Paparazzi.

Am 23. Juli seines Todesjahres hatte Herrndorff sein Testament aufgesetzt, und auch das wieder nicht ohne tragikomische Pointe: „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen, Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten, Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“ Bei der Beerdigung von Wolfgang Herrndorf wird eine Zeile aus dem Gedicht des nordeutschen Malers und Schriftstellers Georg von der Vring (1889-1968) In der Heimat, das Herrndorf geliebt hat, rezitiert: „An der Weser, Unterweser, wirst du wieder sein wie einst.“ Dann verliert sich die Spur Wolfgang Herrndorfs. Trotz seines Grabs auf dem Dorotheenstädter Friedhof lässt sich vorstellen, wie er wieder in jene norddeutsche Landschaft eingeht, von wo er einst aufgebrochen war. Das Verdienst, dies äußerst anschaulich dargestellt zu haben, gebührt seinem ersten Biographen. Von daher kann dieses Werk ganz ausdrücklich empfohlen werden.

Titelbild

Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023.
352 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100823

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