Enthüllungen und Bekenntnisse

Im letzten Band seiner Tagebuch-Trilogie fokussiert Michael Rutschky das eigene Ego

Von Marita MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor seinem Tod im Frühling 2018 konnte Michael Rutschky noch die Beiträge für den dritten Band seiner Tagebuchaufzeichnungen transkribieren und auf den Weg bringen. Mit Hilfe und Bearbeitungen des langjährigen Freundes Kurt Scheel wurde die letzte Fassung ein Jahr später herausgegeben.

Der Titel Gegen Ende und die winterliche Szenerie auf dem Einband geben bereits Hinweise auf die zentralen Themen dieses Bandes: Altern, Krankheit und Tod. Die Leserinnen und Leser, die die heiter-lakonische Prosa des Autors lieben, werden überrascht und vielleicht enttäuscht sein. Es ist ein düster-lakonisches und überwiegend schwermütiges Buch. Es ist aber auch ein offenes und schonungsloses Buch, schonungslos gegenüber anderen und vor allem gegenüber dem Selbst. Überwog in Mitgeschrieben, dem ersten Band der Trilogie, der Blick des Chronisten auf die Interna des Kulturbetriebs der 1980er Jahre, dominierte im zweiten Band In die Neue Zeit der gesellschaftsdiagnostische Blick auf die Jahre vor und nach dem Fall der Mauer, so gewinnt in Gegen Ende der Bekenntnischarakter die Oberhand. Der soziologisch geschulte Beobachter und Interpret der Lebensläufe wird sich diesmal selbst zum zentralen Objekt der Betrachtung. Und in der Regel missfällt „R“, so der Name des Alter-Egos, was er sieht: „Der Mann, den R periodisch im Spiegel sieht, während er im KaDeWe die Rolltreppe hinauffährt, schaut formlos aus. Ein unprägnanter Bauchansatz; auf dem Kopf Haarausfall in Flecken; das Gesicht gedunsen, mit einem Ausdruck hilflosen Wohlwollens (oder tiefer Verzweiflung).“ 

Um die Zeit seines 60. Geburtstags registriert R nicht nur körperliche Verfallserscheinungen, sondern auch zunehmende Erschöpfungszustände, Unlust und immer wieder: Verbitterung. Er ist verbittert über mangelnde Anerkennung als Autor und über schwindenden Einfluss auf jüngere Autoren, besonders wenn es sich dabei um seine Wahlverwandten handelt. Allerdings muss man sich als Leserin nicht vor seitenlangen Lamenti fürchten. Rutschky fasst Begegnungen und Dialoge in kurze, genaue und scharfsinnige Sätze. Manche enthalten Maliziöses, die besten glänzen durch Selbstironie. Man kann die Verletzung der namentlich genannten Freunde verstehen, die man auch im Vorwort von Kurt Scheel oder im Nachwort von Jörg Lau nachlesen kann. Es könnte den Freunden ein Trost sein, dass sich der Autor bewusst vor allem selbst entblößt. Es ist das Motiv des alternden verbitterten Mannes, das Rutschky immer wieder umkreist, für das er Beispiele und Geschichten sammelt. Bevor dieser alternde Mann bemerken will, dass seine geistige Urteilsfähigkeit abgenommen hat, richtet sich sein Groll gegen das eigene Umfeld: „Das war ein Fall von Entgehen. R war augenscheinlich unfähig, eine solche Präsentation korrekt zu beurteilen. Stattdessen beruhigte er sich mit dem Gedanken, alle anderen irrten sich; Kathrin, die ohnedies alles besser weiß, David Wagner, den er verdächtigt, überhaupt alle alten Männer aus dem Weg zu wünschen.“

Enthüllt und minutiös geschildert  wird auch der übermäßige Alkoholkonsum; zum Alltag gehört die Schlaflosigkeit, die wiederum mit Alkohol versucht wird zu therapieren; es plagen Geldsorgen und nicht zuletzt: die Ehekonflikte mit der 2010 verstorbenen Katharina Rutschky. Mancher Rezensent hat sich verblüfft über die geschilderten Schattenseiten des vermeintlich idealen Intellektuellenpaares gezeigt. R beschreibt Konkurrenzgefühle und Schreibblockaden der Partnerin sowie eigene Wutanfälle. Zu den Konfessionen des Bandes gehören die homoerotischen Fantasien von R, die heterosexuellen Ehebruchsversuche und eine große Liebesgeschichte der beiden Eheleute mit einem der von ihnen geförderten Autoren. Von all dem haben die veröffentlichten Tagebücher bisher geschwiegen. Das bedeutet aber auch, dass Rutschky seine verstorbene Ehefrau bisher geschützt hat, was man als Loyalitäts-, wenn nicht als Liebesbeweis verstehen kann.

In vieler Hinsicht setzt dieser dritte Band Kontrapunkte zu den Vorgänger-Bänden der Tagebuch-Trilogie. Neu ist auch, dass der passionierte Stadtflaneur und Stadtschreiber Rutschky über die Natur reflektiert. Seltene stimmungsfrohe Ereignisse stellen die jährlichen Besuche des Paares auf Rügen dar. R versucht sich an Naturbeschreibungen über die Insel, muss aber zugeben, dass er bei der Schilderung von Landschaftserlebnissen schon immer versagt habe. Tatsächlich fehlen dem großen Stilisten für die Natur schlichtweg die Worte: „Sie studieren die kleinen Blumen, die massenhaft auf den Wiesen wachsen, aber ihm fehlen die meisten Namen.“ Die Reflexion über dieses Unvermögen gehört zu den besten Passagen des Bandes. Und hier fallen dann doch sehr gelungene Sätze, etwa über ein unvergessliches Landschaftserlebnis in Yorkshire aus dem Jahr 1960: „sie fuhren im Bus durch das Hochmoor, und wie sich das Gras auf den Hügeln gegen den Himmel abzeichnete, das ließ ihn das Weltall sehen, wie es die Erde durchquert.“

Weiter als nach Rügen führen die Reisen selten. Die Welt wird enger in diesem Lebensabschnitt. Von fernen Ländern berichten nur noch die jüngeren Freunde. Selbst der weltweit geführte „Krieg gegen den Terror“ taucht nur in Randnotizen auf. Wichtiger sind die Leberflecken, die Darmbeschwerden und die gefürchteten Karzinome. Rs Alltag wird von Arztbesuchen, vom häuslichen Lesezirkel und von Poetik-Dozenturen in heimelig-unheimlichen deutschen Universitätsstädten geprägt.

Bei aller Lust an der Enthüllung und am Bekenntnis, die dieses Tagebuch kennzeichnen, sollte man nicht übersehen, wie stark verdichtete Motive und gestaltete Strukturen die ausgewählten Aufzeichnungen bestimmen. Rutschky hat stets nach den „Lebensromanen“ gefragt, die sich aus der Selbstdeutung eines Menschenlebens ergeben. „Die Tagebücher sind der Lebensroman Michael Rutschkys“, schreibt Scheel im Vorwort. Vielleicht sollte man von drei unterschiedlichen Romanen sprechen. Der „Roman“ Gegen Ende wird gerahmt von den toten Müttern. Neben dem Motiv des verbitterten alternden Mannes stellen diese Mütter ein weiteres Leitmotiv dar. Der erste Eintrag des Bandes gilt dem Tod der eigenen Mutter im Jahr 1996, der letzte Eintrag beschreibt den Tod der Schwiegermutter im Jahr 2009. Beide Mütter litten an Depressionen und waren, scheint es, wenig zur Liebenswürdigkeit begabt. Die Kinder, R und Kathrin, wollten erkennbar anders sein und fallen doch, älter werdend, in die vertrauten Muster von Depression und Unfreundlichkeit zurück, geplagt von Grübeleien, den falschen Beruf ergriffen oder die falsche Frau geheiratet zu haben. So könnte ein psychologisierender Interpretationsansatz für dieses Tagebuch als Roman entworfen werden.

Gegen Ende stellt eine aufschlussreiche, wenn auch düstere bis teilweise verstörende Ergänzung zu den vorhergehenden Tagebüchern dar. Für Rutschky-Leserinnen und -Leser ein Muss, für Rutschky-Einsteiger hingegen nicht zu empfehlen. Für alle an autobiografischen Schreibweisen Interessierte ist das Buch ein letzter experimentier- und risikofreudiger Versuch des Autors, Genre-Grenzen auszuloten und zu überschreiten, diesmal in den Bereichen des literarisierten Tagebuchs und der Bekenntnisliteratur.

Titelbild

Michael Rutschky: Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996-2009.
Berenberg Verlag, Berlin 2019.
358 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334491

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