1953, 2000, Zukunft
Japanische Zeitgeschichte als Generationenroman – Kazuki Sakurabas Saga des Rotlaub-Clans
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür Die Legende des Hauses Akakuchiba, im japanischen Original Akakuchiba-ke no densetsu, wurde die Autorin Kazuki Sakuraba 2007 für den angesehen Naoki-Preis nominiert und schließlich mit dem 60. Preis der Mystery Writers of Japan (Nihon Suiri Sakka Kyōkai Shō) ausgezeichnet. Das Haus der roten Töchter, so der Titel der 2019 bei Heyne erschienenen, aus dem Englischen übersetzten deutschen Ausgabe des Texts, entspricht ungeachtet der Denomination des genannten Preises kaum dem, was man sich unter einem Kriminalroman vorstellt. Geklärt wird am Ende zwar das rätselhafte Verschwinden eines Mannes, einer kriminalistischen Logik folgen der Aufbau des Rätsels und die finale Auflösung der Hintergründe jedoch nicht.
Das Haus der roten Töchter ist in erster Linie ein Generationenroman mit der für diesen charakteristischen Figurenkonstellation. Die erzählte Zeit umfasst mehrere Dekaden und beginnt in den 1950ern mit der Geschichte von Manyo, dem „Mädchen aus den Bergen“, adoptiert von der jungen Familie Tada. Tatsu, die Matriarchin des Akakuchiba-Clans aus Benimidori, einer mächtigen Familie in der Region San’in, Provinz Tottori, erkennt das Potential des Kindes, das offenbar von einem Stamm aus den Bergen im „Tal der Eisenhersteller“ ausgesetzt worden war, und bestimmt es zur zukünftigen Frau ihres Sohnes Yoji. Manyo besitzt die Fähigkeit des Hellsehens, erweist sich sozusagen als Geheimwaffe gegen ein übermächtiges Schicksal und im Allgemeinen als überaus robust. Sie schenkt dem Clan vier Kinder, Namida, den begabten Ältesten, Kemari, Kaban und Kodoku. Tochter Kemari ist die Anführerin einer weiblichen Motorradgang und vertritt die Generation der in den 1960er Jahren geborenen „kämpfenden Frauen“. Sie heiratet später Yoshio und ist bis zu ihrem frühen Tod mit 32 eine erfolgreiche Manga-Künstlerin sowie die Mutter der 1984 geborenen Toko, der im Roman installierten Chronistin.
Aufgebaut wird der Stoff in drei Teilen, die den Wandel der Zeit widerspiegeln. Der erste Abschnitt beschreibt die Jahre 1953 bis 1975 als die „letzte Ära der Legenden“. Der zweite Abschnitt, gewidmet der „Ära von Größe und Leere“, reicht von 1979 bis 1998. Teil drei beginnt mit der Jahrtausendwende, erstreckt sich bis in die Zukunft und stellt sich unter dem Motto „Mörderin“ der Frage, ob Manyo nicht Schuld am Tod eines Menschen trägt.
Während der Text als Erzählung einige Defizite aufweist, gelingt der Autorin eine aufschlussreiche Mentalitäts- und Zeitgeschichte der japanischen Nachkriegsdekaden. Das Muster der verschiedenen die Imaginationen des Kollektivs spiegelnden Epochensignaturen folgt dabei bekannten Vorgaben wie der des Soziologen Mita Munesuke (*1937), der die Jahre nach 1945 seinerseits unterteilte in die „Ära der Ideale“ (1945–1960), die „Ära der Träume“ (1960–1975 ) sowie die „Ära der Fiktion“ (ab 1975). Manyos vier Kinder repräsentieren Wege oder gesellschaftliche Milieus, die diese Phasen jeweils prägen: Der homosexuelle Namida geht den Weg des entbehrungsreichen akademischen Studiums im Elitemilieu, Kemari wird Anführerin im Yankee-Milieu, später vertritt sie die japanische Kreativindustrie, Kaban verschreibt sich der Schickeria, und Kodoku lebt isoliert wie ein hikikomori, da er die Ängste seiner Zeit mit sich trägt.
Den stärksten Eindruck hinterlassen neben den Mentalitätsporträts Sakurabas technik- und industriegeschichtliche Ausführungen sowie ihre Schilderungen der sich wandelnden ökonomischen Faktoren und der mit diesen in direkter Verbindung stehenden soziokulturellen Bedingungen. Über die einebnende Funktion des nationalen Fernsehens heißt es: „Da immer mehr Menschen Fernseher hatten, empfing das gesamte Land gleichzeitig mithilfe von elektromagnetischen Wellen die gleiche Kultur aus der Mitte der Nation“. Eine wichtige Zäsur bildet der Tod von Kaiser Hirohito, das „Volk war schockiert über den Anbruch einer neuen Zeit“. Auch die Phase des Kalten Kriegs mit der Furcht vor einem Atomkrieg und dem nuklearen Winter war zu Ende gegangen: „Kodoku sah im Fernsehen, wie die Mauer fiel, die Ost- und Westdeutschland voneinander trennte.“
Den Wandel der Zeit verdeutlichen nicht nur Regierungswechsel oder der Fortschritt der Technik und die sich mit ihm verändernde Arbeitskultur, sondern auch die Hochzeiten und Todesfälle. Konstant bleiben dagegen die Visionen, die die besondere Wahrnehmungswelt der Heldin Manyo ausmachen. Durch sie verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ein magisches Kontinuum wird beschworen, das seinen Raum in der Moderne behauptet. Auch einige Geister scheinen sich im Clan heimisch zu fühlen. Insofern ließe sich der Text auch der literarischen Phantastik zurechnen.
Sakuraba beschreibt die Geschichte des Ortes und der Region als wechselreiches Geschehen, wobei sie eine ethnische Diversität Japans und polysinfonische Struktur von Geschichte nahelegt, die von verschiedenen Akteuren und Chronisten unterschiedlich erzählt werden kann. In diesem Fall handelt es sich um regionale Siedlungs- und Vertreibungsgeschichten, eine Geschichte von Einwanderungen, eine Kulturkontaktgeschichte, eine Kulturgeschichte der Eisenherstellung, eine Geschichte der japanischen Klassengesellschaft, eine Mentalitätsgeschichte, eine LGTB-Zeitgeschichte (!) sowie um eine Hommage an die Überlebenskämpfe von Menschen in marginalen Räumen und – nicht zuletzt – um eine Globalgeschichte, wenn zum Beispiel vom Kalten Krieg, vom Ende der DDR oder von neuen Geschäftsstrukturen auf den Philippinen berichtet wird.
Geschichte ist dynamisch: Das Zeitalter der Moderne brachte für den Clan deutsche Hochöfen anstelle der Tatara-Eisenhütte, wobei man sich nicht selten grämt, dass „sich alles gen Westen orientierte und veränderte, ob es einem gefiel oder nicht.“ Als letztes Jahr der Legenden nennt die Erzählerin im Text, Toko, das Jahr 1975: „Die Touristen, die auf der Suche nach Legenden und Mysterien kamen, finden keinerlei Spuren mehr von der alten einzigartigen Kultur von Izumo.“ Parallel und die Dynamik unterlaufend gestaltet die Autorin jedoch auch ein Moment der Dauerhaftigkeit und beharrt auf der Persistenz von Mythen. Trotz des äußerlichen Wandels lebt die alte Zeit in manchen Helden, in diesen Fall Heldinnen, weiter. Manyos Tochter Kemari ist von einer „seltsam aufgeladenen Aura“ umgeben, „typisch für jemanden, der für mehrere Generationen verantwortlich war“. Kemari dient als Manga-Autorin in der Kreativindustrie bis zur völligen Erschöpfung oder eventuell sogar bis zum Tod durch Überarbeitung, was man auch als Illustration des Wandels von der Schwerindustrie zum Content Business verstehen kann. Die Aufopferung der Person zugunsten des Fortbestands der Familie bleibt letztlich gleich, und es gilt, „einzelne Männer und Frauen waren unwichtig“, nur „die Verbindung des Blutes zählte“.
Die Chronik Das Haus der roten Töchter erweist sich als archaisierender Romantic Thriller, der davon erzählt, dass der Lauf der Zeit unaufhaltsam ist und es starker Kräfte benötigt, um in ihm zu bestehen. Tokos Generation scheint dieser Tradition nicht mehr gewachsen – hier echot die Autorin die Zweifel an der Jugend Japans, die in den 2000ern vor allem im Rahmen der Debatte um die seelische Prekarität des Landes artikuliert wurden: „Erwachsen und ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden, was eigentlich jeder schaffen sollte, war mir zu viel“. Am Ende des Romans gelingt es der Tochter Kemaris, ein Familiengeheimnis zu lösen, sie gewinnt an Selbstvertrauen und wird wohl das Haus weiterführen.
Sakurabas Beitrag ist als Dekadenporträt durchaus gelungen. Mit dem Muster Heirat, Hochzeitsnacht, Kindsgeburten und Tod sowie mit dem Bereich Pflichtverständnis, Arbeitsmoral und Aufopferung für die Blutlinie wird sich mancher Leser vermutlich etwas schwertun. Die handwerkliche Schwäche des Texts liegt in einer gewissen Redundanz. Nicht allzu kunstvoll stellt sich zudem die Sprache dar, was eventuell an der Zweitübersetzung aus dem Englischen liegt. Hier hätte der Verlag besser die Mehrkosten für eine Direktübersetzung aus dem Japanischen und ein gutes Lektorat investiert.
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