Der Künstler als tragikomischer Held

In seinem Roman „Der Jaeger und sein Meister“ begibt sich Rocko Schamoni auf die Spuren seines Idols Heino Jaeger

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch des Musikers, Schauspielers, Theater- und Hörspielmachers, Schriftstellers und ehemaligen Club-Betreibers Rocko Schamoni war wohl überfällig. Die Mitglieder des Trios Studio Braun (Schamoni, Jacques Palminger und Heinz Strunk) berufen sich auf den legendären und doch heute fast vergessenen Zeichner und Satiriker Heino Jaeger als Vorbild. Jetzt hat Schamoni eine Hommage an ihn geschrieben, ein Buch, das der Verlag mit dem Etikett „Spiegel Bestseller-Autor“ bewirbt. Offenbar hat Rocko Schamoni als Schriftsteller den Status eines Stars erreicht, der ihm als Musiker versagt blieb, weil er in den Sphären der Musikindustrie am falschen Platz war. Im Roman behauptet er, dass ihm ebenso wie Heino Jaeger das fehlte, „was Dieter Bohlen den ‚Killerinstinkt‘ nennt, also der unbedingte Wille zum Aufstieg, ganz egal, was es kosten würde und welchen Weg man dafür gehen müsste“.

Den Status als Erfolgsliterat verdankt er wohl vor allem seinem erfolgreich verfilmten Roman Dorfpunks (2004) und dem Vorgängerbuch zum neuesten Werk: Große Freiheit (2019), einer Erzählung über Leben und Karriere der Sankt Pauli-Kiezgröße Wolfgang „Wolli“ Köhler. Große Freiheit ist das, was man neudeutsch einen Pageturner nennt: chronologisch im Präsens durcherzählt, bestens recherchiert, daher authentisch wirkend, mit viel Lokalkolorit und Exotik, jedenfalls für den Normalbürger, der Reeperbahn, Herbertstraße und Große Freiheit nur vom Hörensagen oder von einem Kurzbesuch her kennt.

Im Vergleich dazu ist Der Jaeger und sein Meister zwar sprachlich nicht weniger eingängig, aber formal komplizierter gebaut. Die Haupterzählung, in der eine auktoriale Erzählinstanz sich hin und wieder unbekümmert auf Seitenpfade begibt, also die Hauptfigur Heino Jaeger verlässt und die Perspektive anderer Figuren einnimmt, etwa die des Skandalboxers Norbert Grupe oder von Wolli Köhler, mit dem es ein Wiedersehen gibt, wird ergänzt und manchmal unterbrochen durch eine Ich-Erzählung. Im Prolog und im Epilog berichtet das Erzähler-Ich von seiner Familie, von seiner Jugend, seinen Vorlieben und Zweifeln und auch von seiner Abneigung gegen Erscheinungen des modernen Musikgeschäfts, nämlich die Konzeption von Musik „speziell für Smartphones“ – Musik, die dann gestreamt und schnell wieder vergessen wird.

Wer ist dieser Ich-Erzähler? Eigentlich ist es unzulässig, in einem Text, der als „Roman“ ausgewiesen ist, den Ich-Erzähler mit dem Autor gleichzusetzen. Im vorliegenden Fall drängt sich die Gleichsetzung jedoch auf, berichtet doch der Erzähler unter anderem von seinen Gesprächen mit realen Personen, die ihm die Informationen für sein Buch lieferten. Dies waren vor allem Heino Jaegers engster Freund Joska Pintschovius und Wolli Köhler, über dessen Leben Schamoni nach eigener Aussage so viel erfahren hat, dass er zunächst ein Buch über ihn habe schreiben müssen, eben Große Freiheit. Die Haupterzählung wird unterbrochen durch die Schilderung eines Treffens auf Schloss Wiligrad am Schweriner See, wo Pintschovius eine Runde von Zuhörerinnen und Zuhörern mit Episoden aus dem Leben seines Freundes Jaeger unterhält. Später besucht Schamoni Pintschovius in seinem Bauernhaus in der Lüneburger Heide, um sich weiter über das Leben Heino Jaegers unterrichten zu lassen.

Von Heinrich von Kleist ist der Satz überliefert: „Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Er passt auch zum hochbegabten, aber lebensuntüchtigen Heino Jaeger, der mehrmals dem großen Durchbruch nah war, ihn jedoch jedes Mal verpasste, weil er einfach nicht daran interessiert war und seine Förderer verprellte. Nicht nur wegen seines Talents als Zeichner, Maler und Satiriker bewundert ihn Schamoni, sondern auch wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber einer Karriere und dem großen Geld. Er war „ein ganz besonderer Typ, ein wirklicher Drop-out, einer der letzten großen Freaks aus der Blütezeit derselben“.

Von dieser Blütezeit, den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, erzählt Schamoni. Mit seinem Freund Pintschovius stolpert Jaeger durch die Lande, durch Kneipen und Salons, darunter vor allem den von Wolli Köhler auf Sankt Pauli, überall zeichnend und dabei aufmerksam zuhörend und genau registrierend, was die Leute reden, dabei selbst meistens schweigsam. Aber manchmal, in besonderen Situationen, zum Beispiel in einem Schrank sitzend, fängt er plötzlich an zu sprechen, imitiert überraschend treffsicher, oft auch dialogisch, die Redeweise von Normalbürgern aus diversen Professionen, wobei er mit Vorliebe die Grenze zum Absurden überschreitet, aber im Ton immer ernsthaft bei der Sache bleibt.

Jaeger verdient seinen kargen Lebensunterhalt als Mitarbeiter im Helms-Museum in Hamburg-Harburg, für das er ein großes Werk erstellt: ein Diorama der Landschaft südlich von Hamburg über die Jahrtausende. Bezeichnend für die Art seiner Weltwahrnehmung ist die Idee, die er dabei verfolgt:

Dann würde ich gerne die Zerstörung der Natur durch die Zivilisation und die totale Verwüstung der Landschaft in der Gegenwart zeigen als Beweis der These, dass der gepriesene Fortschritt den langen Weg in die unausweichliche Katastrophe bedeutet.

Dem entsprechend nennen er und seine Verehrer sich die „Altmodler“. Über Jaeger und Pintschovius wird gesagt: „[U]m nichts anderes ging es den beiden, als sich an zeitfremden Stimmungen aufzuladen.“ Irgendwann liest Jaeger nur noch Zeitungen, die mindestens dreißig Jahre alt sind, haust in einer völlig verwahrlosten Kellerwohnung, läuft in einem alten Wehrmachtsmantel und mit dazu passender Kappe herum und malt Bilder für eine Ausstellung in West-Berlin, die den in Frakturschrift geschriebenen Titel trägt: „Heino Jaeger / Ein Maler des Deutschen Reiches / stellt in der ehemaligen Reichshauptstadt aus“.

Während diese Ausstellung mit ihren Kriegs- und Katastrophendarstellungen beim Publikum und bei Rezensenten Irritation und Kopfschütteln auslöst, hat Jaeger als Satiriker Erfolg beim Rundfunk mit Sendungen wie Das aktuelle Jägermagazin und Fragen Sie Dr. Jäger, eine Persiflage auf Ratgebersendungen mit Walther von Hollander und Erwin Marcus. Er kann sogar eine Schallplatte bei der Firma Philips produzieren und in einer Fernsehsendung mit Manfred Sexauer auftreten, aber ein Star wird er nicht, weil er sich als unzuverlässig und wortkarg erweist. Gefördert wird seine Unzuverlässigkeit durch seinen zunehmenden Hang zu einem alkoholischen Getränk, dem er sich schon wegen der Namensverwandtschaft immer mehr zuneigt und in dem er schließlich seinen „Meister“ findet.

Rocko Schamoni stellt den „Meister“ Heino Jaeger als tragikomischen Helden vor, jedoch nicht als tragisch Gescheiterten wie andere, „deren Freaktum einzig darin bestand, komplett aus der Spur gerutscht zu sein“. Immerhin bleiben die Leistungen des „Meisters“ unbestritten und verdienen es, nicht vergessen zu werden. Am Ende des Romans macht sich Jaeger auf den Weg nach Thailand, ähnlich wie sein Freund Wolli Köhler, der sich nach einer Magenoperation auf Indienfahrt begibt. Hubert Fichte, der in Schamonis beiden Sankt Pauli-Büchern immer wieder auftritt, hat daraus das Buch Wolli Indienfahrer gemacht.

Trotz der tragischen Momente kommt das Vergnügen bei der Lektüre des Dokumentarromans Der Jaeger und sein Meister nicht zu kurz. Komisch sind nicht nur viele Erlebnisse, die Jaeger und Pintschovius gemeinsam haben, beispielsweise auf einer Reise durch das Elsass mit einem Reiseführer aus der Kaiserzeit und einem Sprachführer für den Landwehrmann; bei der Rast auf der Fahrt nach West-Berlin in einem Interzonenrestaurant und beim gründlichen Gefilztwerden durch DDR-Grenzer. Oder auf einer „Spiegel-Party“ in Hamburg-Winterhude, wo sich viele Größen des damaligen Kulturlebens, wie Fritz J. Raddatz, Marcel Reich-Ranicki, Klaus Rainer Röhl, Horst Janssen und natürlich Rudolf Augstein, ihre speziellen Blößen geben. Interessant und kenntnisreich geschildert werden auch der für Norbert Grupe, den „Boxprinzen“ Wilhelm von Homburg, katastrophale Kampf gegen den argentinischen Schwergewichtsboxer Oscar Bonavena und das darauf folgende berühmte Fernsehinterview mit Rainer Günzler, bei dem Grupe ab einem bestimmten Punkt einfach schwieg. So ist dieses lesenswerte Buch über das Künstlerporträt hinaus auch ein Stück Kulturgeschichtsschreibung, ergänzt durch (Selbst-)Reflexionen des Autors, die auch den Blick auf unsere Gegenwart schärfen.

Titelbild

Rocko Schamoni: Der Jaeger und sein Meister.
hanserblau, Berlin 2021.
304 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446266032

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