Fingierter Tiefsinn und kalkulierte Melancholie

Ferdinand von Schirach pendelt in „Kaffee und Zigaretten“ zwischen den Textsorten

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Strafe (2018) erzählte Ferdinand von Schirach an exponierter Stelle – der letzten Kurzgeschichte des Bandes – in zuvor unbekannter Offenheit von seinem Antrieb zum Schreiben. Zwar ließen sich Einsamkeit und Fremdheit nicht bannen, schreiben aber wird begreifbar als Versuch, Trauer und Tod zu bewältigen. Das Finale von Strafe ist gleichsam bereits der Prolog zu Kaffee und Zigaretten. Auch hier geht es immerfort um Trauer und Tod, zudem erhält das Schreiben mehr Aufmerksamkeit als je zuvor bei Schirach. Darüber hinaus beginnt das Buch mit einem Text, der offenkundig als autobiografischer verstanden werden will, obschon er in der dritten Person erzählt ist. Beschrieben werden eine unglückliche Kindheit in einem gutsituierten Umfeld, Internatserlebnisse, Außenseiterfahrungen, erste poetische Versuche, der Einschnitt durch den frühen Tod des Vaters, Depression, ein Suizidversuch und die Aussicht, dass die Finsternis niemals enden wird.

Der Held ist am Ende des ersten Textes 18 Jahre alt. Alles scheint angerichtet für ein Porträt des Künstlers als junger Mann, eine biografische Erzählung über ein Leben mit Depression und dem fortwährenden Gefühl von Fremdheit und Isolation, eine Art Entwicklungsroman des Autors Ferdinand von Schirach. Doch so bekenntnishaft der Einstieg auch sein mag: er legt eine falsche Spur. Die damit etablierten Erwartungen werden von den übrigen 47 Kapiteln allenfalls rudimentär erfüllt; wer nach den ersten, tatsächlich berührenden Seiten Schirachs personal erzählte Autobiografie erwartet, wird enttäuscht. Kaffee und Zigaretten bietet keine geschlossene Narration, weder über das Leben des Autors noch über etwas anderes. Das Buch bietet noch nicht einmal ein geschlossenes Konzept. Davon zeugt bereits – was freilich das Resultat einer konzeptionellen Entscheidung ist – das Fehlen einer Gattungsangabe. Deklarierten sich Schirachs bisherige Bücher dezidiert als „Romane“ (Der Fall Collini, Tabu), eine Sammlung von „Essays“ (Die Würde ist antastbar), ein „Theaterstück“ (Terror) und allem voran Sammlungen von „Stories“ (Verbrechen, Schuld, Carl Tohrbergs Weihnachten, Strafe), enthält sich Kaffee und Zigaretten jedweder Einordnung. Diese Freiheit hinterlässt jedoch den Anschein von Beliebigkeit.

Diesen Eindruck erweckt bereits der Titel, der weder einen zwingenden Bezug zum Inhalt noch einen semantischen Mehrwert aufweist; in Jim Jarmuschs Episodenfilm Coffee and Cigarettes (2003) einen intermedialen Referenzpunkt und ein poetologisches Vorbild sehen zu wollen, wäre eine naheliegende, wenngleich wohlwollende Deutung. Der Autor hat in Interviews wiederholt darauf hingewiesen, dass er ohne Kaffee und Zigaretten schlechterdings nicht schreiben könnte, und sicher, immer wieder trinken auftretende Figuren Kaffee (oder sitzen in einem Café) und wiederholt geht es um das Rauchen, aber all das wirkt doch recht bemüht und mitnichten leitmotivisch strukturierend. Es bleibt auch ohne symbolische Funktion – ganz anders, als es beim subtilen Spiel mit den in jeder Story auftauchenden Äpfeln in Schirachs fulminantem Debüt Verbrechen der Fall war. Das Buch ist eine lose Sammlung unterschiedlicher Textsorten: Impressionen von wenigen Zeilen wechseln sich mit essayistischen Betrachtungen oder auf den Erfahrungen eines Anwalts fußenden Fallgeschichten von einigen (durchgehend sehr luftig gesetzten) Seiten ab. Kohärenz muss der Leser, so er danach überhaupt verlangt, weitgehend selbst stiften. Einige Motive tauchen immer wieder auf (der Tod und das oft aufgrund eines einzigen Fehlers „vertane“ Leben), als geschlossenes Gebilde aber kann diese Kompilation schwerlich gelten. Missgünstige Leser könnten das für literarische Resteverwertung halten – was in die bisherigen Bücher nicht passte, findet hier seinen Platz. Den Verkaufszahlen tut das selbstverständlich keinen Abbruch, Platz 1 der Spiegel Bestsellerliste ist längst erobert. Die Marke Schirach ist ein unverbrüchlicher Erfolgsgarant.

Versteht sich: Wer Schirachs Prosa bisher mochte, bekommt auch hier die gewohnte Kost. Ein dem Ideal der Knappheit huldigender, immer auf einen Melancholie-Effekt kalkulierender lakonischer Duktus, der in extremer Verdichtung große Zeitspannen in wenigen Zeilen komprimiert, um dabei in fokussierten Nebensächlichkeiten die Essenz der erinnerten Zusammenhänge aufscheinen zu lassen. Der Erzähler enthält sich expliziter Wertungen, nicht aber der Leserlenkung: immer legt er – als Anwalt der Sache, die er gerade vertritt – eine moralisierende Lesart nahe. Viele aufgegriffene Themen entstammen dem Standard-Repertoire. Die Rolle der Anwälte bei den RAF-Prozessen etwa fasziniert Schirach schon lange und wird nun zum Symbol dafür, dass und wie der junge Rechtsstaat der Bundesrepublik gerade angesichts der Extremsituation des linken Terrors zu sich selbst fand. Die unverhohlene Bewunderung für Otto Schily (in dessen Denken das Recht selbst der Mittelpunkt gewesen sei), die sich dabei Bahn bricht, ist zugleich ein Plädoyer für „das Recht und den Rechtsstaat, diese großen Ideen der Menschheit“. Derlei Positionierungen sind unbedingt begrüßenswert, allmählich aber auch vorhersehbar, zumal man einzelne Sätze bereits in früheren Schirach-Texten gelesen hat. Der Autor ist in erster Linie ein allzu zuverlässiger Lieferant eines hinlänglich bekannten thematischen Spektrums.

Dazu zählt abermals auch das Spiel mit der vermeintlichen „Authentizität“, dem Schirach seit jeher huldigt. Anlässlich einer Anekdote über Ernest Hemingway (einer der Autoren, der die Schreibweise Schirachs beeinflusst hat und mit dessen Leben und Werk er sein eigenes Schreiben hier in einem Akt der Selbsterhöhung verschränkt) kommt es zu einer poetologischen Zentralaussage: „Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber vielleicht kommt es bei guten Geschichten auch gar nicht so sehr darauf an.“ Für Schirachs eigene Texte, insbesondere für die juridisch-anthropologischen Fallgeschichten, gilt das zweifellos. Die Charakterisierung eines Idols – neben Hemingway gilt das auch für Michael Haneke und Albert Camus – bietet einen willkommenen Anlass für Reflexionen über das eigene Schreiben und das Schreiben im Allgemeinen: „Solange man schreibt, spricht man mit den Menschen, die man erfindet, man lebt ihr Leben mit ihnen, und die Zeit zwischen dem Schreiben wird irgendwann unwichtig, das Schreiben wird zum Eigentlichen.“ Umso seltsamer, dass die Resultate dieser beschworenen Eigentlichkeit so lieblos arrangiert sind.

In das vertraute Spektrum mischen sich Anklänge von Kulturpessimismus. Der Wert von Kunst ist offenbar im Sinken begriffen; Mode wird als „eine Illusion“, als niemals einlösbares Versprechen, bezeichnet; der Begriff „Kampfpreis“ wird im Zusammenhang mit der Benennung eines Telefontarifs als „Magenta“ als zynisch ausgestellt; dass das Rauchen mittlerweile „überall verboten“ ist, scheint eine gesellschaftliche Kardinalsünde zu sein. Bald wird Schirach auch als eminent politischer, verfassungs- und menschenrechtskonservativer Autor begreifbar, der engagiert für die Würde des Menschen ein- und populistischen oder gar pöbelhaften Reflexen entgegentritt. Seine sprachliche Präzision ist oft bewundernswert – gerade die vollkommen anmutende Klarheit lässt dort semantische Tiefen aufblitzen, wo sie auf einen flüchtigen Blick nicht vermutet würden. Bisweilen allerdings sind die Überlegungen in bedenklicher Nähe zu süßlichen Kalendersprüchen, die auch die letzten Dinge und die allergrößten Fragen auf Bonmot-Format herunterbrechen. Kaffee und Zigaretten vermittelt allem voran, wie Ferdinand von Schirach die Welt sieht. Neue Einblicke bringt das selten hervor.

Titelbild

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876108

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