Die Zukunft der Vergangenheit

Der von Kristin Platt und Monika Schmitz-Emans herausgegebene Band „Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit“ behandelt ein breites Themenspektrum

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jahrzehnt von 1937 bis 1946 gilt als „Golden Age“ der US-amerikanischen Science Fiction (SF), gelang es ihr in diesen Jahren doch, sich aus der Schmuddelecke zu verabschieden. In Deutschland blühte das Genre hingegen schon ein, zwei Jahrzehnte früher auf, firmierte hierzulande allerdings unter dem Titel „Zukunftsroman“. Tatsächlich sind die Gattungen Science Fiction und Zukunftsroman auch nicht ganz identisch. Bei letzterem handelt es sich vielmehr um eine Teilmenge der SF, deren Handlung etwa auch in zeitgenössischen Paralleluniversen oder Alternativvergangenheiten angesiedelt sein kann. Die, wenn man so will, heroische Phase der deutschen Zukunftsromane begann mit dem Ende das Ersten und erstarb mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Den einschlägigen Romanen dieses Zeitraums widmet sich der von Kristin Platt und Monika Schmitz-Emans herausgegebene Sammelband Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit. Seine Beiträge konzentrieren sich zwar weitgehend auf Werke deutscher AutorInnen, nehmen aber auch schon mal Romane des europäischen Auslandes in den Blick. So behandelt Gijs Altena etwa den niederländischen „‚Toekomstroman’ der Zwischenkriegszeit“.

Kurzgeschichten und Erzählungen gleich welcher Sprache bleiben hingegen unberücksichtigt. Nur in einem der Aufsätze wird am Rande auf Edgar Nevilles Kurzgeschichte Die letzten Menschen (1932) eingegangen. Diese Absenz ist bedauerlich, denn gerade auch unter den kleinen Formen der einschlägigen Literatur hätten sich einige interpretationswürdige Werke finden lassen. Übrigens gerade von Frauen. Auf zwei der bedeutenderen SF-Kurzgeschichten, die deutschsprachige Schriftstellerinnen in der Zwischenkriegszeit verfassten, sei an dieser Stelle hingewiesen: Helene Burmaz’ Die Marsbewohner (1919) und Der Mord an der Raumfrau (1937) von Annie Francé-Harrar. Tatsächlich haben deutsche Autorinnen im Untersuchungszeitraum allerdings nur wenige Werke der SF und noch weniger einschlägige Romane veröffentlicht und, so weit bekannt, darüber hinaus auch keine weiteren verfasst. So finden Romane von Autorinnen denn auch nur in einem der elf Beiträge Erwähnung, und zwar bezeichnender Weise in demjenigen, der sich mit der Darstellung von „Geschlecht und Sexualität“ in den Zukunftsromanen der Zeit befasst.

Dass es sich bei dessen Verfasserin ebenfalls um eine Frau handelt, kann kaum überraschen. Dina Brandt hat ihn geschrieben. Sie geht „anhand dreier exemplarisch ausgewählter Romane“ der Frage nach, „ob es den Romanautoren nicht nur gelingt, eine technische Zukunft, sondern auch eine geschlechterbewusste Zukunft zu beschreiben“. Exemplarisch sind die von ihr ausgewählten Werke, weil sie jeweils für eine bestimmte Gruppe von Zukunftsromanen stehen: die „frühen, politischen Zukunftsromane“, die „allgemeine[n] Ingenieursphantasie[n]“ und die „besonders in der Zeit des Nationalsozialismus beliebten, extraterrestrischen Reisen in ‚Fremde Welten’“.

Interessant, da außergewöhnlich ist dabei vor allem der Vertreter der ersten Gruppe: Erdsternfrieden. Eine unwahrscheinliche Geschichte (1919). Der Österreicher Heinz Slawik entwirft in ihm ein „pazifistisches Szenario“.  Die friedliche Welt des Romans wird geschaffen, indem „aus den Hoden von Männern unterschiedlicher Nationalität“ eine bestimmte Substanz „gewonnen wird“. Wird dieser „Änderstoff“ nun „Männern anderer Nationalität“ injiziert, werden sie ihnen fremden Kulturen gegenüber toleranter. Hinsichtlich der den Frauen zugedachten Rolle ist der Roman – auch für seine Zeit – ausgesprochen reaktionär. So wird Frauen in der von Slawik erdachten pazifistischen Zukunft das Wahlrecht vorenthalten, obwohl sie es tatsächlich zur Zeit seiner Entstehung gerade erhalten hatten. Schlimmer noch, „die Weltgesellschaft blüht […] gerade wegen der Tatsache, dass auf die Beteiligung von Frauen verzichtet wurde“. Brandt apostrophiert dies zu Recht als „Männerphantasie“. Das ist allerdings alles andere als ein Alleinstellungsmerkmal des Romans. Nicht nur „die Frauenbilder in den politischen Zukunftsromanen der frühen Republik“ erweisen sich als „sehr limitiert und reaktionär“. Überhaupt konnte Brandt „kein[en] politische[n] Zukunftsroman in der Zwischenkriegszeit identifizier[en]“, „der nicht der Logik folgt, dass Frauen nur eine häusliche oder doch zumindest nicht im öffentlichen, politischen Raum dem Mann gleichgestellte Rolle zukomme“.

Das gilt auch für Hans Richters T 1000. Roman eines Riesenflugzeugs (1927), der für die Ingenieursphantasien der Zeit steht. Mit ihm ist Brandt eine gewisse Entdeckung gelungen. Wird er doch nicht einmal in Nessun Sapràs ansonsten ausgesprochen informiertem Lexikon der deutschen Science Fiction & Fantasy 1919-1932 genannt. Dafür aber ist Brandt entgangen, dass eben dieses Lexikon Näheres über Richters Biographie zu berichten weiß, erklärt sie doch, zu dem Autor gebe es „leider keine biografische Aufarbeitung, lediglich einen Wikipedia-Artikel“. Die Weltraumfahrten behandelnden Romane zur Zeit des Nationalsozialismus werden durch W.F Eickermanns Großmacht Saturn (1938) vertreten, in dem die Geschlechterverhältnisse der Gesellschaft des titelstiftenden Ringplaneten „immer wieder thematisiert“ werden. Zwar sind die Frauen „aus dem öffentlichen Leben auf Saturn verbannt“, doch sind es gerade junge Angehörige des weiblichen Geschlechts, die in einem Krieg der „Saturnier“ gegen die „Japetusmenschen“ entscheidend zum Sieg der ersteren beitragen und anschließend eine „gleichberechtigte Behandlung“ einfordern, der sie in einem gewissen Rahmen auch etwas näherkommen. Denn „am Ende des Romans“ dürfen sie „einen Platz im öffentlichen Raum einnehmen“, ohne dass allerdings beschrieben wird, wie sie ihn füllen.

In einem Exkurs behandelt Brandt schließlich noch zwei „Ausnahmen im Geschlechterpanoptikum“: Thea von Harbous Frau im Mond (1928) und Joseph Delmonts im gleichen Jahr erschienenes Werk Der Ritt auf dem Funken. Der Ausnahmecharakter von Harbous Roman besteht allerdings nahezu alleine darin, dass er von einer Frau geschrieben wurde. Denn wie Brandt zutreffend konstatiert, sind die Handlung und die Figur seiner Protagonistin „nicht […] emanzipativ“, sondern „im besten Fall […] ambivalent[.]“. Anders hingegen Delmonts Roman, der tatsächlich eine beachtliche Sonderstellung einnimmt, da er als einziger der in dem Band behandelten Romane eine emanzipierte Protagonistin zu bieten hat, die zudem eine erfolgreiche Ingenieurin und Erfinderin ist. Mag die „Reflexionstiefe“ des Romans auch „nicht besonders weit reich[en]“, so bildet er damit doch schon „eine bemerkenswerte Ausnahme im Tableau der Zukunftsromane“, wie Brandt zutreffend anmerkt. Dass „feministische Zukunftsentwürfe […] erst Jahrzehnte später entstehen“ werden, ist allerdings nicht ganz richtig. 1914 erschien in der Zeitschrift Frauenkapital etwa Magda E. Trotts kurze Zukunftsphantasie Vor der Entstehung des Frauenstaates und Helene Judeich publizierte bereits 1903 ihr feministisches Neugermanien.

Werden Autorinnen überhaupt nur in einem Beitrag erwähnt, so sind zwei der zahlreichen Autoren gleich in mehreren vertreten: Hans Dominik mit diversen Romanen und Alfred Döblin mit Berge Meere und Giganten (1924). Jener vermutlich wegen seiner Breitenwirkung und der schieren Anzahl seiner Zukunftsromane, dieser aufgrund der herausragenden Qualität und Bedeutung dieses einen Werkes. Hans Esselborn beleuchtet beispielsweise „Fiktionalisierung und Narrativierung und politische Diskurse in Dominiks Die Spur des Dschingis Khan aus dem Jahr 1923, während Fynn-Adrian Richter der „Poiesis von Döblins Berge Meere und Giganten“ nachgeht und Stefan Willer Döblins Roman mit Kellermanns Der Tunnel (1913) vergleicht, womit er den eigentlichen Untersuchungszeitraum sprengt. Selbstverständlich wird Döblins Roman auch in einem Beitrag beleuchtet, der sich ganz auf sein Erscheinungsjahr 1924 konzentriert. Medardus Brehl unterzieht verschiedene Romane des Jahres einer „kursorische[n] Lektüre[.]“, um zu zeigen, auf welche Art und Weise, sie jeweils die „zukunftsbildenden Potentialität [der Gegenwart] zu schildern suchen“.

Nicht nur Willers geht über den eigentlichen Untersuchungszeitraum hinaus, noch stärker dehnt ihn Mitherausgeberin Monika Schmitz-Emans, die sich anhand von „Modellbeispielen“ dem „Sprachdenken, [der] Sprachpolitik und Sprachpoetik“ des Zukunftsromans zuwendet und hierzu nicht zuletzt Kurd Laßwitz’ monumentalen Roman Auf zwei Planeten aus dem Jahr 1897 sowie einige nicht deutschsprachige und zudem cineastische Werke heranzieht. Auch sie geht in ihrem Beitrag auf Döblins Berge Meere und Giganten ein.

Die Herausgeberinnen haben die Aufsätze des Bandes allerdings nicht nach dem Erscheinungsjahr der behandelten Werke oder ihren AutorInnen geordnet, sondern sie sinnvollerweise auf drei thematische Rubriken verteilt: „Problemkonfigurationen“, „Themen“ und „Transformationen“. Interessant ist dabei vor allem der Befund, dass sich die Zukunftsromane des Untersuchungszeitraums „über ein eigenes Zeitbewusstsein charakterisieren [lassen]“, wie die Herausgeberinnen in der Einleitung feststellen. Es sei dies „die Idee der überstürzten Zeit, die Figur der Zeit, die sich vom Menschen fortentwickelt und diesen mit dem Eindruck der Entfremdung zurückgelassen hat“. Zudem konstatieren Platt und Schmitz-Emans die „häufigen Heroisierungen von Erfinder-, Forscher- und Entdeckerfiguren“, mit der „die Leitidee des Menschen als des Subjekts des ‚Machers’ von historischen Welten besonders [bekräftigt]“ wird.

Ebenso zählen „Weltuntergänge und untergehende Welten, Welten ohne Menschen, mit entmachteten oder physiologisch transformierten menschlichen Populationen“ zum „Motivarsenal“ der Zukunftsromane, „das sich komplementär zu dem der futuristischen Weltverbesserung entfaltet“. Dabei wird die kommende Katastrophe nicht etwa gefürchtet, sondern als unumgänglich und notwendig erwartet, wie Mitherausgeberin Platt in ihrem lesenswerten Beitrag „Zeit der Katastrophe“ anhand etlicher Beispiele eindrücklich zeigt. Mehr noch, die „unaufschiebbar kommende[.]“ und „in Form von Technik- und Naturunglücken, insbesondere aber in Form entgrenzter Kriege“ eintretende Katastrophe wird nicht nur nicht gefürchtet, sondern in verschiedenen Romanen gerade zu als „Möglichkeit, dass sie neue politische und soziale Räume betretbar macht“, herbeigesehnt.

Interessiert sich Platt für die Darstellung und Funktion der Katastrophe, so konzentriert sich Lasse Wichert ganz auf eine der Formen möglicher künftiger Katastrophen, indem er sich den „deutschen Zukunftskriegsromanen“ zuwendet.

Lucian Hölscher thematisiert hingegen „die Zukunft im Zukunftsroman“ und arbeitet den „Dialog zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft […] am Beispiel eines Zukunftsromans“ heraus. In Axel Alexanders ansonsten wenig interessantem Roman Die Schlacht über Berlin aus dem Jahr 1932 „[verschränken] sich drei Zeitebenen: der Zeitpunkt der (fiktiven) Handlung, der Zeitpunkt der Abfassung des Romans und der Zeitpunkt seiner späteren […] Lektüre“.

Die ein vielfältiges Themenspektrum abdeckenden Beiträge warten immer wieder mit literarischen Funden, neuen Sichtweisen oder innovativen Fragestellungen auf, so dass sie fast ausnahmslos mit Gewinn zu lesen sind. 

Titelbild

Kristin Platt / Monika Schmitz-Emans (Hg.): Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit. Poetisch-politische Imaginationen.
De Gruyter, Berlin 2022.
351 Seiten , 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110770933

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