Lesen in der Corona-Krise – Teil 25

Pandemiebedingte Kommunikationsbedürfnisse: Mit seinem Buch „Latenzzeit“ möchte Alexander Schneider für kulturell Verborgenes in der visuellen Kommunikation der Pandemie sensibilisieren, offenbart aber gleichzeitig bildwissenschaftliche Methodenschwächen

Von Martin JandaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Janda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Latenz lässt sich ganz nach der Definition der Onlineversion des Duden als „Vorhandensein einer Sache, die (noch) nicht in Erscheinung getreten ist“ verstehen. Entsprechend bezeichnet der Begriff Latenzzeit in der Medizin die Zeitspanne von der Infektion mit einem Virus bis zum Beginn der Infektiosität: Es ist also die Zeit, während der ein Virus in einem Körper zwar vorhanden ist, der Körper aber noch nicht fähig ist, den Virus zu kommunizieren. Latentes, Viren und Kommunikation sind eben die drei Themen, die sich in Alexander Schneiders Buch Latenzzeit verzahnen: Über die visuelle Kommunikation der Corona-Pandemie mittels verschiedener Bildformen möchte das Buch auf Verborgenes – sei es individuell, gesellschaftlich oder kulturgeschichtlich – hinweisen und dafür sensibilisieren.

Des Buchs Ausgangspunkt liegt im Problem der Unsichtbarkeit des Sars-CoV-2 für das menschliche Auge. Diese Unsichtbarkeit führte in den Massenmedien zu den mittlerweile allzu bekannten schematischen farbigen Darstellungen des kugelförmigen Virus mit seiner namengebenden, aus Spikes gebildeteten Kronenstruktur, wobei diese Darstellungen den Virus visuell ansprechender und damit publikumstauglicher als die arg unspektakulären Graustufen-Bilder der Elektronenmikroskopie imaginieren. Die Fähigkeit zu imaginieren sei nach Hans Jonas nicht nur, was den Menschen ontologisch von Tieren abgrenze, sondern sie führe zu einem Bildbedürfnis, das Symbolisierungsprozesse initiiere. Die Symbolisierung der Mitwelt in Form von Bildern stelle demnach ein anthropologischen Bedürfnis dar, welches nicht als Selbstzweck, sondern nach Christoph Wulff als kommunikativer Akt der Orientierung und Führung in der Welt diene. Mit dieser einleitenden theoretischen Fundierung enthebt das Buch die in den folgenden Teilen zu analysierenden Bilder ihrer passiven Rolle als bloße Abbilder von Realität, sondern weist ihnen im Sinne der Bildakttheorie Akteur-Potenzial zu, die ihrerseits kommunikativ Realität bilden können.

Auf diesen theoretischen folgt der erste bildanalytische Teil, der sich dem pandemischen Bildjournalismus widmet. Das Corpus beschränkt sich dabei auf die richtigerweise als aufmerksamkeiterregende Reize dienenden Bilder auf Titelseiten deutscher und internationaler Zeitschriften, die im Zeitraum vom 26. März bis 10. Mai 2020 veröffentlicht wurden. Das Corpus ist weiterhin auf Bilder spezifiziert, die das Fenstermotiv aufgreifen, da sich aufgrund dessen Komplexität nicht nur das Pandemiegeschehen, sondern auch kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte erfassen ließen. So werden schließlich als Corpus acht Titelbilder analysiert, wobei ein aufgezähltes neuntes unerklärlicherweise nicht bearbeitet wird. Dieser Corpus beinhaltet diverse Abbildungsweisen von Fotografien über Grafiken bis hin zu Zeichnungen.

Die rezeptionsästhetischen Analysen erweisen sich als kompetent und in den meisten Fällen werden schlüssige Interpretationen angeboten. Wenn jedoch das Buch behauptet, dass die Darstellung einer Ärztin in einer Klinik, die über ihr Smartphone einen Videoanruf mit ihrer Familie tätigt – also durch ein technisches Fenster kommuniziert –, lediglich auf die Verschiebung des Sozialen ins Digitale verweisen soll, dann greift das deutlich zu kurz. Auch wenn es sich um das Titelbild der US-amerikanischen Zeitschrift The New Yorker handelt, drängt sich zwangsläufig die Überbelastung des Personals in Pflegeeinrichtungen auf: ein seit Jahren auch in Deutschland herrschender Dauerzustand, der gern unter den Teppich gekehrt und dessen Brenzligkeit weitgehend nur zu Pandemiehochzeiten thematisiert wird. Wie dieser Aspekt jenes Titelbilds übersehen werden konnte, lässt sich nicht nachvollziehen, da der zentrale Punkt dieses Kapitels darin liegt, wie visuelle Kommunikation auf Latentes – vor allen Dingen: problematisches Latentes – hindeutet und dieses damit sichtbar macht.

Für die Anbahnung des zweiten analytischen Teils wird das Fenstermotiv erneut aufgegriffen und mit der kindlichen Präsentation von Regenbögen an Wohnungs- und Kita-Fenstern während der Pandemie verquickt. Diese Überleitung mag stilistisch elegant sein, inhaltlich wirkt sie jedoch aufgepfropft und mündet in einen irrelevanten Exkurs vom Zusammenhang der Pandemie mit dem Anthropozän und den kurzfristigen Auswirkungen der Pandemie auf das Klima. Da Epi- und Pandemien bekanntlich bereits vor der Industrialisierung aufgetreten sind, ist die ökologische Beeinflussung des Menschen nur ein nebensächlicher Grund, maßgeblicher für die Verbreitung eines Virus’ sind Mobilität und soziale Kontaktbestrebungen des Menschen. Dass dieser Aspekt konsequent ausgeblendet wird, ist umso interessanter, da es gerade die Ausbremsung und soziale Isolation bzw. Distanzierung sind, die sich im vorangegangenen Analyseteil als ein zentrales Ergebnis der Bildinterpretationen ergeben haben.

Auf diese wenig geglückte Überleitung folgt schließlich der kunstpädagogische Analyseteil, der sich mit den Ergebnissen der Unterrichtsaufgaben, die der Autor selbst in einer sechsten und einer neunten Klasse durchgeführt hat, beschäftigt. Die sechste Klasse sollte darin an eine vorgegebene Zeichnung, die einen bevorstehenden Schwertkampf eines Mannes gegen ein an Sars-CoV-2 erinnerndes Gespenst abbildet, anknüpfen und daraus ein Comic mit drei oder vier Panels anfertigen. Die Schüler der neunten Klasse hingegen sollten ein Selbstportrait mit fiktiver Mund-Nase-Bedeckung zeichnen. Auch wenn fraglich ist, inwiefern im Rahmen einer Schulaufgabe wirklich ein Bildbedürfnis gestillt wird – immerhin impliziert der Begriff Aufgabe eher eine auferlegte Pflicht denn einen eigenen Wunsch –, ist es als erfreulich anzusehen, dass Kindern und Jugendlichen Platz eingeräumt wird, sich zur Pandemie künstlerisch zu äußern. Denn neben den Älteren und Vorerkrankten, die aufgrund des Virus der größten medizinischen Gefahr ausgesetzt sind, sind die Jüngeren ob ihrer fehlenden Rechte und Abhängigkeiten der soziale Spielball der Erwachsenen während der Pandemie und der dieser geschuldeten Eindämmungsmaßnahmen.

Auch in diesem Abschnitt werden kompetente Bild- bzw. Bildsequenzanalysen vorgenommen. Ein bemerkenswertes Ergebnis findet sich bei den Comics der Sechstklässler: Der Kampf gegen das Corona-Gespenst wird durchgängig im Freien dargestellt. Da nach Erkenntnissen der Aerosol-Forschung die Wahrscheinlichkeit höher liegt, sich in Innenräumen mit Sars-CoV-2 anzustecken, wäre ein Kampf gegen das Virus wohl eben eher dort zu vermuten, zumal durch die auferlegten Kontaktreduktion das Leben zunehmend in die eigenen vier Wände verlegt wurde. Optimistisch stimmt dabei, dass die Schüler den Kampf gegen das Corona-Gespenst ebenfalls durchgängig als erfolgreich und das darauf folgende Leben wieder als erfreulich darstellen, auch wenn fraglich bleibt, ob sich hierin eine tatsächliche Erwartung oder Hoffnung auf einen Sieg über das Virus äußert oder ob die durch die Aufgabe vorgegebene Darstellung des Virus als Geist und damit als Bösewicht lediglich eine automatisierte unkritische Reproduktion eines Sieg-des-Guten-über-das-Böse-Narrativs aktiviert hat.

Allerdings ist es sehr fragwürdig, weshalb die Comics der Sechstklässler zwar durch den Autor analysiert werden, aber, anders als bei den Zeichnungen der Neuntklässler, die Schüler hierzu nicht auch selbst zu Wort kommen dürfen. Denn gerade diese Reflexionstexte der Neuntklässler legen Intentionen und Gedanken offen, die sich nicht durch die bloße Zeichnung erkennen lassen, was sich auch an den teils nicht zutreffenden Interpretationen des Autors ablesen lässt.

Zwar sollen diese Texte eigentlich nur die innere Gedankenwelt ihrer Latenz entheben, offenbaren dabei aber weit Wesentlicheres: Bildanalysen und daraus entspringende Interpretationen sind stark fehleranfällig, da ihnen mitunter Kontext oder wichtige Informationen über den Entstehungsprozess fehlen. Zwar wird eben jene Kontextabhängigkeit zweimal kurz erwähnt – einmal in Bezug auf die Bild-Text-Konstellation im Bildjournalismus und einmal in Bezug auf den situativen Kontext des Erstellungsdatums eines der Comics –, aber eine kritische Reflexion der eigenen Analysemethode erfolgt kaum. So schließt das Buch mit einem sehr knappen Fazit des kunstpädagogischen Kapitels, in dem auf zwei Seiten das vorangegangene rekapituliert wird und die selbst erstellten Zeichnungen der Schüler als Möglichkeit des kreativen Umgangs mit der Pandemie und damit einer Bewältigungsstrategie der damit einhergehenden Belastungen bewertet werden. Die Gelegenheit, weitergehende Empfehlungen für den Unterricht zu geben, wird bedauerlicherweise nicht genutzt.

In seinen vier Abschnitten – theoretische Heranführung, Titelbildanalysen, Regenbogenbilder und Kinder-/Jugendzeichnungen – nimmt sich das Buch in einem zu heterogenen Themenspektrum bei zu oberflächlicher Bearbeitung jedes Themas zu viel vor. Beispielhaft kann hierfür die für den analytischen Teil der Titelbilder geäußerte Hypothese, dass sich an das Fenstermotiv nutzenden Bildern Gedankengänge erkennen lassen, die die Krise maßgeblich geprägt hätten, heranziehen. Eine solche These ist ob des frühen Zeitraums von Ende März bis Mitte Mai 2020 und der ohnehin sehr kleinen Stichprobe von acht Bildern, nicht nur als kühn, sondern als illusorisch zu bezeichnen.

Das wirft die Frage auf, weshalb für eine derartige These nicht ein größeres Bild-Corpus und ein längerer Betrachtungszeitraum herangezogen wurde. Es drängt sich der Gedanke auf, dass dieses Buch unbedingt noch während der Pandemie veröffentlicht werden sollte, um von der Aktualität der Situation zu profitieren, und daher aus vier potenziellen Zeitschriftenartikeln ein unfertiges Buch zusammengestückelt wurde, statt die einzelnen Kapitel ausreifen zu lassen, um ein ergiebigeres Ergebnis zu erhalten. So sind die Kapitel von den Fachdisziplinen kaum kompatibel, die Ergebnisse zu spezifisch, als dass ein Publikum sich für jedes einzelne Kapitel interessieren wird. Daher ließe sich an dieser Stelle der im Buch gemachte Bezug auf den Klimawandel und Silvio Viettas Aufruf zu einer nachhaltigeren Vernunft anbringen und fragen, ob der Verlag nicht zugunsten der Schonung von Ressourcen die Befriedigung seines eigenen Publikationsbedürfnisses hätte hintanstellen und dem Buch eine längere Latenzzeit gewähren sollen.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

Titelbild

Alexander Schneider: Latenzzeit: Bilder in der Corona-Pandemie.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2021.
128 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783732907960

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