Rückkehr eines Verschwundenen

In ihrem Roman „Der halbe Apfel“ erzählt Marie-Alice Schultz von einer glücklosen Patchworkfamilie und von sich selbst

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach sieben Jahren kehrt Ben zurück nach Wien, zu Pia, deren Lebensgefährten Vinz und seinem eigenen Sohn Janis, der ihn nicht kennt. All die Jahre war Vinz für Pia und Janis da. Nun behauptet Ben an der Wahrheit vorbei, er finde keine andere Unterkunft. Pia und Vinz reagieren überraschend lasch auf das Ansinnen, bei ihnen einzuziehen. Da gerät nicht etwa alles durcheinander, sondern der Trott geht unter neuem Vorzeichen weiter. Man hat es mit literarischen Figuren zu tun, die dem eigenen Schicksal befremdlich gleichgültig gegenüberstehen. Verständlich ist allein die Reaktion von Janis, der nach kurzer Verwirrung damit einverstanden ist, nun zwei Väter zu haben. Die Ähnlichkeit zwischen Ben und Janis fällt ins Auge, dennoch hat sich Vinz durch einen Vatertest bestätigen lassen, was ohnehin klar war.

Das wird im Präsens auktorial erzählt. Dann kommt Vinz zu Wort, und schon einen Absatz weiter wechselt die Perspektive wieder: der Erzähler weiß, woran Ben denkt. Das nächste Kapitel beginnt mit „So jedenfalls sagt es Vinz.“ Doch der spricht nicht zum Leser, sondern zur Erzählerin, die sich nun mit einem „Ich sehe, wie er nach einer Tasse greift, die nicht im Bild ist“ als Betrachterin eines von der Laptopkamera in Wien zu ihr nach Hamburg übertragenen Bildes zu erkennen gibt. Gleich darauf folgt ein harter Schnitt: Die Erzählerin schreibt über ihr Innenleben, den Verlust ihrer Mutter. In raschemTempo wechselt die Perspektive abermals. Nach nur einem Absatz für Worte von Vinz breitet die Erzählerin ihre Einsicht in die Beziehung zwischen Pia und Vinz aus, bei der das Wissen um die Schwächen und Ängste des anderen wie eine Bedrohung für die eigene Person wirkt.

Irgendwann tritt die Erzählerin für eine Weile aus der Geschichte heraus, äußert sich zum Schreibprozess und zu ihrem Umgang mit den Figuren, wobei sie bekennt, sie werde erfinden, was sie nicht wissen kann. Hier dürfte sich die Haltung der Leser zu diesem sprachlich exzellenten und psychologisch tiefgründigen Roman entscheiden. Die einen könnten den Blick in die Schreibwerkstatt als Bereicherung empfinden, die anderen als unerwünschte Zutat.

Unstrittig jedoch gehören spätere Passagen über die Mutter der Erzählerin zum Besten an diesem Buch. Der titelgebende halbe Apfel, den die Mutter bei ihrem plötzlichen Tod nicht mehr aufessen konnte, ist im Müll gelandet, doch die vielfältigen Erinnerungen an sie beeindrucken ebenso wie das Bekenntnis, nach diesem Verlust nichts Heiles mehr erzählen zu können. Man versteht ihren Schmerz darüber, nicht zu wissen, ob ihre aus Frankreich stammende Mutter im als plump empfundenen Deutschland glücklich oder unglücklich war.

Über Pia, die nun mit zwei Männern und letzten Endes doch allein lebt, erfährt man, dass sie zwar nicht schön ist, aber irgendwie verwunschen wirkt. Unfroh teilt sie mit dem raumgreifenden Ben die enge Wohnung, während Vinz einfach alles so lässt, wie es ist. Er richtet das Leben der anderen, wobei ihm das eigene abhandenkommt. Neid und Konkurrenzdenken sind ihm so fremd wie Entscheidungsfreude. Er fürchtet nur, Janis nicht mehr sehen zu können, der ihn freilich braucht. Und der Ben eines Tages fragen wird, wo er die ganze Zeit war. Im verqueren, aber berechenbaren Zusammenleben von Pia und Vinz ist kein Platz für Heiterkeit. Die findet sich allenfalls in der Bemerkung von Janis, mit Ben müsse er wenigstens keine Ausflüge unternehmen.

Immer wieder spricht die Erzählerin von sich selbst. Sie sitzt zwischen den Stühlen, kann sich nicht entscheiden, ob sie Literatur oder bildende Kunst betreiben soll – was auch in der Biographie der Autorin eine Rolle spielt.

Pia kommt für eine Weile nach Hamburg. Sie arbeitet an einem Text über ihre Erlebnisse, von dem die Erzählerin befürchtet, er könne eher fertig sein als ihr eigenes Buch zu diesem Thema. Aus Wien teilt Pia später mit, sie werde ihre Aufzeichnungen nicht verwenden. Da erst begreift die Erzählerin, dass Pia ihr fehlt, von der sie sowohl gereizt als auch beeindruckt wurde. Pia wiederum ist froh, wieder bei Janis zu sein, was auf Gegenseitigkeit beruht. Vinz nervt sie weiterhin mit seiner Unentschiedenheit.

Gegen Ende wird noch einmal gefragt, wieso Pia und Vinz die Rückkehr Bens einfach hingenommen haben. Statt einer Antwort heißt es, diese Frage richte sich an jemanden, für den das alles keine Erzählung, sondern Leben ist. Eine Freundin empfiehlt der Erzählerin, sich vom festgefahrenen Schicksal ihrer Figuren zu lösen und über sich selbst zu schreiben. Kein schlechter Rat, der für diesen Roman jedoch nicht befolgt wurde.

Titelbild

Marie-Alice Schultz: Der halbe Apfel. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2022.
255 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002947

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