Nach Deutschland und ins Sehnsuchtsland Italien

Mary Shelleys großartige Reiseberichte liegen jetzt vollständig vor

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreichte die Reiseliteratur einen neuen Höhepunkt. Sie war jetzt nicht mehr allein Ausdruck einer adligen oder bürgerlichen Bildungsreise. Vielmehr wurden von den Autoren jetzt auch Lebensumstände verarbeitet und man konnte mit diesem Genre die Zensur in die Irre führen. War das Reisen zuvor meist eine Domäne der Männer, waren jetzt auch verstärkt Frauen unterwegs.

So unternahm die englische Schriftstellerin Mary Shelley in den Jahren 1840, 1842 und 1843 Reisen auf dem europäischen Kontinent. Ziel der ersten Reise war Italien, wo sie viele Jahre gelebt aber auch schwere Schicksalsschläge (Tod des Ehemannes und von zwei Kindern) erlitten hatte. Eigentlich war es die Reise ihres 18 jährigen Sohnes Percy Florence (1819–1889) und einiger seiner Studienfreunde. Trotz der traurigen Erinnerungen überwog bei Mary Shelley die Freude, außerdem fühlte sie sich durch die junge Reisebegleitung geschmeichelt.

Das eigentliche Ziel war der Comer See, wo sie den Sommer verbringen wollte. Aber zunächst lagen Stationen in Frankreich, Deutschland, in der Schweiz und später Belgien und (im heutigen) Tschechien und Österreich auf ihrer Reiseroute. Ihre Reiseeindrücke hielt sie in Briefform an einen fiktiven Adressaten fest, die 1844 als Rambles in Germany and Italy in 1840, 1842 and 1843, erschienen und nun erstmals in zwei Bänden in deutscher Übersetzung vorliegen.

Im zweiten Brief erreicht die kleine Reisegesellschaft, von Paris kommend, bereits deutschen Boden, zunächst Trier, dann entlang der Mosel, wo sie die heruntergekommenen Dörfer, die armen Winzer-Hütten und die miserablen Hotels beklagt. Begeistert ist Shelley vom Rheinfall in Schaffhausen, einfach überwältigt von den Wassermassen: „Es war ein neuer Anblick, der alles in den Schatten stellte, was ich je zuvor gesehen hatte“. Bei der Ankunft in Italien holen sie ihre lange vergessen geglaubten Erinnerungen ein („Eine Mischung aus Freude und Schmerz, ja beinahe eine Qual“). So bieten diese Briefe neben genauen Landschaftsbeschreibungen und Beobachtungen von Menschen auch intime Einblicke in ihr Gefühlsleben.

Die nächsten sechs Briefe widmen sich ganz ihrem Italien-Aufenthalt –- von der Dampferfahrt über den Comer See bis hin zum Besuch einer Opernaufführung in der Mailänder Scala. Bisweilen beschreibt Shelley einfach den Blick aus ihrem Hotelzimmer, dann folgen Betrachtungen zur italienischen Dichtkunst oder Ärger über den Lärm auf der Straße.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich schließlich Shelleys Reise im Jahre 1842, die sie quer durch Deutschland führt. Nach einem längeren Kuraufenthalt in Bad Kissingen, der ihr immerhin drei Reiseberichte wert ist, geht es über Thüringen, wo sie in Weimar die Wohnstätten von Wieland, Schiller und Goethe besucht, schließlich von Leipzig aus mit der Eisenbahn nach Berlin. Hier stehen Museums- und Opernbesuche auf ihrem Programm. Anschließend vom preußischen Berlin ins sächsische Dresden, wo man trotz Sommerhitze fast einen Monat bleibt. Den Abschluss der Reise bildet schließlich Prag. Im Gegensatz zu Italien, das für Shelley fast eine zweite Heimat war, bedeutet Deutschland für sie mehr oder weniger Neuland. So beschränkt sie sich zumeist auf Erlebtes und hält sich mit Urteilen weitgehend zurück, was den Stellenwert der Briefe aber in keiner Weise schmälert, die vergnüglich zu lesen und mit Charme geschrieben sind. Allein die Landschaftsbeschreibungen lohnen die Lektüre und man darf auf den zweiten Band gespannt sein, der dann die 1842er-Reise weiter nach Italien und die Reiseerlebnisse des Jahres 1843 dokumentieren wird.

Darüber hinaus kommen Shelleys „Streifzüge“ mit einer sehr ansprechenden Ausgabe daher –  etwa durch das etwas stärkere Papier, einen verlockenden Einband und vor allem mit zahlreichen zeitgenössischen Farbabbildungen (meist ganz- und doppelseitig). Außerdem geben eine Einführung (von der Übersetzerin Nadine Erler) und ein Nachwort (von Rebecca Rohleder) einen kompakten und kenntnisreichen Einblick in Leben und Werk von Mary Shelley, die ja vorrangig als Frankenstein-Autorin bekannt ist. Ihre Reisebeschreibungen stehen ihren literarischen Werken aber in keiner Weise nach. Und so darf sich der Leser durchaus als Adressat dieser Reisebriefe fühlen.

Titelbild

Mary Shelley: Streifzüge durch Deutschland und Italien. In den Jahren 1840, 1842 und 1843 – Band Eins.
Mit einem Nachwort von Rebekka Rohleder.
Übersetzt aus dem Englischen und mit einem Vorwort versehen von Nadine Erler.
Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2017.
251 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783737407427

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