Auf zu neuen Ufern!

Rudolf Simek nimmt uns mit ins gelobte Vinland

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vinland geistert seit fast 1.000 Jahren als gelobtes Land durch die Köpfe der Gelehrten, (Hobby-)Archäologen und (Hobby-)Wikinger. Dabei handelt es sich bei Vinland, zusammen mit Markland und Helluland, um den Teil des nordamerikanischen Kontinents, der von den europäischen Siedlern auf Island und Grönland zum ersten Mal gesichtet und betreten wurde. Im Gegensatz zu Helluland und Markland entwickelte sich aber seit dem Mittelalter ein regelrechter Mythos um Vinland, das oft als paradiesisches Land angesehen wurde. Dieser Mythos wurde umso mehr genährt, als dass man keinen Beweis für die Existenz von Vinland und auch keinerlei Spuren einer europäischen Besiedlung vor Kolumbus (oder auch nur eines Aufenthalts) in Nordamerika fand.

Als man in den 1960er Jahren die Siedlung L’Anse aux Meadows an der äußersten Nordostspitze Neufundlands entdeckte, schien die Sensation, dass die Wikinger Amerika entdeckt hatten, und zwar etwa 500 Jahre vor Kolumbus, perfekt. Dabei war denen, die man gerne als Wikinger bezeichnet – der Begriff umfasst unterschiedliche Personengruppen aus Skandinavien –, vermutlich gar nicht bewusst, dass sie einen neuen Kontinent betraten. Die ‚Entdeckerehre‘ gehört sowieso jenen, die tausende Jahre sowohl vor Kolumbus als auch vor den Wikingern zuerst amerikanischen Boden betraten – der indigenen Bevölkerung Amerikas.

Aus diesen Gründen versieht Rudolf Simek seinen kurzen und knappen Buchtitel „Vinland!“ auch mit einem Ausrufezeichen und schließt den eher kritisch wirkenden Untertitel „Wie die Wikinger Amerika entdeckten“ an. Dabei gestaltet Simek den Streifzug durch das frühmittelalterliche Europa und besonders Skandinavien ebenso unterhaltsam wie informativ. Innerhalb von elf Kapiteln nimmt er den Leser mit zu den Ausgrabungen von L’Anse aux Meadows und stellt das Forscherehepaar Helge und Anne Ingstad vor, die die Siedlung in Neufundland entdeckten. Er unternimmt einen Spaziergang durch verschiedene isländische Sagas, die sich mit Vinland und der Entdeckung von neuem Land beschäftigen. Außerdem segelt (und rudert) Simek auf einem Drachenschiff quer durch Europa, ein Schiffstyp, mit dem die Wikinger ihre Erkundungs-, Handels- und Plünderfahrten unternahmen, und er taucht ein in die Rezeption der Entdeckung von Vinland, die zum Teil kuriose Blüten getrieben hat. So beschäftigt Simek sich im letzten Kapitel mit den sogenannten Viking hoaxes, gefälschte Fundstücke der skandinavischen Kultur, die sich unter anderem in Minnesota finden lassen.  

Illustriert werden die Streifzüge des Autors von knapp zwei Dutzend Schwarz-Weiß-Abbildungen, darunter hauptsächlich Karten, aber auch Fotografien und schematische Darstellungen, die das Weltbild der Wikinger erläutern, das Drachenschiff über die Seiten segeln lassen und eindrucksvoll vor Augen führen, wie wichtig und wertvoll Schiffe für die frühmittelalterlichen Weltenbummler waren, kamen sie doch mit ihnen nicht nur bis auf den nordamerikanischen Kontinent, sondern auch bis Byzanz und darüber hinaus. Dabei geht es Simek nicht unbedingt darum, die Wikinger als sympathische Abenteurer darzustellen, vielmehr zeigt er anhand der Sagas auf, wie die frühmittelalterliche Gesellschaft Skandinaviens funktionierte und dass dort manchmal, aber nicht immer, raue Sitten geherrscht haben dürften.

Das enorme Wissen, das in diesen übersichtlichen Band eingeflossen ist, schlägt mühelos die Brücke zwischen verschiedenen Disziplinen wie Nordistik, Archäologie und Kulturwissenschaft, ohne dabei den Leser zu überfordern. Im Gegenteil beweist Simek, dass eine unterhaltsame und vergnügliche Lektüre sehr wohl Hand in Hand gehen kann mit fundiertem Fachwissen. Nur zwei kleine Kritikpunkte sind anzuführen: Im zweiten Teil finden sich viele Karten, die illustrieren, wo Vinland angeblich liegt – hier haben mittelalterliche Gelehrte ihrer Fantasie scheinbar freien Lauf gelassen. Diese Abbildungen sind nicht unbedingt immer gut in den Text eingegliedert, sodass manchmal ein Verweis hilfreich wäre. Der zweite Punkt ist, dass sich manche Textzitate aus den isländischen Sagas, die sich mit Vinland auseinandersetzen, zwangsläufig wiederholen und so ein leicht repetitiver Eindruck entsteht.

Der Anhang, der dem Band beigegeben ist, beinhaltet ein sehr übersichtliches und gut in Orts- und Personennamen gegliedertes Vinland-Lexikon, das das Material aus den Sagas aufarbeitet und die Verflechtungen der einzelnen Personen miteinander sehr deutlich aufzeigt. Hinzu kommen ein kurzer Anmerkungsapparat und ein hilfreiches Literaturverzeichnis. Nachdem dem Leser bereits etliche Ausschnitte aus den Sagas der Isländer begegnet sind und man nun Lust verspürt, sich in diese Literatur weiter zu vertiefen, muss man allerdings mit Enttäuschung feststellen, dass brauchbare Ausgaben der sogenannten Vinland-Sagas schon lange vergriffen sind.

Insgesamt ist der schmale Band „Vinland!“ eine Freude für die, die sich für die Wikinger interessieren oder die Geschichte Europas spannend finden, aber auch für diejenigen Leser, die sich mit dem Thema bis jetzt noch nicht auseinandergesetzt haben und deren Wissen über Vinland eher vages Hörensagen ist; zum Verständnis und Lesevergnügen ist es nebensächlich, ob man bereits einige Vorkenntnisse besitzt oder einen Einstieg sucht in den Vinland-Mythos und die Lebenswelt des frühen Mittelalters in Skandinavien. Simek schafft es nämlich, gekonnt den Bogen von der Archäologie über die Geschichtswissenschaft zur Literatur- und Kulturwissenschaft zu spannen, und so ist für jeden Leser etwas Neues und Interessantes zu finden. Einem vergnüglichen Lesenachmittag, bei dem man viel erfährt und lernt, steht also nichts im Wege. Mit diesem Band, der auf unterhaltsame Art und mit großer Sachkenntnis ein Thema behandelt, das ähnlich wie Avalon, Atlantis oder Thule oftmals verschwörungstheoretische Blüten getrieben hat, liegt nun eine fundierte Abhandlung vor, die sehr zu empfehlen ist. 

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Rudolf Simek: Vinland! Wie die Wikinger Amerika entdeckten.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
160 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406697203

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