Reich der Lichter und der Dunkelheit

Peter Stamm begibt sich in „Wenn es dunkel wird“ auf eine Gratwanderung zwischen Alltag und Absurdität

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Polizistin sucht in den Schweizer Bergen nach einer Frau und zwei Kindern. Sie stellt Erkundigungen im Dorf an, wo jeder von der Frau und den Kindern gehört hat, aber niemand Konkretes weiß. Sie sieht sich in der verlassenen Hütte um, in der sie selbst aufgewachsen ist, weil dort wieder Rauch aus dem Schornstein gekommen sein soll. Und sie erinnert sich an ihre eigene Kindheit, daran, wie ihr Bruder eines Tages nicht aus den Bergen zurückgekehrt ist. So beginnt Wenn es dunkel wird aus Peter Stamms gleichnamigen Kurzgeschichtenband.

Was der Anfang eines guten Krimis sein könnte, nimmt aber eine ganz andere Wendung. Obwohl sich die gesuchte Frau der Polizistin bald wortlos auf einem Streifzug durch die Gegend anschließt, wird danach alles noch undurchsichtiger, statt sich aufzuklären: Leben die Kinder noch? Gibt es sie überhaupt? Ist die Polizistin Ermittlerin in einem Kriminalfall oder auf unerklärliche Weise in das Trauma ihrer eigenen Vergangenheit zurückversetzt? Denn wie ließe sich sonst erklären, dass sie sich abends zum Schlafen wie ein Kind auf die Frau legt?

Statt Licht ins Dunkle zu bringen, wird die Figur der Polizistin im Verlauf der Geschichte selbst immer rätselhafter. Als sie am Ende ins Gebirge aufbricht, geht es nicht mehr um die Rettung der vermissten Kinder, sondern darum, den lange verschollenen eigenen Bruder zu finden. Gegenwart und Vergangenheit sind untrennbar miteinander verschmolzen. Was Realität ist und was Halluzination einer traumatisierten Ich-Erzählerin, bleibt offen.

Die Polizistin ist zusammen mit einem Gast im Dolder Grand in Zürich, von dem die letzte Geschichte handelt, die außergewöhnlichste Figur des Bandes. Die übrigen fallen eher durch ihre Unauffälligkeit auf: Zu ihnen gehören ein Werbetexter, eine Krankenschwester und ein Azubi. Genauso unscheinbar beginnen auch die meisten Geschichten: in einer Kneipe, auf dem Weg zum Aufzug im Büro, bei einem Stopp an einer Autobahnraststätte. Oder, etwas exotischer, bei einer Stadtführung in Barcelona, in einer Hotellobby und beim Modellstehen in einem Atelier.

Aber selbst der Hotelgast im Züricher Luxushotel ist eine nahbare Figur: Er hat sich verzockt und steht vor dem Ruin. Damit ihn die Realität nicht einholt, nimmt er bald keine Anrufe mehr an und verbarrikadiert sich in seinem Zimmer. Solche, oft zunächst kleinen, Störungen des gewohnten Gangs der Dinge stoßen die Handlung an. Sie sind alltäglich, deshalb aber nicht weniger ernst: Die Figuren erleben Streit, Eifersucht, Selbstzweifel und Ausgrenzung.

Allmählich allerdings, und das zeichnet Peter Stamms Schreiben aus, kommt es zu einer Veränderung: Die Probleme beginnen, groteske Züge anzunehmen, die Figuren verlieren sich immer mehr in ihnen. Zwar enden nicht alle Geschichten im Ungewissen wie die der Polizistin. In manchen ist am Ende alles wieder so, als wäre nichts passiert. Was sich aber wie ein roter Faden durch den Band zieht, ist das Tagtraumartige, Groteske oder Absurde, das sich zwischenzeitlich abspielt.

Elf Erzählungen hat Peter Stamm in Wenn es dunkel wird zusammengetragen. Sie sind Zerrbilder psychischer und sozialer Abgründe, mit denen wir täglich kämpfen, die uns aber mit der Zeit gefährlich vertraut werden können. Peter Stamm entkleidet sie ihrer Vertrautheit. Er verleiht ihnen überlebensgroße Dimensionen, lässt sie zu existenziellen Bedrohungen heranwachsen. Als Tagträume und übernatürliche Ereignisse vereinnahmen sie die Welt der Figuren – und lenken auch unsere Aufmerksamkeit beim Lesen unumgänglich auf sie.

Die Ergebnisse dieser literarischen Verwandlungen sind vor allem eins: sehr spannend. Schon deshalb, weil Stamm in allen ein faszinierend realitätsnahes, aber nicht erzwungen realistisches Setting schafft, und Figuren (viele von ihnen weiblich), die durch die Reihe glaubwürdig sind. Richtig spannend wird es dann natürlich, wenn sich der Mechanismus der Verfremdung in Gang setzt und sich diese scheinbar vertraute Welt zu verwandeln beginnt. Und spannend ist es schließlich auch, über den Sinn der Geschichten nachzudenken, sie ein zweites Mal zu lesen und in Gedanken ‚übereinanderzulegen‘.

Bei dieser Denkübung entpuppt sich Peter Stamms Schreiben als literarische Gratwanderung. Er kokettiert mit konventionellen Formen, die er dann immer wieder ins Irreale abgleiten lässt. Darin steckt aber nicht bloß eine postmodernistische Pointe; die Geschichten sollen keine Demontagen sein. In allen steht am Ende das ernste Anliegen des Autors, uns eine neue Perspektive auf unser Leben und Zusammenleben zu eröffnen.

Auf dem Umschlag von Wenn es dunkel wird ist René Magrittes Reich der Lichter abgebildet und wie in Magrittes Gemälde ist es auch in Peter Stamms Erzählungen gleichzeitig Tag und Nacht, lassen sich Sein und Schein nicht mehr voneinander trennen. Peter Stamms Experimente mit dem Traumartigen und Absurden kann man allesamt als geglückt bezeichnen. Seine Kurzgeschichten zeigen, wie surrealistisches Schreiben im 21. Jahrhundert aussehen kann.

Titelbild

Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
204 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783100022264

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