Liebelei mit Hindernissen

Die 1960er-Jahre lassen Tiny Stricker nicht los

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Woche „Skilager“ in den österreichischen Bergen – für viele Knaben und Mädchen aus Süddeutschland gehörte das unbedingt zum achten oder neunten Schuljahr dazu. Die Sportbegeisterten freuten sich, andere nahmen es scheinbar ungerührt hin. Manche hatten ein bisschen Angst davor, weil sie ahnten, was sie erwarten würde – der Ich-Erzähler in Tiny Strickers jüngstem Werk zum Beispiel. Wie der Autor gleich zu Beginn des Buchs diesen unglückseligen Skikurs schildert, ist großartig. Ein wenig sympathischer Sportlehrer, ein autoritärer Hüttenwirt und ein Bus voller Engländerinnen verkomplizieren das eh schon stressige Schülerleben. Allerdings, einen die Handlung vorantreibenden Lichtblick gibt es auch: „Sie hieß Catherine, wie eine lange, grazile Bewegung im Raum …“.

Dass wir uns in den frühen 1960er-Jahren befinden, machen schon die locker in den Text gestreuten Abbildungen klar – Schallplattencovers, von Ray Charles über die Kinks oder Procul Harum bis Jimi Hendrix. Die frühe Pop-Musik bildet das Hintergrundrauschen des hier Erzählten, das die Freuden, Sorgen und Nöte der damals Heranwachsenden ganz wunderbar einfängt. Von Catherine und ihrer Familie eingeladen, gelangt der Schüler aus der schwäbischen Provinz tatsächlich in die Weltstadt London. Das Leben kann auch dort ganz schön spießig sein – aber es findet eben mitten im „Swinging London“ statt, der damals geradezu explodierenden Metropole eines neuen Lebensstils. „Alles schien jetzt beweglich und leicht möglich zu sein“. Die Kinos, die Musikkneipen, die U-Bahn und das öffentliche Leben der Weltstadt überhaupt werden beglückend lebendig. Rocker, Mods und andere Typen geistern durch die Buchseiten, aber auch ganz normale, in ihren Alltagsgewohnheiten und Skurrilitäten detailliert und bildstark beschriebene Einheimische. Sprachliche Missverständnisse gibt es, befremdliche Ess- und Trinksitten auch. Mit alledem kann der etwas schüchterne Kleinstädter einigermaßen umgehen. Die rätselhafte Sphäre der Mädchen aber überfordert ihn immer wieder: superkurze Röcke, grelles Make-Up und aufreizende Parfums auf der einen, ängstliche Unsicherheiten, überraschende Stimmungsumschwünge und ärgerliche Hemmungen auf der anderen Seite. Es ist ein langer Weg bis zu den ersten ungeschickten Küssen.

Das pulsierende Lebensgefühl von Teenagern der damaligen Zeit, ihre Euphorie und ihren Blues, ihre manchmal kurios anmutende Aufmüpfigkeit gegen die Welt der Eltern und der Lehrer und ihre kaum zu bändigende Sehnsucht nach Sprengung aller sie hindernden Ketten – Tiny Stricker schildert das alles intensiv und eindringlich. Der in München lebende Autor, der sich als junger Mann in den Blumenkinder-Hotspots zwischen Essaouira und Chittagong herumgetrieben hat und den man heute den seriösesten Hippie aller Zeiten nennen darf, hat sein umfangreiches erzählerisches Werk um einen liebens- und lesenswerten Prosa-Edelstein bereichert. Yeah! Yeah! Yeah!  

Titelbild

Tiny Stricker: London, Pop und frühe Liebe.
p.machinery, Winnert 2022.
131 Seiten , 23,90 EUR.
ISBN-13: 9783957652997

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch