„Anders als das Leben ist der Tod eine einfache Sache“

Heinz Strunk behandelt in „Zauberberg 2“ Körperliches und Allzu-Seelisches

Von Dennis BorghardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dennis Borghardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Allein Titel und Buchcover von Heinz Strunks neuem Roman ließen die Dekonstruktion eines fest inventarisierten deutschen Großschriftstellers erwarten. Mit Zauberberg 2 verhält es sich nun aber etwas anders. Der Text erweist sich als eine gebrochene Hommage, die auf verschiedenen Ebenen funktioniert. Heinz Strunk versetzt das Spital in die Nähe der Ostsee, lässt seinen Protagonisten nur selten dem profanen Diesseits entrücken (eher sich in dieses regelrecht eingraben) und verwandelt die im Zauberberg noch intellektuell profilierten Mentoren zu schieren Leidensgenossen mit zutiefst pessimistischer Weltsicht. Wenn sich nun pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum des Mann’schen Monumentalwerks Zauberberg 2 als eine Transponierung in die Gegenwart begreifen lässt, fügt sich dies einerseits in den Trend, dass sanatorische Themen in jüngerer Zeit ein gesteigertes Interesse erfahren; zum anderen waren auch schon beim Vorgänger Ein Sommer in Niendorf (2022) lose Anverwandlungen des Klassikers Der Tod in Venedig erkennbar.

Im Zentrum steht der bereits mit Anfang Dreißig zum vermögenden Privatier gewordene, ehemalige Startup-Unternehmer und Erfinder Jonas Heidbrink. Aufgrund einer Erkrankung, die in der Postmoderne gern als Depressionen und Angststörungen subsumierende ‚Sinnkrise‘ bezeichnet wird, lässt er sich in einer Luxus-Heilanstalt behandeln, die in einem einstigen Schloss untergebracht ist; inmitten einer Sumpf- und Waldlandschaft soll hier eine Abschottung von der Außenwelt gelingen, um die gemütskranken Zustände des verzweifelten „Kindergreis[es]“ zu therapieren. Neben einigen Anspielungen auf die figuralen Vorlagen Manns – die von den Arztpersonen über die Patient*innen bis hin zu deren Angehörigen reichen – ist es vor allem die Vielfalt an Textformen, die auch Leser*innen jenseits der Fangemeinde Vergnügen bereiten dürfte. Sie reichen von Messprotokollen der Vitalwerte über Zitate aus Songs und Volksliedern bis hin zum Gebet (bzw. zu deren Kontrafakturen). Mitpatient Bernhard Zeissner lässt Anleihen an Settembrini und Peeperkorn erkennen, während sich die therapeutischen Maßnahmen in Form von Musik-, Foto-, Gesprächs-, Schreib-, Turn- und Tanzgruppen mit (Falsch-)Diagnosen von Leber-, Haut- und Nierenkrebs abwechseln. Über all dem schwebt, gleichsam als Leitthema, die schicksalhafte Bestimmung des Lebens zu Verfall und Tod hin – eben „Un-er-bitt-lich-keiten“.

Ein Vergnügen (nicht nur) für die Strunk-Community sind die zahlreichen Selbstreferenzen: Wenn in den Gruppenszenen Texte und Kreativarbeiten diskutiert und Turnübungen veranstaltet werden, ruft dies teils Figurendynamiken aus der Ferienfreizeit in Fleckenteufel (2009) auf; wenn von Heidbrink und dem Mitpatienten Klaus Wimmer (sprechende Namen sind hier wie bei Thomas Mann Programm) zum achtzigsten Geburtstag ein spontanes Trinkgelage veranstaltet wird, fühlt man sich an kurios-sympotische Szenen zwischen Roth, Breda und den Klippsteins aus Ein Sommer in Niendorf erinnert; das Lamento über den fortschreitenden Verfallsprozess des Lebens knüpft wiederum an Grundtaxonomien aus Das Teemännchen (2018) an, die wesentlich auf den beiden Dimensionen Körpergewicht (hoch = schlecht) und Alter (hoch = schlecht) aufruhen; auch das bisweilen melancholische Eintauchen in Familienbiographien ist im literarischen Gedächtnis des Gesamtwerks, etwa in Junge rettet Freund aus Teich (2013), fest verankert; zudem erinnern Zeissners gnomische Einlassungen, „Kalenderweisheiten für die gehobenen Stände“, die er bevorzugt zu den Themen Leben, Tod und Vergänglichkeit verbreitet, an manche Fokussierung auf Bonmots oder ‚Generalmotti‘ aus Nach Notat zu Bett (2019). Neben einem solchen Wandeln durch Motive des eigenen Werks tritt die wohl wichtigste Referenz indes im vorletzten Kapitel Kirgisenträume hervor, wenn dort teils wörtliche, teils abgewandelte Zitate aus dem Zauberberg (mitsamt Quellenangaben im Anhang) zu einer Collage gefügt werden, welche allerdings etwas bemüht wirkt und die Handlung eher retardieren lässt, als ihr entscheidende Impulse zu geben. Stärker ist der Text dort, wo er seinen eigenen literarischen Maßstäben folgt: Strunks großartiger Sinn für sozio- und dialektische Feinheiten – der ihn mit Mann durchaus eint – entfaltet sich praktisch durchgängig, ohne ins allzu Milieustudienhafte abzudriften; seine Figurenstimmen, die von ihren Biographien – das heißt vor allem: ihrem Unglück und ihrer (vermeintlichen) Schuld daran – erzählen, richten sich zusehends im Dysfunktionalen ein und sind an therapeutischen Versuchen, wie es oftmals scheint, nur oberflächlich interessiert. Die damit einhergehende Grundsatzentscheidung, die Erzählstimme mit unterschiedlichen Subjektivitätsgraden einzufärben, lässt die Techniken von Vergleich und Metapher zwischen objektivem Maßstab und figuralem Erleben changieren und macht gerade hierdurch die Lektüre reizvoll.

Bei alledem ist, wieder einmal, die Beschreibung von Körpern bzw. von Körperlichkeit einer der größten Vorzüge des Textes. Den Leser*innen wird ein schier unerschöpfliches Reservoir an Bildwelten präsentiert, das – selbst im Kontext solcher Vorläufer wie Fleckenteufel und Das Teemännchen – die Uneigentlichkeit des Sprechens zur Eigentlichkeit erhebt. Zudem werden die Bilder, gerade im Vergleich mit den genannten Texten, mit neuen Deutungsebenen versehen: Einerseits werden Körper, Geist und Seele immer wieder – und durchaus im Sinn eines melancholischen Begehrens nach Zusammengehörigkeit – eng aufeinander bezogen, um dann regelmäßig in Fremd- und Selbstekel zurückzufallen; andererseits wollen Körper, Seele und Geist eben auch einfach nicht zusammenpassen – und wenn, dann nur über den Umweg von sich durch den ganzen Sinnesapparat wühlenden Katachresen. So sind die Turnübungen in den Gruppen durchaus mit Anstrengungen verbunden – das heißt vor allem, der „Kopf dampft wie ein Blumenkohl im Schnellkochtopf“; ein als „Birnenfresser“ titulierter Mitpatient macht sich akustisch im Speisesaal dadurch vernehmbar, dass „[e]s klingt, als fräße er Geröll, ein Bagger, der sich durch einen Steinbruch beißt“, und der „Geruch von zehntausend Vergeblichkeiten“ entfaltet gerade im Kontext der Frage nach der Sinnhaftigkeit (oder besser -losigkeit) des Daseins einen abgründigen Glanz. Der Charakterisierung einer Figur entspricht die symbolträchtige Beschreibung ihrer Gliedmaßen und Organe – mit in der Regel zur Erde hin gravitierendem Schwerpunkt, worin sie sich mit der unglücklich inkorporierten Seele dann doch einig ist. Sollte einmal so etwas wie ‚Erhöhung‘ gelingen, dann nur durch einen Hochsitz im nahegelegenen Wald; durch das Aufsuchen dieses Jägerstandes kann Heidbrink sich der allgegenwärtigen Lakonie der Klinik temporär entziehen – selbstredend nur dann, wenn sich nicht gerade „Aale […] in seinem Bauch“ winden.

Auch Religion darf in dieser Lage nicht fehlen – wenn etwa im Kapitel Die Zeitmaschine die „Stunde der Gebete“ schlägt, da die Religion nunmehr „ihre Chance gewittert“ habe; aber auch hier wird eine unio mystica lediglich zur weiteren körperlichen und seelischen Pein Heidbrinks, denn „jetzt schwillt der Glaube in seinem Kopf an wie ein Tumor“; er wird, mehr noch, von seinen religiösen Empfindungen „geschüttelt wie von einem epileptischen Anfall“; der spirituelle Exkurs endet somit in einer weiteren Aporie, und die Determiniertheit des Menschen zu Asche und Staub bleibt als letzter Fluchtpunkt unhintergehbar. Fügt sich all dies nun in einen schlichten Nihilismus, in eine das Diesseits und Jenseits gleichermaßen verachtende Haltung? Hierauf könnte man mit Blick auf Krankheits-, Verfalls- und biographisches Erzählen mehr Antworten geben, als es auf den ersten Blick scheint. Während Mitpatient Klaus Wimmer sich wortreich der Gottlosigkeit der Welt überantwortet, versetzt Heidbrink sich in einen – natürlich scheiternden – Dialog mit Gott:

Bitte vergib mir, dass ich so bin, wie du mich geschaffen hast. Gib mir ein Zeichen, hoher Herr, lass den Heiligen Geist mich berühren. NEIN. Wirst du mir helfen? KEINE ZEIT, KEINE LUST. Wirst du mich retten? GEHT NICHT.

Der Versuch, in einer Poetik des Trostlosen so etwas wie Trost zu finden, lässt schließlich doch zaghafte Entrückungen zu, um dann gleich wieder mit der Tristesse rückgekoppelt zu werden: „Die Zeit verlangsamt sich. Der Raum verschwindet. Herr Rolff verschwindet. Der Augenblick nach dem Finale verharrt in der Schwebe, bis der einzige Zuschauer applaudiert.“ Eine vage Öffnung hin zu einer transzendenten Ebene deutet auch das Schlussmotiv des Schwimmens ins offene Meer an. Dieses findet sich bereits ähnlich in Rocko Schamonis Fünf Löcher im Himmel (2014), dem Zauberberg 2 offenbar auch gewidmet ist. Strunk dekonstruiert nicht seinen Protagonisten (das schafft dieser von allein), vielmehr lässt er am Ende die Klinik, die sich dem finanziellen Ruin nähert, gleichsam kollabieren.

Auch wenn manche Radikalität in der Darstellung wahrscheinlich nicht auf ungeteilte Zustimmung des Lesepublikums trifft, auch wenn eine kurz vor Schluss angerissene Kriminalgeschichte bestenfalls im Ungefähren verharrt, und auch wenn das Dauerlamento über eine fast vollständig negativ besetzte Körperlichkeit, aufs ganze Œuvre bezogen, vielleicht nicht mehr ganz überraschend daherkommt, ist Zauberberg 2 ein Buch, das als ein Vergnügen im Unvergnüglichen auf jeder Seite zitiert werden möchte. Es kann zu den hervorragendsten Texten eines der ohnehin besten deutschen Autoren der letzten drei Jahrzehnte gezählt werden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Heinz Strunk: Zauberberg 2.
Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.
288 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783498007119

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