Ein Freund, ein guter Freund
Denise Theßeling stellt aus literaturgeschichtlichen und soziologischen Perspektiven die „Pluralisation von Freundschaftssemantiken“ in höfischen Romanen vor
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseTrotz (oder vielleicht gerade wegen) der kohortenstarken ‚Freundschaften‘ in den sozialen Netzwerken ist das Bedürfnis nach echten freundschaftlichen Beziehungen zu echten Menschen immer noch genauso stark, wie es seit Urzeiten der Fall ist. Ein sicherlich wesentlicher Unterschied zur Postmoderne westlicher Prägung liegt darin, dass von der Stärke und Belastbarkeit einer Freundschaft früher im Extremfall das eigene Leben abhängen konnte. Derlei existenziellen Bewährungsproben sind die Freundschaftsbande unserer Zeit und in hiesigen Hemisphären glücklicherweise zwar eher nicht mehr ausgesetzt, im archetypischen Sinne aber gehört auch das Durchstehen extremer Belastungssituationen zum Grundgedanken einer ‚echten‘ Freundschaft.
Der vorliegende Band Verschwiegene Vertraute – Idealer Gefährte – Prekäre Gemeinschaft von Denise Theßeling untersucht das literarische Phänomen von Freundschaft und die damit verknüpften Assoziationen wie Funktionen etwa im Sinne verlässlicher Sozialbeziehungen. Im Fokus stehen dabei höfische Romane des hohen Mittelalters wie Gottfrieds von Straßburg Tristan, Hartmanns von Aue Erec und Iwein sowie der anonym überlieferte Prosalancelot. Die eigentliche textanalytisch-literaturwissenschaftliche Herangehensweise wird insofern durch eine soziologische Basis gestützt, als axiomatisch davon ausgegangen wird, dass stabile und verlässliche Sozialbeziehungen über Kommunikationsstrukturen generiert werden. Die Metastruktur, innerhalb derer Theßeling ihre Überlegungen im Rahmen der gestrafften und überarbeiteten Version ihrer 2018 an der Technischen Universität Dresden eingereichten Dissertation entwirft und in den literaturwissenschaftlichen Blick nimmt, ist durch systemtheoretische Überlegungen Niklas Luhmanns, aber auch die Kapital- und Habitustheorie Pierre Bourdieus definiert. Im Rahmen dieses Inertialsystems werden stabilisierende wie destabilisierende Aspekte (literarischer) Freundschaftsbeziehungen vorgestellt.
Den Anfang bilden literarische ‚Basics‘. Theßeling geht hier laut Überschrift zunächst auf den Aspekt narrativer Struktur(en) im Artus-, Tristan- sowie Lancelotroman ein, deren höfische Ebene eine gewisse Metastruktur generiert. Warum der Lancelot, der ja durchaus in den Artuskreis gehört, hier extra aufgelistet ist, erschließt sich nicht – eventuell wegen der anonymen Autorenschaft, oder vielleicht erschien die Dreier-Gliederung symmetrischer? Die Trias wird indes nicht durchgehalten: Im weiteren Fließtext taucht prominent die Paarung Artus-Roman und Tristan-Roman auf, was auch stimmiger ist.
Die einleitenden Gedanken verweisen bereits auf den weiteren Weg, indem hier Durchgehendes, aber eben auch Brüche mit Hinweis auf das Instrument der Variation bereits angesprochen werden. Denn ein wesentlicher Aspekt liegt, so die Autorin, in einem grundsätzlichen Element der Dynamik: „Variieren können also thematische Konzepte in Bezug auf die Konstruktion von Minne und Ehe sowie die Konstruktion von Identität. Damit zusammenhängend können narrative Strukturprinzipien hinsichtlich der Interferenzen höfischer Normen variieren.“ Diese Beobachtung beziehungsweise vorgehensrelevante Schlussfolgerung ist zwar weder überraschend noch wirklich neu, bietet jedoch eine Basis, von der aus weiter vorgegangen und argumentiert werden wird. Dies klingt auch in dem knappen Überblick zum Stand der Forschung an, in dem wesentliche Positionen paraphrasiert und mögliche Ansatzpunkte zur Diskussion skizziert sind.
Auf den folgenden knapp 50 Seiten werden Grundbedingungen der Freundschaft in den Blick genommen, wobei – für eine klassische literaturwissenschaftliche Arbeit nicht unbedingt alltäglich – mit Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu zwei prägende Vertreter der gegenwärtigen Soziologie herangezogen werden. Dabei räumt Theßeling ein, dass dem Komplex ‚Freundschaft‘ im Luhmann’schen Universum eine gewisse Uneindeutigkeit zukommt, vielleicht auch, weil er gegenüber der Liebe weniger prominent thematisiert wird. Und so wird Folgendes einsichtig erscheinen: „In Bezug auf die Historisierbarkeit des Phänomens Freundschaft […] bildet Freundschaft vor allem ein ‚Übergangsphänomen‘, denn Freundschaft als kommunikativer Code muss auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren.“ Mit diesem Verweis auf den kommunikativen Aspekt schlägt die Autorin zumindest implizit die Brücke zur Literaturwissenschaft.
Nach einem exkursiven Blick auf die Freundschafts-Parameter der Vormoderne wird auf Bourdieu zurückgegriffen, der die Aspekte des Strukturalen und der Vernetztheit dieses nur scheinbar rein dualistischen Phänomens thematisiert hatte. Demnach übernimmt „Freundschaft als eine Praktik des Sozialen betrachtet, […] damit die Funktion eines Wertes im Feld sozialer Vernetzung“. Diese grundsätzlichen Fixseile, anhand derer die weiteren Überlegungen vollzogen werden, wurden auf die eine oder andere Weise bereits in der Literaturwissenschaft auch hinsichtlich höfischer Epik des Mittelalters benutzt. Dies räumt die Autorin auch ein, will das bisher Gesagte jedoch hinterfragen und dabei um den Aspekt weiblicher Freundschaftsstrukturen erweitern.
Dementsprechend widmet sich der folgende Komplex dem Feld „Stabilisierung der Gesellschaft – Freundschaft als Problemlösungsstrategie“ und es erfolgt ein erneuter Rückgriff auf Luhmann, der diese Funktion jedoch explizit dem Bereich ‚Liebe‘ zugeschrieben hatte. Aber: „Freundschaft als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ist […] ebenfalls in der Lage, eine semantische Leerstelle zu füllen, die durch das erhöhte Vernetzungspotential in den Narrationen aufgetreten ist. Verbindlichkeiten und dauerhafte stabile Bindungen werden nicht mehr ausschließlich durch Verwandtschaft generiert.“
Trotz der auf soziale Vernetzung abhebenden Argumentationsgrundlagen werden zunächst klassische Freundschaftspaare in den Blick genommen: Erec und Guivreiz etwa, deren Freundschaft das Ergebnis eines anfänglich erbitterten Zweikampfes ist, Iwein und Gawain, die bereits vor ihrer Zeit als Artusritter befreundet sind und deren Beziehung durch ritterlichen Wettbewerb einerseits immer wieder Züge der Ambivalenz annimmt, andererseits aber auch bestärkt wird, oder Lancelot und Bandemagus, deren Freundschaft soziale Differenzen zu überwinden vermag.
Diesen „adeligen Gruppenbildungen“ (so die Binnenüberschrift) folgt mit Laudine und Lunete sowie Iwein und Lunete die Untersuchung von „Freundschaft als Stabilisierungsfaktor von Herrschaft und Ehe“. Bemerkenswert die Inblicknahme der Paarung Laudine–Lunete, in der sich die Untersuchung des Momentes weiblicher Freundschaft ankündigt, die anschließend noch eingehender erfolgen wird, und in der diese freundschaftliche Konstellation die soziale Asymmetrie zwischen Herrin und Dienerin – zumindest temporär und wohl auch nicht vollumfänglich – überwindet. Freundschaft ist nach der textanalytischen Auffassung der Autorin oft weniger tragend als andere gesellschaftliche Bindungsparameter, denn „dieser Modus einer sozialen Nahbeziehung gerät nicht in Konflikt mit der Liebe, weil sie [die Nahbeziehung?] die Freundschaft nicht totalisiert, sondern eher als einen rationalen kommunikativen Akt auf ein Ziel gerichtet betrachtet“.
Diese wenig romantische Fundamentierung von Freundschaft scheint bedingt auch für die weiteren in dieser Untersuchung herangezogenen weiblichen Freundschaftspaare vorzuliegen. Königin Ginover und die Frau von Malot etwa finden trotz, möglicherweise auch wegen, ihrer jeweiligen Liebe zu Lancelot zusammen; Konkurrenz und Empathie scheinen sich demnach nicht auszuschließen. Noch komplexer und wiederum durch Unterschiede im sozialen Status gekennzeichnet ist die zeitverschobene eigentliche Trias zwischen den beiden Isolden und der Dienerin Brangäne. Hier kommen unwissentlich auf sich geladene Schuld, der zum Scheitern verurteilte Versuch, den Fehler wieder auszugleichen, sowie unerfüllbare Sehnsüchte zu einem hochkomplexen System sozialer Nahbeziehung zusammen. Erkennbar, so Denise Theßeling, seien hier „zwei semantische Modulationen: Die Semantik aus dem Bereich der institutionellen Freundschaft wird dadurch in einen neuen Kontext gestellt, sodass Freundschaft zwar noch einen Bestandteil des politischen Herrschaftssystems bildet, sich aber innerhalb einer affektiv aufgeladenen Beziehung ihrer rechtsgültigen Norm entledigt und in einen anderen sozialen Kontext übertragen wird“.
Freundschaft – zumindest in den höfischen Romanen – kann nach dem Bisherigen formale wie auch nicht formale Stabilität generieren. Dem Phänomen, dass es in der Literatur wie im wirklichen Leben aber auch toxische Freundschaften gibt, geht die Autorin im folgenden Themenschwerpunkt „Destabilisierung von Gesellschaft – Freundschaft als Problem“ nach. Während die Tragik der Freundschaft zwischen König Marke und seinem Neffen Tristan recht früh angesichts der durch den versehentlich genossenen Zaubertrank ausgelösten Liebe zwischen Markes Braut Isolde und Tristan erkennbar wird, sind die Dinge in der Konstellation Artus–Lancelot komplexer. In noch stärkerem Maße als im Tristan-Kontext werden hier gesellschaftliche Wertesysteme erschüttert, die für die Sozialstruktur tragend sind. Letztendlich scheitert also das Ordnungssystem, das angesichts der Tafelrunde in modellhaft-idealtypischer Weise eine ‚beste aller Welten‘ repräsentiert, das letztlich allgemeingültig ist und dessen Scheitern den Zusammenbruch jeder (politischen) Ordnung nach sich ziehen muss.
Komplexer ist dieser Bereich auch auf der Individualebene, indem neben dem Primärpaar Artus und Lancelot auch noch Galahot (als ambivalenter Protagonist der zerstörerischen Zukunft?) und Gawain (Vertreter traditionaler Werte und dadurch generierter Kontinuität) auf den Plan treten. Aber alle Arten freundschaftlicher Interventionen sind vergebens, und auch wenn am Ende des Lancelot die diversen zum Teil als zerstörerisch missverstandenen, zum Teil nicht als toxisch erkannten Konstellationen quasi nahezu im Sinne eines ‚Kriseninterventionshandbuches‘ dargelegt werden, führt hier nicht zuletzt das Handlungsunterlassen Artus’ in die Katastrophe. Denn wie in einer Art Storyboard „gelingt der Narration noch vor dem Szenario des drohenden Untergangs“ eben lediglich „eine ausführliche Darstellung von Aktion und Reaktion, von Konfliktvermeidung und Konfrontation, die schlussendlich in der Zerstörung der Artuswelt mündet“.
Schlussendlich bleibt der Autorin denn auch nur, Werte und Unwerte von Freundschaft exemplarisch zusammenzutragen und zu analysieren. Egal wohin das Pendel der Außenwirkung auch ausschlagen mag: „Als nicht-öffentliches Modell neigt Freundschaft zur Intimisierung, zur Absonderung des Freundschaftspaares aus der Gemeinschaft.“ Und: „Dabei kann die Möglichkeit einer selbstbezüglichen Gemeinschaft in einer Gesellschaft der partizipativen Identitäten nicht gedacht werden, und so gerät sowohl die Semantik als auch der Status der Beziehung an seine [sic!] Grenzen.“
Trotz mitunter verspürter Unsicherheit ob mancher Stringenz der getroffenen Schlussfolgerungen und Aussagen überwiegt der positive Eindruck des Werks. Die Untersuchung wirkt in vielerlei Hinsicht altmodisch, ohne dabei jedoch im Entferntesten altbacken zu sein. Trotz des vielleicht etwas zu umfangreichen Bezuges auf Luhmann und Bourdieu – zum Themenkomplex Freundschaft/Beziehungen ließe sich übrigens auch bei Peter Sloterdijk Interessantes finden – fehlen erfreulicherweise die zeitgeistigen ‚Bravourwendungen‘, die die Mehrzahl aktueller Veröffentlichungen allzu oft aufblähen, ohne dass damit ein Gewinn an Erkenntnis verbunden wäre. Untersuchtes und Ergebnis weisen einen nachvollziehbaren Bezug auf, natürliche Brechungen und Inkohärenzen der in den Blick genommenen literarischen Texte werden nicht glattgebügelt, und das Ganze ergibt ein stimmiges Bild.
Dass im Anhang auch der Begriff „Freundschaft“ durch Lexikon- und Wörterbuchartikel belegt wird, macht Verschwiegene Vertraute nicht unsympathischer. Die 30 Seiten umfassende Bibliographie ist vom Umfang her angemessen. Jedoch: Es ist zwar beruhigend, vergegenwärtigt zu werden, dass auch die frühere Forschung Sinnvolles geleistet hat, das überdies von Dauer ist. Gleichwohl ist es irritierend, dass der größere Anteil der aufgelisteten Titel aus den Achtziger- und Neunzigerjahren, ja zum Teil sogar aus den Siebzigern stammt. Demgegenüber nimmt sich die Zahl der herangezogenen neueren Publikationen überschaubar aus. Auch nach mehrmaligem Durchschauen der Ausführungen zum Forschungsstand findet sich keine Erklärung hierfür. Gerade das wäre aber naheliegend, wenn nicht sogar notwendig. Ein eingeschobener Hinweis auf einen bemerkenswerten Hiatus beziehungsweise ein Forschungsdesiderat in den vergangenen fünfzehn Jahren hätte die Leistung der Autorin ja nicht gemindert – ganz im Gegenteil.
Dieser formal begründete Einwand tut der guten Lesbarkeit des Buches keinen Abbruch, dürfte es aber als alleinige Quelle für eigenständige Arbeiten zum Thema ausschließen. Und noch etwas, was der Autorin definitiv nicht anzulasten ist: Der Preis von knapp 100 Euro wird sich bei der Entscheidungsfindung zugunsten der Anschaffung dieses zwar ordentlich hergestellten, dennoch aber lediglich flexibel gebunden Buches sicherlich nicht allzu positiv auswirken.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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