Thomas Mann als literarische Figur

Mit „Der Zauberer“ legt Colm Tóibín einen weiteren Künstlerroman vor

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann scheint im 21. Jahrhundert nach wie vor auch über den deutschsprachigen Raum hinaus zu faszinieren. Zahlreiche Autor*innen haben sich der schillernden Persönlichkeit angenommen und umfassende Biographien veröffentlicht. An dieser Stelle ist etwa Rolf Füllmanns jüngst erschienene Publikation zu nennen, die den nüchternen Titel Thomas Mann trägt. Aber auch das Leben der Familie Mann hat an Faszinationskraft nicht eingebüßt. Hervorzuheben ist insbesondere Tilmann Lahmes’ Die Manns. Geschichte einer Familie aus dem Jahr 2015. Nun setzt sich der irische Schriftsteller Colm Tóibín mit Thomas Mann und dessen Familie im Künstlerroman Der Zauberer auseinander. Wie der aufgeführten Literatur in der Danksagung zu entnehmen ist, fußt die Fiktionalisierung auf profunden Kenntnissen. Bereits 2005 hat Tóibín den Autor Henry James in dem gelungenen Roman Porträt des Meisters in mittleren Jahren literarisch in Szene gesetzt. Vor diesem Hintergrund sind die Erwartungen an den Zauberer sehr hoch. 

Der Roman beginnt 1891 in Lübeck, als Thomas sechzehn Jahre alt war. Im ersten Kapitel wird bereits der Grundstein für den drohenden Verfall der Familie Mann gelegt. Auf den ersten Seiten riecht es schon nach den Buddenbrooks. Weder Thomas noch sein älterer Bruder Heinrich treten in die Fußstapfen ihres Vaters. Nachdem der Kaufmann und Lübecker Senator gestorben ist, erlebt die Familie Mann ein Szenario, das der junge Schriftsteller Thomas als Inspirationsquelle für seinen umfangreichen Familienroman nutzt. Doch auch andere Begebenheiten wie die Reise nach Venedig oder sein Besuch im Sanatorium in Davos, wo seine Frau Katia in Behandlung ist, werden aufgegriffen. Der junge Autor sammelt Ideen, die ihn zur literarischen Verarbeitung motivieren und sich etwa in der Novelle Der Tod in Venedig oder im Roman Der Zauberberg niederschlagen. Tóibín scheint seine Freude daran zu haben, den Ideen Manns nachzuspüren: 

Er machte sich an die Planung seines Romans Der Zauberberg. Der Protagonist würde fünfzehn Jahre jünger als er sein, aus Hamburg stammen und einen wissenschaftlichen Verstand und die Unschuld des Wissenschaftlers besitzen. Nach Davos würde er lediglich reisen, um seinen Vetter zu besuchen, der dort in Behandlung wäre, und wie Thomas würde er bemerken, dass die Zeit ihre Bedeutung verlor, sobald er sich in die Disziplin des Hauses einordnete. 

Tóibín umschreibt die Entstehungsgeschichte der bekanntesten Texte und skizziert, wie aus alltäglichen Situationen literarische Ideen im Kopf des Schriftstellers reifen. Auch Begebenheiten, die längst über die Biographien hinaus bekannt sein dürften, werden erwartungsgemäß aufgegriffen. So wird zum Beispiel betont, dass der Schriftsteller von seinen sechs Kindern, die ihn wegen seiner kleinen Kunststücke am Esstisch „Zauberer“ nennen, absolute Ruhe verlangt, wenn er in seinem Arbeitszimmer schreibt. Manchmal fragt man sich, was diesen Roman von einer Biographie unterscheidet. Oder anders gefragt: Worin liegt in der Fiktionalisierung Thomas Manns der Reiz? 

Ein Gewinn der literarischen Auseinandersetzung Tóibíns ist, dass die Erzählinstanz die Figur Thomas Mann perspektiviert und somit imstande ist, zahlreiche Dialoge und innere Monologe wiederzugeben. Das Spannungsverhältnis zwischen Begehren und dem gutbürgerlichen Lebensentwurf ist immer wieder Thema. Trotz der erzählerischen Ausschmückung und vielen Dialoge gelingt es Tóibín, zuweilen das Schweigen zwischen Thomas und Ehefrau Katia aufzugreifen, etwa wenn der Schriftsteller in ihrem Beisein junge Männer bei Gymnastikübungen auf der Strandpromenade von Santa Monica betrachtet und Blicke ausgetauscht werden. Insbesondere solche Blick- und Beobachtungsszenen auch innerhalb der Familie Mann kommen ohne Dialog aus und wirken somit besonders intensiv. Wertung und Kommentar bleiben konsequent aus.

Tóibín ermöglicht eine Teilnahme an Thomas’ Reflexionsprozessen. Einerseits ist da der Pater familias, der mit Katia und den gemeinsamen Kindern ein bürgerliches Bild abgeben möchte. Andererseits blitzt immer wieder das andere, verdrängte und verlangende Ich auf: die Leidenschaft für jüngere Männer. Darüber hinaus verleiht Tóibín auch dem politischen Thomas seine Konturen. Von seiner 1918 veröffentlichten politisch-konservativen Streitschrift Betrachtungen eines Unpolitischen bis hin zu seinen Reden im US-amerikanischen Exil und seinen Verbindungen zum Weißen Haus, das auf seine Expertise bezüglich einer Beteiligung am Zweiten Weltkrieg großen Wert legt, wird eine facettenreiche Entwicklung nachgezeichnet: 

Er fragte sich, ob sich jemand, der ihm jetzt zuhörte, an den Ton erinnerte, den er während des vergangenen Krieges angeschlagen hatte, und sich fragte, ob es wirklich derselbe Mensch war, der jetzt mit allem Nachdruck behauptete, das deutsche Volk sei ein Volk wie jedes andere auch, mit seinen Vorzügen und seinen ebenso großen Fehlern, in keiner Hinsicht besonders.

Durch die häufige Wiedergabe von Thomas’ Gedankengängen hebt sich der Roman passagenweise von einer Biographie ab. Auch weiß die Erzählinstanz im US-Exil nicht mehr als Thomas, wenn Nachrichten von Angehörigen aus dem krisenerschütterten Europa eintreffen.

Tóibíns Anspruch, das Leben Thomas Manns in all seinen Facetten erzählerisch auszuleuchten, ist gelungen. Platz für Zwischentöne und Mehrdeutigkeiten bleibt allerdings nicht, denn an einigen Stellen liest sich der Roman wie eine Biographie; sämtliche Begegnungen mit prominenten Persönlichkeiten werden untergebracht. Das Figurenkarussell dreht sich allzu munter: Während Gustaf Gründgens als Ehemann von Thomas’ ältester Tochter Erika ein paar Seiten gewidmet werden, fällt der Name der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach en passant und sie gerät nur zur Komparsenfigur, die als Freundin von Erika und Klaus Mann mal erwähnt werden muss. Während die Hauptfigur Thomas Mann alle überstrahlt, wird Tóibín der Fülle an Figuren, Begegnungen und Anekdoten auf über 550 Seiten nicht gerecht. Viele Nebenfiguren bleiben farblos. So überrascht es nicht, wenn überdies Beschreibungen wie ein notwendiges Übel abgehandelt werden: „Die Teppiche waren türkisch. Die Tapeten waren rot.“ gefolgt von „Die Tassen waren zierlich. Die Kaffeekanne war modern.“ Tóibín möchte sich für atmosphärische Details offenbar keine Zeit nehmen. Vielmehr möchte er weiterkommen, die nächste Begegnung, den nächsten Dialog schreiben.

Im Gegensatz zur Biographie hätte Tóibín im Roman den literarischen Gestaltungsspielraum nutzen können, indem er etwa bewusste Leerstellen erzeugt. Vielleicht wäre es konsequenter und gewinnbringender gewesen, wenn Thomas Mann als Ich-Erzähler aufgetreten wäre. Immerhin bietet der umfangreiche Künstlerroman jenen einen Zugang zu dem Nobelpreisträger, die damit beginnen wollen, sich näher mit ihm zu befassen. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Colm Tóibín: Der Zauberer.
Übersetzt aus dem Englischen von Giovanni Bandini.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
560 Seiten, 28 EUR.
ISBN-13: 9783446270893

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