Postmoderner Auferstehungsmythos

Mit „Anna In“ führt Olga Tokarczuk ihre Lesegemeinde zu den großen Dichotomien des Daseins, poetisch neu übersetzt von Lisa Palmes

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu literarischen Lesungen erscheinen erfahrungsgemäß in der Regel mehr Frauen als Männer, doch Olga Tokarczuks Beliebtheit vor allem bei einem weiblichen Publikum ist auffallend – bei den Auftritten nach der Verleihung des Literaturnobelpreises für 2018 waren nicht selten mehr als neun Zehntel Besucherinnen anwesend. Offensichtlich strahlen ihre Stoffe, ihre Protagonistinnen auf viele Frauen eine besondere Form der Ermutigung, der literarischen Identifikationsmöglichkeit aus.

Auch mit der jüngsten auf deutsch erschienenen Publikation Anna In – Eine Reise zu den Katakomben der Welt steht eine Heldinnenfigur im Mittelpunkt. Dabei ist der sumerische Mythos der Göttin Inanna, den Tokarczuk aufgreift und stilistisch gegen den Strich gebürstet neu erzählt, immerhin rund viertausend Jahre alt, und auch ihr eigenes Buch ist in Wirklichkeit nicht neu – es wurde nur nach der deutschen Erstveröffentlichung 2007 im Berlin Verlag für die Werkausgabe bei Kampa aktuell neu übersetzt. 

Inanna, von der Autorin meist Anna In benannt, ist die Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit, des Mondes und des Krieges, eine androgyne, kraftvoll-archaische Gestalt. Die verschiedenen Aspekte ihrer Figur scheinen sie für die Verehrung durch ihre Anhängerschaft zu prädestinieren. Sie herrscht über eine von drei göttlichen Vätern konzipierte turmartige, weitverzweigte Megalopolis, in der die einzelnen Regionen durch unzählige auf-, ab- und seitwärts fahrende Lifts und Rolltreppen miteinander verbunden sind. Tokarczuk beschreibt ein soziales Gefüge aus planenden und ausführenden Gottheiten, gut beherrschbarem Konsumvolk und aufgabenspezifisch zu Hilfs-Halbmenschen Mutierten, die den Träumen eines pervertierten Transhumanismus‘ entsprungen sein könnten: Putzpersonal etwa, dem Bürsten statt Händen aus den Armen ragen oder Rikschafahrer, die mit ihrer Fahrkabine verwachsen sind. Die krassen Unterschiede zwischen den Lebenswelten werden durch Hell und Dunkel, durch Oben und Unten, durch Dienen und Herrschen markiert, doch gleichzeitig bewegen sich die Figuren mitunter auch auf verschiedenen Zeitebenen und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. 

Das makaber-ironische Setting gleitet jedoch durch eine unverbrauchte und poetische Sprache, die nicht zuletzt der Neuübersetzung von Lisa Palmes zu verdanken sein dürfte, nie ins Komödiantische ab. Diese Geschichte ist ernster und sie meint sich auch ernster, als es das gelegentlich Augenzwinkernde vorzugeben scheint, geht es doch um den ältesten uns bekannten Mythos einer Wiederkunft aus dem Reich der Toten, eine Vorstellung, an welcher die Mythen und Religionen vieler anderer Kulturen ihren Teil haben.

Anna In vernimmt innerlich den Klageruf ihrer die Unterwelt beherrschenden Zwillingsschwester und macht sich mit ihrer menschlichen Freundin Nina Šubur an den Abstieg in die Katakomben unter der Stadt. Die Schwestern sind sich jedoch trotz einer ursprünglichen inneren Nähe so existenzfern geworden, dass eine Verständigung scheitern muss. Anna In darf das Totenreich nicht wieder verlassen, sie muss den von den Vätern erlassenen Gesetzen wegen sterben.

Die treue Freundin Nina Šubur interveniert daraufhin bei den Vätern, die sich als an ihrer Tochter Anna In uninteressierte Gottheiten entpuppen und sich in ihrer eigenen luxuriös-weltfernen Bürokratie eingerichtet haben. Nur die Drohung der Mutter Anna Ins, der Göttin Ninmah, das Wachstum aller Pflanzen und Tiere einzustellen, kann die Väter schließlich überzeugen, Hilfe zu schicken. Der Tod Anna Ins hat das Leiden ihrer Zwillingsschwester ins Unermeßliche gesteigert. Mechanische Fliegen, weder tot noch lebendig, werden von den Vätern in die Unterwelt gesandt. Sie schaffen deren Herrin Linderung und erhalten zum Dank den Leib Anna Ins, den sie mit Wasser und Staub aus dem Diesseits wieder ins Leben zurückbringen. Ein unterweltlicher Rat aus bizarren, genmanipulierten Tierwesen bestimmt eine Abordnung von Dämonen, die Anna In auf ihrem Weg nach oben begleiten und eine Person, die als Ersatz für die Wiederauferstandene deren Stelle im Totenreich einnehmen soll, zurückbringen sollen. Doch wer soll dies sein? Anna In will ihren Ehemann, den Gestalter wunderschöner mobiler Gärten opfern, den ihr Verschwinden nicht sonderlich gekümmert zu haben scheint – dessen Schwester bietet sich jedoch für den Tausch an, um ihren Bruder zu retten. Am Ende werden beide zu einem halben Leben und einem halben Tod verurteilt: sie wechseln ihre Positionen jeweils alle sechs Monate ab. Im Mythos selbst entstehen durch diese neue Balance die Jahreszeiten, im Buch der Autorin wird die Stadt gerettet, denn „[g]ibt es den Gärtner nicht mehr, so wird die Stadt an Schwindsucht vergehen, an galoppierender Depression.“

Die männlichen Menschen und Götter kommen auf den ersten Blick nicht allzu gut weg in Tokarczuks Schilderungen. Ihre Indolenz, Feigheit und Genusssucht muss von den weiblichen Protagonisten durch Weisheit, Entschlusskraft und Opfermut ausgeglichen werden. Nicht zuletzt hierin wäre vielleicht einer der Gründe für Tokarczuks überwiegend weibliches Lesepublikum zu sehen. Dennoch wäre es vollkommen verfehlt, hier in erster Linie einen stereotypen literarischen Feminismus am Werk zu sehen, denn auch den Frauengestalten fehlt es nicht selten an echter Empathie, was angesichts der beschriebenen postmodernen Welt und ihren Extremen auch nicht unbedingt überrascht: auch Anna In selbst tut zwar hier und da Wunder, kümmert sich intensiv um Leid, verliert aber augenscheinlich recht schnell die Lust daran und wendet sich immer neuen Projekten zu. Die Männerfiguren werden hingegen durchaus oft auch als schön und begabt, aber eben auch als zaghaft und willensschwach gezeigt.

Interessant sind die Erzählpositionen, die zunächst zwischen der treuen Nina Šubur und dem knochigen Totenwächter Neti hin- und herwechseln, um schließlich noch einigen weiteren Perspektivierungen durch Nebenfiguren der Handlung Platz zu machen. So entsteht ein buntes Kaleidoskop der Wahrnehmungen, das die im Grunde vorhersehbare Entwicklung der Geschichte immer frisch und in perzeptiver Spannung hält.

Olga Tokarczuk hat mit Anna In ein Werk nachmoderner Phantastik geschaffen, das einmal mehr zeigt, wie sehr uns jahrtausendealte Mythen auch heute noch zu fesseln verstehen. Es gelingt ihr, sie so zu literarisieren, dass wir sie, wie die Autorin es in ihrem Vorwort im Rückgriff auf Freud beschreibt, als „Erzählung über unsere eigene Psyche“ auffassen können: als den Versuch einer Aufarbeitung von Urängsten und Urfaszinationen.

Titelbild

Olga Tokarczuk: Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes.
Kampa Verlag, Zürich 2022.
176 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783311100744

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch