Streitschrift wider die Identitätspolitik

In seinem Buch „Quote, Rasse, Gender(n)“ argumentiert Christoph Türcke konsequent logisch und dialektisch

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christoph Türcke, Theologe und emeritierter Professor für Philosophie, ist dafür bekannt, dass er sich in aktuellen Diskursen ohne Scheu vor Tabus positioniert. Er tut dies wieder in seinem neuen in bibliophiler Aufmachung erschienenen Bändchen, das den Untertitel Demokratisierung auf Abwegen trägt. Die dialektische Struktur seiner Argumentation zeigt sich schon in diesem Untertitel: Das Bemühen um Demokratisierung kann sein Gegenteil hervorbringen, nämlich undemokratische Zustände, wenn es auf falschen Voraussetzungen beruht.

Prominentes Beispiel für die Forderung nach Quotierung ist die Frauenquote, deren Nichterfüllung in Parteien und Parlamenten von vielen Zeitgenossen als Mangel interpretiert wird. In Betrieben und Institutionen sollen Gleichstellungsbeauftragte diesem Mangel abhelfen. Die, wie er es nennt, „diskriminierungsfreie Paritätsdemokratie“ erscheint Türcke jedoch keineswegs als erstrebenswertes Ziel. Dass zunehmend Paritätsgesetze gefordert oder, wie etwa in Thüringen in Bezug auf Kandidatenlisten der Parteien, schon beschlossen sind, hält er für bedenklich.

Sein Haupteinwand leitet sich daraus ab, dass er den Paritätsgedanken konsequent zu Ende denkt: Ist eine Quote erst einmal eingeführt, gibt es für das Einfordern weiterer Quoten keine rational begründbare Grenze mehr. Jede gesellschaftlich relevante Gruppe könnte dann die Forderung erheben, im Parlament gemäß ihrer Repräsentanz in der Gesamtgesellschaft vertreten zu sein. Und die jeweiligen Vertreter oder Vertreterinnen dieser Gruppen hätten die Aufgabe, vornehmlich für die Interessen ihrer Klientel einzutreten. Damit hielte das Modell der Wirtschaftslobby Einzug in die Plenarsäle. Auch eine Nähe zum imperativen Mandat wäre nicht von der Hand zu weisen. Ähnlich äußerte sich kürzlich der scheidende Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner mit viel Beifall bedachten Abschiedsrede. Er sagte, dass der Bundestag „nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung“ sein werde. Es sei ein „irriges Verständnis“, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten.

Mit seiner Kritik am Quotendenken steht Türcke also nicht allein, zumindest was die Parlamente angeht. Allerdings differenziert er nicht genügend zwischen der politisch-parlamentarischen und der privatwirtschaftlichen Sphäre. Seiner Logik ist zunächst wenig entgegenzusetzen, aber politische Diskurse sind eben nicht ausschließlich durch Logik bestimmt. Daher wird vor allem weiter nach Frauenquoten gerufen werden, übrigens unabhängig davon, ob sich genügend Frauen finden, die sich für Kandidaturen und Ämter bewerben. Mehr Brisanz gewinnt Türckes Argumentation durch die Ausweitung auf die Begriffe ‚Rasse‘ und ‚Rassismus‘. Zu diesem Problemkomplex erlaubt sich der Autor längere, manchmal auf Nebenwege führende Exkurse, in denen er u. a. Kant gegen den Vorwurf verteidigt, Rassist gewesen zu sein, Achille Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft referiert und Frank B. Wildersons radikales Konzept des „Afropessimismus“ streift.

Türckes Kritik richtet sich vor allem gegen „Worthysterie“, der er mit sprachgeschichtlich fundierter, versachlichender Sprachkritik begegnet, sowie gegen moderne und postmoderne Denkstile wie Konstruktivismus und Dekonstruktion. Das Wort ‚Rasse‘, inzwischen zum Unwort geworden, das aus dem Grundgesetz getilgt werden soll, habe ursprünglich keine wertende, sondern vor allem eine differenzierende Bedeutung gehabt. Als Beispiele nennt Türcke Arbeiten von Carl von Linné, Jean-Baptiste (er schreibt irrtümlich Antoine) de Lamarck und Kants Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse. Wolle man dieses Wort tilgen, was deshalb möglich sei, weil die im Grundgesetzartikel 3(3) vorkommenden Wörter „Abstammung“ und „Herkunft“ etwa dasselbe meinten wie „Rasse“, so dürfe man die Lücke nicht durch den Ausdruck „aus rassistischen Gründen“ füllen, wie es von Befürwortern der Grundgesetzänderung gefordert wird.

Daran anknüpfend betreibt Türcke in seinem Essay den größten argumentativen Aufwand, um die theoretische Fragwürdigkeit des derzeit geradezu inflationär gebrauchten Begriffs ‚Rassismus‘ zu entlarven. Zum einen werde ‚Rassismus‘ unzulässig ausgeweitet und beispielsweise auch dann angewendet, wenn es um Antijudaismus (oft verwechselt mit Antisemitismus) oder Islamkritik gehe. Im letzteren Fall sei immer häufiger von „antimuslimischem Rassismus“ die Rede. Zum anderen kehre mit dem Wort ‚Rassismus‘ die gerade von Konstruktivisten und Postkolonialisten als unzulässige, weil ‚essenzialistische‘ Kategorie verworfene „Rasse“ in einer dialektischen Wendung zurück. Dagegen postuliert Türcke: „Wo keine Rasse, da kein Rassismus; da ist nur die Rede von ‚ethnischer Diffamierung‘ legitim“.

Allgemein sieht der Autor hier einen der Widersprüche des von ihm aus grundsätzlichen begriffsgeschichtlichen und philosophischen Gründen bekämpften Konstruktivismus, mit dem er sich bereits in einem anderen Buch (Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns, 2021) kritisch auseinandersetzte. Während die Kategorie ‚Rasse‘, bestimmt vor allem durch die Hautfarbe von Menschen, als bloßes Konstrukt verworfen werde, sei andererseits in den Theorieentwürfen von Mbembe (Kritik der schwarzen Vernunft) und Wilderson III (Afropessismus) die Unterscheidung von Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe essenziell. In den Substantivierungen Blackness und Whiteness identifiziert Türcke einen Anklang an Platons Ideenlehre, die Michel Foucault als abendländischen Urgrund der „Ausschließungsmaschinerie des Logos“ habe dekonstruieren wollen.

Im Übrigen hält er diejenigen Kämpfer gegen den Rassismus für naiv, die Xenophobie umstandslos mit ‚Fremdenfeindlichkeit‘ übersetzen. ‚Xenophob‘ heiße vielmehr ‚Fremdes fürchtend‘, und von solcher Furcht sei niemand völlig frei, ein „xenophobes Grundrauschen“ sei Bestandteil jeder Ich-Bildung. Es komme nun darauf an, wie wir mit dieser Hypothek umgehen, ob wir sie für uns fruchtbar machen (z. B. im Sinne Ortfried Schäffters: Fremdheit als Komplementarität begreifen) oder sie zu manifester Fremdenfeindlichkeit weiterentwickeln.

An zwei Stellen deutet Türcke an, dass es sich beim Leiden an rassistischer Beleidigung, etwa durch Blackfacing oft gar nicht um direkt Betroffene, sondern um Weiße handelt, die ein „Stellvertreterleiden“ auf sich nehmen oder ihr „Fremdeln“ gegen andere Weiße richten, „die mit den Mitbürgern dunkler Hautfarbe weniger überidentifiziert sind als sie selbst“. Das erinnert an das Täter – Opfer – Helfer-Dreieck aus der Transaktionsanalyse, bei dem es den ‚Helfern‘ um das Ausleben ihrer passiven Aggression und letztlich um Macht geht.

Im letzten Teil seines Essays beschäftigt sich Türcke mit der Gendersprache, die ebenso wie der an Quoten orientierte Gleichstellungsimperativ der Sichtbarmachung von Menschen diene, die bisher unzureichend – in Gremien, Institutionen und eben auch in der Sprache – repräsentiert seien. Der Drang, sichtbar zu sein, sei wiederum stark durch das Internet gefördert worden: Wer in sozialen Netzwerken abwesend ist, gilt nahezu als nicht-existent. Esse est percipi (Sein ist Wahrgenommen werden). Der Autor verweist auf zahlreiche Sprachen, die keine grammatischen Genera kennen, vergisst aber dabei unser aller lingua franca, das als leicht erlernbar geltende Englische: A teacher is a teacher is a teacher. Zu der gesellschaftlich umstrittenen Gendersprache hätte man sich mehr und tiefer gehende Ausführungen gewünscht. So ist es eigentlich banal, darauf hinzuweisen, dass mit der sprachlichen die reale Gleichstellung von Personengruppen noch lange nicht erreicht ist. Wenn Türcke den Verfechtern einer ‚gegenderten‘ Sprache vorhält, sie verschwendeten ihre Energie auf einer „Spielwiese der Nebensächlichkeit“, so könnte man denselben Vorwurf auch an die Gegner des Genderns richten. Allerdings haben diese in jüngster Zeit sprachsystematische, -geschichtliche, -ästhetische, -ökonomische sowie -didaktische Argumente vorgebracht, die für die Gegenseite offenbar nicht in Betracht kommen.

Worauf läuft nun Türckes stellenweise verschlungene und nicht immer leicht zu verfolgende Argumentation hinaus? In einer Schlussbemerkung über die „Naturmetaphysik der neuen Rechten bekennt der Autor, dass ihm antirassistische (linke) Identitätspolitik „entschieden lieber“ sei als die offen rassistische der Rechten. Dem Konstruktivismus der Linken stehe ein „plumper Naturalismus“ der Rechten gegenüber. Allem Anschein nach sieht er, ähnlich wie Sahra Wagenknecht in ihrem neuesten Buch, die identitäre Linke auf Abwegen. Sie verkämpft sich auf dem Gebiet der Identitätspolitik und verliert dabei die realen Gegebenheiten und kritikwürdigen Zustände im neoliberal ausgerichteten Kapitalismus aus den Augen. Allerdings wird eine kapitalismuskritische Position nur vage angedeutet, sodass der Eindruck bleibt, es handle sich eher um einen philosophischen und weniger um einen politischen Essay.

Titelbild

Christoph Türcke: Quote, Rasse, Gender(n). Demokratisierung auf Abwegen.
zu Klampen Verlag, Springe 2021.
80 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783866748101

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