Eine gegen Viele

Sigrid Undset erzählt in „Kristin Lavranstochter“ im mittelalterlichen Gewand von ihrer Gegenwart

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die norwegische Romanautorin, Erzählerin und Essayistin Sigrid Undset (1882–1949) trat vor allem mit historischen sowie mit Gegenwarts- und Eheromanen hervor. In diesen spielen aktuelle Probleme, Liebe und Ehe im Spannungsfeld zwischen eigenem Willen, gesellschaftlichen Regeln und kirchlichen Normen, Emanzipation ganz allgemein sowie Glaubensfragen stets eine große Rolle. Das hat für die historischen Romane zur Folge, dass zuweilen der Eindruck entsteht, den mittelalterlichen Figuren seien moderne mentale und seelische Signaturen übergestülpt worden.

Als um psychologische Durchdringung ihrer Figuren bemühte, 1924 zum Katholizismus konvertierte und aus dieser Perspektive gegen jede Form von Kulturradikalismus anschreibende Neorealistin gehört Undset zusammen mit Bjørnsterne Bjørnson, Camilla Collett, Knut Hamsun, Henrik Ibsen, Alexander Kielland und Jonas Lie zu den bedeutendsten norwegischen SchriftstellerInnen des 19. und 20. Jahrhunderts überhaupt. 1928 erhielt die spätere entschiedene Antifaschistin für die 1995 von Liv Ullmann verfilmte Romantrilogie Kristin Lavranstochter (Kristin Lavransdatter) den Nobelpreis für Literatur. Seitens des Komitees wurde dabei insbesondere auf die „kraftvollen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter“ verwiesen. Dass diese Schilderungen so „kraftvoll“ ausfallen konnten, verdankt sich den intimen politisch-historischen, geographischen, ethnologischen und kulturellen Kenntnissen, die sich die Autorin im Selbststudium erworben hatte.

Nun ist mit Der Kranz (Kransen, 1920) der erste Band der Trilogie Kristin Lavranstochter in neuer, im Unterschied wohl zu der vermutlich auf der Übertragung ins Dänische basierenden Übersetzung von Julius Sandmeier und Sophie Angermann (1925–1927) erstmals auf das norwegische Original zurückgreifender Übersetzung durch Gabriele Haefs erschienen. Die beiden weiteren Bände Die Frau (Husfrue, 1921) und Das Kreuz (Korset, 1922) werden bis nächstes Jahr, dem 100. Jubiläum der Erstveröffentlichung der Trilogie also, erscheinen. Vergleicht man die beiden Übersetzungen, gewinnt man den Eindruck, dass es Gabriele Haefs vor allem darum gegangen ist, den Roman dem Vokabular und der Syntax wie dem Sprachrhythmus nach nicht ‚einzudeutschen‘, sondern ihm seine ursprüngliche, ans Altnordische angelehnte Gestalt zu bewahren, da, wo tendenziell nüchtern und schnörkellos entfaltet wird, da, wo eher lyrische Töne für eine stimmungsvolle Atmosphäre sorgen. Das führt anfangs zu niederschwelligen Rezeptionsbarrieren, die nach einer gewissen Einlesezeit aber vollständig abgebaut werden.

Der viele Fakten historischer und (alltags)kultureller Art – bspw. politische Figuren, aber auch gesellschaftliche Usancen sowie Ernährungs-, Bekleidungs- und Schlafpraktiken – mit einer verschlungenen, zuweilen (melo-)dramatischen Fiktion verknüpfende und auch von Kolportage nicht freie Roman ist in drei Bücher (Jørundhof, Der Kranz, Lavrans Bjørgulfssohn) mit sieben bzw. acht Kapiteln unterteilt. Er, der aufgrund der psychologisch-mentalen Konzentration auf eine Heranwachsende und deren Umfeld auch Züge des Adoleszenz- und des Gesellschaftsromans trägt, spielt im Norwegen des frühen 14. Jahrhunderts. Das war eine „Umbruchzeit“, wie das dem Roman beigefügte, hilfreiche Glossar anfangs ausführt, in der die Christianisierung abgeschlossen war und es „ein für den Moment unumstrittenes Herrscherhaus“ gab. Doch sei der Friede trügerisch gewesen, hätten doch die „engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu dänischen und schwedischen Adelssippen“ immer wieder dafür gesorgt, dass erbliche Ansprüche auf den norwegischen Thron vorgetragen worden seien.

Im Zentrum des ebenso handlungs- und ortsreichen wie detailverliebten, mit langem, entschleunigtem epischem ‚Atem‘ erzählten Romans steht die titelgebende, eigensinnige Kristin Lavranstochter. Die begleiten wir von Kindesbeinen an bis in ihr 21. Lebensjahr. Da trotzt sie, die vom Vater mit einem grundsätzlich hochanständigen Bauern aus der ‚Nachbarschaft‘ namens Simon Darre verlobt wurde, ihren „außergewöhnlich fromme[n]“ Eltern nach einem mehrjährigen Kampf die Verheiratung mit ihrer großen Liebe Erlend Nikulaussohn ab. Dem, einem gutaussehenden Verführer, der in mehrfacher Hinsicht ganz zu Recht in einem zweifelhaften Ruf steht, hat sie sich als Siebzehnjährige nach damaligen Maßstäben skandalöser Weise während eines einjährigen Klosteraufenthaltes hingegeben.

Zwischen Kindheit und Heirat sehen wir die gutherzige, eigenständig denkende, sich durch die Widersprüchlichkeiten von nachdrücklichem Wollen und unerbittlichem (weltlichem und kirchlichem) Sollen hindurchkämpfende und dabei auch willentlich schuldig und sündig werdende Kristin in allerlei spannungsgeladenen Bezügen und Konstellationen. Wir lernen eine ganze Reihe weiterer interesseheischender Figuren und deren teils ebenfalls ‚vertrackte‘ Lebensumstände kennen: Ihren Züge eines empfindsamen Vaters tragenden Vater Lavrans Bjørgulfssohns und dessen schwermütige, das eigene Kind vermeintlich nicht liebende Ehefrau Ragnfrid Ivarstochter, die Gemeindepfarrer Sira Eirik und Sira Eiliv, den reisenden Mönch Bruder Edvin und die Klostervorsteherin Frau Groa, Arne Gyrdssohn, den Ziehbruder und Jugendfreund Kristins, der von Bentein Priestersohn erstochen wird, nachdem dieser vor geraumer Zeit versucht hatte, Kristin zu vergewaltigen, Erlend Nikulaussohn selbstverständlich und dessen Cousin Munan Bårdsohn, der mit der Bordellbesitzerin Brynhild Flugs zwei Kinder hat, diese Brynhild, die heimliche Treffen zwischen Kristin und Erlend ermöglicht, Eline Ormstochter, die frühere „Kebse“ von Erlend und Mutter seiner beiden Kinder, Åshild Gautestochter schließlich, eine weise, mit Magie, Heilkunst und sogar Gattenmord in Verbindung gebrachte ältere Frau, die zugleich Mutter Munans, Tante Erlends und Freundin Kristins ist.

Vor diesem skizzierten Hintergrund ist für ein Lesevergnügen gesorgt, das zugleich unterhält und belehrt – den am nordischen Mittelalter und an (gesamteuropäischen) Diskursen des frühen 20. Jahrhunderts Interessierten zumindest. Von daher darf man sich auf die bald erscheinenden beiden Fortsetzungsbände der Trilogie freuen.

Titelbild

Sigrid Undset: Kristin Lavranstochter. Bd. 1: Der Kranz.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2021.
382 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783520621016

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