Ein Dichter mit enormer Wirkkraft, um den es still geworden ist

Zum 100. Todestag von Richard Dehmel

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um 1900 war Richard Dehmel einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter. Mit seinen leidenschaftlichen Versen war er Anreger für eine junge Dichtergeneration, mehr noch: eine Schlüsselfigur der Moderne. Doch heute kennt kaum noch jemand seinen Namen – abgesehen von ausgesprochenen Lyrikliebhabern, Literaturhistorikern oder Germanistikstudenten, die gerade ein Seminar über deutsche Literatur der Jahrhundertwende absolvieren. Mit Neugier oder Verdruss? Selbst in Lyrikanthologien ist der „größte deutsche Dichter seiner Zeit“ (Frank Wedekind) nur noch selten anzutreffen. In der Echtermeyer-Ausgabe meiner Schulzeit war er noch mit acht Gedichten vertreten, inzwischen wurde sein Werk in der aktuellen Ausgabe vollkommen getilgt. Auch die verschwindende Anzahl von Dehmel-Publikationen in den letzten Jahrzehnten ist ein Indiz für dieses Desinteresse. Sein 100. Todestag sollte jedoch Anlass für eine würdigende und fragende Reminiszenz sein.

Richard (Fedor Leopold) Dehmel wurde am 18. November 1863 in Wendisch-Hermsdorf (Mark Brandenburg, heute Münchehofe) im Spreewald geboren. Der Vater war Revier- und Stadtförster in Kremmen nördlich von Berlin, wo der Junge auch aufgewachsen und zur Schule gegangen war. 1872 bekam der Förstersohn die Möglichkeit, das Sophien-Gymnasium in Berlin zu besuchen. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Direktor und einem Schulverweis wechselte er an das Städtische Gymnasium in Danzig, wo er 1882 das Abitur ablegte. Danach studierte Dehmel in Berlin Philosophie, Naturwissenschaften und Nationalökonomie. Zum Broterwerb redigierte er nebenbei eine Provinzial- und eine Jagdzeitung. Sein Studium beendete er 1887 in Leipzig mit der Promotion zu einem Thema über Versicherungswesen. Anschließend verdiente er acht Jahre lang seinen Lebensunterhalt als Sekretär im Zentralverband Deutscher Privater Feuerversicherungen in Berlin.

Bereits während seiner Gymnasial- und Studienzeit waren erste Gedichte entstanden. Trotz seiner „inhaltlosen Beschäftigung“ bei der Versicherungsgesellschaft versuchte Dehmel weiterhin, Zeit für seine dichterische Leidenschaft zu finden. Der geistige Stumpfsinn des Bürodienstes beflügelte ihn geradezu: „Es ist mir wie den Singvögeln ergangen, die meist erst im Käfig ihre volle Stimme entwickeln“. Daneben hatte Dehmel Kontakt zum Kreis der Berliner Naturalisten um die Gebrüder Heinrich und Julius Hart, die in den 1880er Jahren verschiedene Literaturzeitschriften (Kritische Waffengänge ,1882-1884, Berliner Monatshefte für Literatur, Kritik und Theater 1885 und Kritisches Jahrbuch 1889-1890) gegründet hatten und damit Wegbereiter der naturalistischen Bewegung waren. Zu dem Künstlerkreis gehörten auch Arno Holz, Michael Georg Conrad, Johannes Schlaf, Ernst von Wolzogen und Otto Erich Hartleben.

1886 lernte Dehmel Paula Oppenheimer (1862-1918) kennen, die Tochter eines Predigers und Lehrers am Tempel der Berliner jüdischen Reformgemeinde. Die Gedichte, die aus dieser Begegnung und Liebesbeziehung entstanden, veröffentlichte Dehmel 1891 in den beiden Bänden Erlösungen. Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen (1891) und Aber die Liebe (1893).

Seit wann du mein? ich weiß es nicht:
was weiß das Herz von Zeit und Raum!
Mir ist, als wär’s seit Gestern erst,
daß du erfülltest meinen Traum, –
[…]

Geprägt von darwinistischen Anschauungen griff der bürgerliche Dehmel, ein Sympathisant (aber kein Mitglied) der SPD, auch die rasch entwickelnde Industrialisierung mit ihren sozialen Problemen auf – wie in der Ballade Vierter Klasse, das die Leiden der Auswanderer thematisierte:

[…]
Zusammengehockt mit zagem Mut,
mit ihrem letzten dürftigen Gut,
aus Polen und Preußen sitzen sie da
und wollen nach – Amerika.

Nur wenn das Wörtchen „Drüben“ fällt,
ein Hoffnungsschein ihr Auge hellt;
und Alle atmen tiefer dann,
und Alle sehn sich nickend an.
[…]

Neben humorvollen Versen (z.B. Radlers Seligkeit) wurden einige dieser sozialkritischen Gedichte (u.a. Der Arbeitsmann oder Erntelied) für das literarische Kabarett (Berliner Brettlbühnen oder Münchner „Elf Scharfrichter“) vertont. Auch andere namhafte Dichter (Detlev von Liliencron, Frank Wedekind, Ernst von Wolzogen oder Arno Holz) kokettierten (aus Geldnot?) damals mit dieser neuen Unterhaltungskunst und lieferten heiter-satirische Vortragstexte. Unter dem Titel Ich radle, radle, radle (Hg. Helga Bemmann) erschien 1975 im Berliner Henschelverlag eine Auswahl von Dehmels Brettllyrik und Chansons.

Die beiden Gedichtbände Erlösungen und Aber die Liebe machten Dehmel zu einer führenden Persönlichkeit im literarischen Leben Berlins; Paula verfasste ebenfalls Kindergedichte, Märchen und Geschichten. Später gaben beide gemeinsam das Kinderbuch Fitzebutze (1900) mit Kindergedichten heraus. 1889 heirateten Richard und Paula und ihre Pankower Wohnung wurde zu einem Treffpunkt für Künstler, Literaten und Intellektuelle. Kaum ein Tag verging ohne Gäste; neue Werke wurden gegenseitig vorgetragen und künstlerische Anregungen ausgetauscht. Eine illustre Gesellschaft – neben den bereits genannten verkehrten hier Max Dauthendey, Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Bertha von Suttner, Peter Hille oder Knut Hamsun. „Durch die Symposien, die wir bei Dehmels feierten, wehte in der Tat etwas von jenem Geiste, der einst in Attika und Florenz lebendig war … In diesem Kreise regten sich zuerst, oder doch wenigstens am stärksten und nachhaltigsten, jene Stimmungen, welche über die Epoche des Naturalismus, Pessimismus und Sozialismus hinausstrebten … Man träumte von einer neuen Renaissance, einem neuen sinnen- und kunstfreudigen Heidentum. Die Worte Lebensfreude, Ausleben, Sinnlichkeit, Freiheit gewannen neuen Inhalt.“ So Heinrich Hart später in seinen literarischen Erinnerungen Wir Westfalen (1907).

1894 gehörte Dehmel zu den Mitbegründern der exklusiven Kunstzeitschrift Pan, dem wichtigsten Organ des Jugendstils in Deutschland. Im folgenden Jahr gab er schließlich seine Stellung bei der Versicherungsgesellschaft auf und lebte fortan als freier Schriftsteller. Nachdem dieser berufliche Zwiespalt gelöst war, folgte eine Ehekrise, die sich mehrere Jahre hinziehen sollte. Dehmel lernte die jüdisch-deutsche Kunstförderin Ida Auerbach (1870-1942, verheiratet mit dem Berliner Tuchhändler und Konsul Leopold Auerbach) kennen, die in ihrem luxuriösen Haus am Tiergarten einen fortschrittlichen Salon vor allem für moderne Bohemiens begründet hatte. Mit den beiden hatten sich zwei ebenbürtige Partner und verwandte Seelen gefunden.

Die leidenschaftliche Beziehung zu dieser ungewöhnlichen Frau löste bei Dehmel schwere Konflikte aus, schließlich waren aus der Ehe mit Paula drei Kinder hervorgegangen: Veradetta (*1890), Heinz Peter (Heinrich) (*1891) sowie Liselotte (*1897). Zugleich war es aber auch eine seiner produktivsten Phasen. So versuchte er sich mit seinem ersten Drama Der Mitmensch (1896) sowie mit Lucifer. Ein Tanz- und Glanzspiel (1899) als Dramatiker, jedoch mit wenig Erfolg. Große Aufmerksamkeit erfuhr er dagegen mit dem Gedichtband Weib und Welt (1896). Das darin enthaltene Gedicht Venus Consolatrix brachte ihm eine Anklage wegen Verletzung von religiösen und sittlichen Gefühlen ein. Dehmel hatte hier die biblische Figur der Maria Magdalena mit der römischen Göttin der Schönheit, des Lebens und der Sexualität verglichen.

Und schweigend lüpfte sie die rote Rüsche
und nestelte an ihren seidnen Litzen
und öffnete das Kleid von weißem Plüsche
und zeigte mir mit ihren Fingerspitzen,
die zart das blanke Licht des Sternes küßte,
die braunen Knospen ihrer bleichen Brüste,
dann sprach sie weiter: Sieh! dies Fleisch und Blut,
das einst den kleinen Heiland selig machte,
bevor ich an sein großes Kreuz ihn brachte,
Maria ich, die Nazarenerin –
o sieh, es ist des selben Fleisches Blut,
für das der große Heiland sich erregte,
bevor ich in sein kleines Grab ihn legte,
Maria ich, die Magdalenerin –
komm, stehe auf, und sieh auch Meine Wunden,
und lerne dich erlösen und gesunden!

Nach dem Urteil des Berliner Landgerichts musste etwa die „sündige“ Hälfte des Gedichtes (Zeile 24-42) geschwärzt und bei späteren Ausgaben in die Lücke die amtliche Mitteilung eingefügt werden: „Der Mittelsatz dieser Phantasie, der die sagenhaften Tugenden der Magdalenischen und Nazarenischen Maria in dem hier dargestellten weiblichen Wesen vereinigt zeigt, ist durch Urteil des Berliner Landgerichtes vom 30. August 1897 für unsittlich erklärt worden und darf daher öffentlich nicht mitgeteilt werden“. Der Skandal und die literarische Auseinandersetzung – sogar seine Schriftstellerkollegen entzweiten sich darüber (der national-konservative Balladendichter Börries von Münchhausen hatte Anzeige erstattet) – hatten Dehmel jedoch nicht geschadet, vielmehr stieg seine Bekanntheit. Zu seiner Verteidigung äußerte er sich so: „In dieser Dichtung wird um das Höchste gerungen, worum die Menschheit seit Urzeiten gerungen hat: um die Herrschaft des Geistes über die Triebe. Und ich glaube sagen zu dürfen, dass hier sieghaft gerungen wird. Es ist freilich nicht der Sieg, den der christliche Geist des Mittelalters errang oder der heidnische Geist der Antike; es ist der Sieg einer neuen Humanität. Meine Zeit kann mich dafür verurteilen, die Zukunft wird mich freisprechen.“

Bei diesem Aufreger gerieten die Naturgedichte, die in Weib und Welt enthalten waren und zu den schönsten Versen um die Jahrhundertwende gehörten, zur Nebensache. Es gab aber auch Stimmen, die den neuartigen Klang und die hohe Sprachkunst würdigten – als „absolute Meisterwerke der deutschen Lyrik“ etwa der Dramatiker und Theaterkritiker Julius Bab, der 1926 mit Richard Dehmel. Die Geschichte eines Lebenswerkes eine der ersten Dehmel-Biografien vorlegte. Eines dieser Gedicht hat den Titel Manche Nacht:

Wenn die Felder sich verdunkeln,
fühl‘ ich, wird mein Auge heller,
schon versucht ein Stern zu funkeln
und die Grillen klingen schneller,

jeder Laut wird bilderreicher,
das Gewohnte sonderbarer,
hinterm Wald der Himmel bleicher,
jeder Wipfel hebt sich klarer,

und du merkst es nicht im Schreiten,
wie das Licht verhundertfältigt
sich entringt den Dunkelheiten,
plötzlich stehst du überwältigt.

Den betrügerischen Konkurs und die Verurteilung ihres Ehemanns nahm Ida Auerbach 1898 zum willkommenen Anlass, ihre unglückliche Ehe aufzulösen; wenig später willigte auch Paula Dehmel in die Scheidung ein. Ida und Richard unternahmen daraufhin 1899 und 1900 ausgedehnte Reisen durch Deutschland, Italien und Griechenland und heirateten schließlich im Oktober 1901 in London. Das Paar zog nach Blankenese bei Hamburg, wo Detlev von Liliencron in der Nachbarschaft wohnte. Als sein enger Freund 1909 starb, ordnete Dehmel seinen literarischen Nachlass und bereitete die Ausgabe seiner Briefe und die Gesamtausgabe seiner Werke vor.

Nach siebenjähriger Arbeit erschien Anfang 1903 Zwei Menschen. Roman in Romanzen, ein kunstvoll, fast architektonisch aufgebautes Werk aus drei Umkreisen mit je 36 Romanzen zu 36 Versen. Zwei Menschen gilt als Dehmels Hauptwerk, das in Zwiesprache von zwei Liebenden erzählt, die „über Trieb und Begierde, über alles Irdische hinweg zum Ewigkeitsgefühl emporwachsen und -reifen“ (Alfred Biese).

Da – o Glück:
ahnst du sie, die Pflicht der Welt?
Ja: von Sphären hin zu Sphären
muß sie Saat aus Saaten gebären,
bringt sie uns das Licht der Welt:
rieselnd wie aus dunklem Siebe
sät es Liebe, Liebe, Liebe
von Nacht zu Nacht, von Pol zu Pol –
Zwei Menschen sagen sich Lebwohl.

Indiz für die erstaunliche Wirkungsbreite von Dehmels Gedichten – vor allem aus Weib und Welt und Zwei Menschen – sind auch die zahlreichen Vertonungen von berühmten Komponisten wie Richard Strauß, Max Reger, Hans Pfitzner oder Kurt Weill. Am bekanntesten ist wohl die Komposition (op. 4 für Streichsextett) von Arnold Schönberg zu dem berühmten Gedicht Verklärte Nacht.

Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.

Schönberg bewunderte Dehmel, dessen Lyrik ihm den Weg zu einem ureigenen Stil wies: „Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluss gehabt. Durch sie war ich zum erstenmal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen.“

In dem 1904 als „Anti-Struwwelpeter“ gedachten Kinderbuch Der Buntscheck – Ein Sammelbuch herzhafter Kunst für Ohr und Auge deutscher Kinder waren Richard und Paula Dehmel neben anderen Autoren (u.a. Liliencron, Scheerbarth und Hoffmann-Fallersleben) noch einmal mit mehreren Texten gemeinsam vertreten. Mit den zahlreichen farbigen Jugendstil-Illustrationen (teilweise mit Goldfarben) war das Kinderbuch ein kleines Gesamtkunstwerk. Nach Zwei Menschen und Buntscheck widmete sich Dehmel der zehnbändigen Gesamtausgabe seiner Werke (S. Fischer 1906-1909), in die auch zahlreiche Essays Aufnahme fanden, in denen er seine ästhetischen und literarischen Anschauungen geäußert hatte. 1913 erschien bei S. Fischer noch eine dreibändige Volks-Ausgabe.

In den 1900er Jahren waren Richard und Ida Dehmel häufig auf Vortragsreisen quer durch Deutschland unterwegs, wo ihr Mann neben eigenen auch fremde Gedichte zu Gehör brachte. Dabei wurden die Lesungen wie ein Kunstwerk inszeniert bis hin zu Dehmels Kleidung nach Idas Entwürfen. Der Schriftsteller und Kunsthistoriker Eugen Kalkschmidt erinnerte sich später in Vom Memelland bis München. Erinnerungen (1948) an einen dieser Vortragsabende: „Dehmel […] verblüffte schon durch seine äußere Erscheinung: klein, dürr und drahtig, betrat er mit federnden Schritten das Podium. Ein glockenartiger Gehrock mit hochgeschlossener Weste, eine schwarze Halsbinde, die Rock und Weste nach oben abschloss und vom weißen Kragen nur einen Streifen sehen ließ; und eine Goldkette, die vom Halse bis zum Gürtel reichte, in diesem Aufzuge lag eine unverkennbare Betonung seiner lyrischen Sondermission.“

Daheim in Blankenese engagierte sich Ida Dehmel für Frauenklubs, Künstlerinnenvereinigungen und das Frauenstimmrecht. Mit ihrem Charisma initiierte sie 1906 den Hamburger Frauenklub am Neuen Jungfernstieg, wurde 1911 Vorsitzende des Norddeutschen Verbandes für Frauenstimmrecht und gründete 1913 den Bund Niederdeutscher Künstlerinnen. 1926 rief sie schließlich die „Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen“ (kurz GEDOK) ins Leben, die heute noch aktiv ist.

Zum 50. Geburtstag des Dichters konnte das Ehepaar mit großzügigen Zuwendungen von Freunden und Gönnern ein zunächst zur Miete bewohntes Haus erwerben. Damals ein internationales Presseereignis. Das sogenannte „Dehmelhaus“ hatte der Architekt Walther Baedeker errichtet und wurde von dem feinsinnigen Paar mit Garten, Interieur, Sammlung und Archiv zu einem Gesamtkunstwerk umgestaltet. Die Möbel hatten der Designer Peter Behrens oder Dehmel selbst entworfen, die Lampen und floralen Tapeten stammten von Emil Orlik.

Die Villa in der Blankeneser Westerstraße (heute Richard-Dehmel-Straße) wurde schnell zu einem Zentrum des Hamburger Kulturlebens, in dem Gleichgesinnte wie Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Harry Graf Kessler, Max Liebermann, Karl Schmidt-Rottluff, Walther Rathenau oder Richard Strauss verkehrten. Stefan George, der andere Lyrik-„Superstar“ um die Jahrhundertwende, fehlte allerdings in dieser illustren Gesellschaft. „Der Meister“ mit seiner formstrengen Kunstauffassung und Dehmel mit seiner sinnlichen Lyriksprache waren hasserfüllte Rivalen, die sich öffentlich beleidigten und die Werke des Konkurrenten diffamierten: „zum schlechtesten und widerwärtigsten was mir in die hände kam“ (George) – „George glaubt, die(!) Kunst gepachtet zu haben […] Jener will die Kunst um der Kunst willen; wir wollen eine Kunst fürs Leben, und das Leben ist vielgestaltig, durchaus kein Tempel für nur Eingeweihte.“ (Dehmel) Ein möglicher Auslöser dieser Feindschaft könnte verschmähte Liebe gewesen sein – vor der Beziehung zu Dehmel war Paula die Muse des jungen George gewesen.

Nach langem Schweigen – abgesehen von der Verskomödie Michel Michael (1911) – gab Dehmel mit Schöne wilde Welt (1913) einen neuen Gedichtband heraus. Neben Naturgedichten klangen hier auch nationale Töne („Volkes Stimme, Gottes Stimme“) an, mit denen er sich in die Schar jener einreihte, die den Krieg begrüßten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich der fünfzigjährige Dehmel als Freiwilliger; doch nach zwei Jahren kehrte er ernüchtert und verstört zurück. Sein letztes großes literarisches Ereignis sollte die Uraufführung seines Dramas Die Menschenfreunde werden, das gleichzeitig im November 1917 in Berlin, Dresden und Mannheim auf die Bühne kam. Das Stück, in dem es um einen Rechtsstreit geht, war eine Fortsetzung seines dramatischen Erstlings Der Mitmensch.

Im Oktober 1918, die Endphase des Ersten Weltkrieges vor Augen, veröffentliche Dehmel im Vorwärts den Aufruf Einzige Rettung, in dem er zu einer letzten militärischen Kraftanstrengung unter Einbeziehung eines Freiwilligenheeres aufrief. Einige Tage später entgegnete ihm Käthe Kollwitz scharf: „Es ist genug gestorben! Keiner darf mehr fallen! Ich berufe mich gegen Richard Dehmel auf einen Größeren [Goethe], welcher sagte: ,Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden‘.“ Doch nicht genug, kurz vor Weihnachten 1918 veröffentlichte Dehmel noch einmal ein Manifest Warnruf an die Siegermächte, in dem er u.a. den geplanten Völkerbund eine „Räuber-Innung“ nannte. Unterschrieben wurde es von zahlreichen Prominenten, andere verweigerten jedoch die Unterschrift.

Im Januar 1919 trat Dehmel zum letzten Male öffentlich auf und beschwor während einer Revolutionsfeier in der Berliner Volksbühne den „Geist der Empörung“. Im Herbst erschien sein Kriegstagebuch Zwischen Volk und Menschheit – eine Vermengung von nationalem Pathos und der Forderung nach dauerhaftem Frieden. Vielleicht liegt in dieser zwiespältigen Haltung ein Grund für sein schnelles Verschwinden aus dem öffentlichen Interesse.

Am 8. Februar 1920 starb Richard Dehmel in Blankenese an einer Venenentzündung, die er sich durch die Teilnahme am Krieg zugezogen hatte. Obwohl sich Ida Dehmel nach dem Tod ihres Mannes als Nachlasspflegerin unermüdlich um sein Werk kümmerte und mit Freunden die Dehmelstiftung und die Dehmelgesellschaft gründete, verblasste sein Ruhm sehr schnell. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlor Ida als jüdisch-deutsche Kunstförderin alle Ämter und wurde mit einem Publikationsverbot belegt. Dem Verleger Peter Suhrkamp gelang es mehrere Monate lang, ihre Deportation zu verhindern. Vor Angst und Einsamkeit nahm sich Ida Dehmel am 29. September 1942 das Leben. Erst Ende der 1950er Jahre, als sich die Literaturgeschichte den literarischen Strömungen um die Jahrhundertwende verstärkt annahm, rückte auch Richard Dehmel mit seinen Dichtungen wieder in den Fokus.

Zum 100. Todestag legt der Wallstein Verlag mit „Schöne wilde Welt“ – Richard Dehmel in den Künsten einen Sammelband vor, in dem verschiedene Autoren den Spuren von Richard Dehmel in Malerei, Musik und Literatur nachgegangen sind. Auf vielfältige Weise hat er das Geistesleben um die Jahrhundertwende mitgeprägt. Die Spuren, die das Phänomen hinterließ, sind zahlreich und lassen sich nur im historischen und kulturellen Kontext erklären. So betont die Herausgeberin Carolin Vogel (Vorstandsmitglied der Dehmelhaus Stiftung) in ihrem Vorwort: „Richard Dehmel lebte sein Leben als Gesamtkunstwerk, das nach einer ganzheitlichen Sichtweise verlangt.“

Der Literaturwissenschaftler Björn Spiekermann widmet sich mit der Lyrik dem eigentlichen Schaffen von Richard Dehmel, wobei er das Spektrum seiner lyrischen Themen und Ausdrucksformen näher beleuchtet – von der Naturlyrik über großangelegte Ideengedichte oder humoristischen Schnurren bis zu den Liebesgedichten, die weit über „Tabubruch und Prüderiekritik“ hinausreichen. Obwohl Dehmel sich in der Vorrede zu den Gesammelten Werken über die einseitige Fixierung seines lyrischen Œuvres beschwerte („Unter meinen mindestens 500 Gedichten befinden sich einige, die sich in unverheuchelter Art mit den brutalen Instinkten des menschlichen Geschlechtslebens befassen; es sind im ganzen höchstens 10, aber gewisse Leute scheinen nur immer grade diese bei mir zu lesen.“), weist Spiekermann darauf hin, dass aus heutiger Sicht diese Schwerpunktsetzung berechtigt ist, liegt doch hier eine von Dehmels bleibenden literarischen Leistungen. Die sorgfältige buchkünstlerische Gestaltung, die bei Dehmel bis zur thematischen Anordnung der Gedichte reicht, ist ebenfalls Bestandteil der Betrachtung.

Richard Dehmels Motiven in der Musik geht der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling nach. Die starke Resonanz, auf die seine Lyrik bei Musikfreunden stieß, lässt sich aus der damaligen Blüte des Kunstliedes erklären. Die Komponisten interessierten sich verstärkt für vertonbare Gedichte; mitunter wandten sie sich direkt an die Dichter. An Dehmels Gedichten faszinierte sie die Kraft seiner lyrischen Bilder und das sinnliche Lebensgefühl. Dehmel gehörte um die Jahrhundertwende zu den meistvertonten deutschen Dichtern. Bis 1913 lassen sich bereits rund 500 Dehmel-Vertonungen nachweisen. Nebeneffekt dieser gegenseitigen Befruchtung war, dass durch die wachsende Zahl von Liederabenden auch die Dichter um 1900 verstärkt mit Lesungen hervortraten.

Dehmel war stets um die sorgfältige buchkünstlerische Gestaltung seiner Werke bemüht – teilweise mit eigenen Entwürfen. Dass sein enges Verhältnis zu den bildenden Künsten aber weiter reichte, untersucht der Kunsthistoriker Peter-Klaus Schuster. Er schildert die Wechselwirkungen mit Künstlern wie Edvard Munch oder Max Klinger. Besonders intensiv und produktiv war die Zusammenarbeit mit dem Formgestalter Peter Behrens. Dehmels Interesse galt aber nicht nur dem Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil sondern auch der heraufkommenden Kunst des Expressionismus, mit dessen Vertretern er korrespondierte.

Der Wirtschaftswissenschaftler Roland Stark macht abschließend auf Dehmel als Autor und Herausgeber von Kinderbüchern aufmerksam. Angeregt von seiner ersten Frau Paula hatte er in den verschiedensten Zeitschriften Kindergedichte und -geschichten publiziert. In Fitzebutze hatten dann beide ihre Kinderlieder herausgegeben. Der Verkaufserfolg blieb jedoch aus, da viele Eltern das Buch für ihren Nachwuchs als schädlich ansahen. Das Sammelwerk Buntscheck hatte Dehmel als Gesamtkunstwerk zusammengefügt und viel Zustimmung erhalten, trotzdem war der Absatz unbefriedigend. Heute ist das Buch eine Kostbarkeit im Antiquariat, für die man schon eine vierstellige Eurosumme hinblättern muss. Schließlich versammelte Dehmel seine kinderliterarischen Dichtungen im sechsten Band der Gesammelten Werke.

Über den 100. Todestag von Richard Dehmel soll aber nicht der 150. Geburtstag von Ida Dehmel (14. Januar) vergessen werden. Aus diesem Anlass veranstalten der Bundesverband GEDOK e. V. und die GEDOK-Regionalgruppen in diesem Jahr bundesweit ein umfangreiches Programm. Außerdem werden wieder zwei Literaturpreise ausgelobt. Zum Doppeljubiläum zeigt die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg noch bis zum 22. März die Ausstellung „Zwei Menschen. Richard und Ida Dehmel in Hamburg“. Am 8. Februar findet zudem ein Konzert in der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg statt.

Titelbild

Carolin Vogel (Hg.): „Schöne wilde Welt“. Richard Dehmel in den Künsten.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
162 Seiten, 46, z.T. farbige Abb., 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835336148

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