Das Ideal einer absoluten Kunst und sein Verkünder
Zum 150. Geburtstag von Stefan George
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseStefan George war einer der bedeutendsten Lyriker des deutschen Symbolismus und Zentrum eines Kreises von Freunden und Jüngern, der sich als geistige Elite verstand. Und dennoch ist Stefan George bis heute ein Rätsel geblieben. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg, als George im Zenit seines Schaffens und Ruhms stand, nannte ihn der Literaturhistoriker Alfred Biese in seiner dreibändigen Deutsche Literaturgeschichte „einen streng wahrenden Priester der Hochstehenden […] einen Fanatiker der Pose und des guten Geschmacks“, dessen Gedichte von „edler Architektur“ seien. Über ein halbes Jahrhundert später urteilte Marcel Reich-Ranicki (Meine Geschichte der deutschen Literatur, in seinem Aufsatz über Karl Kraus): „hochmütiger und größenwahnsinniger Anspruch auf Unfehlbarkeit und auf totale Unterwerfung“. Stefan George – der Lyriker, der Spracherneuerer, der Prophet und Lehrer, oder doch nur geschickte Selbstinszenierung? Bei allen berechtigten Widersprüchen hatte George der Lyrik „eine neue, unverschlissene Sprache“ (Wulf Kirsten) gegeben; ohne ihn wäre der deutsche Expressionismus kaum denkbar.
In Büdesheim – heute ein Ortsteil von Bingen – wurde Stefan Anton George am 12. Juli 1868 als zweites Kind des Gastwirtes Stephan George und seiner Ehefrau Eva geboren. Der Vater soll eine Frohnatur, ein genießender Rheinländer gewesen sein, die Mutter dagegen eher verschlossen und fromm. Die Familie väterlicherseits stammte eigentlich aus Lothringen und war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgewandert. Die französischen Wurzeln wurden jedoch in der Familie weiterhin gepflegt, so rief man den Sprössling mit der französischen Variante Etienne (bis 1889 unterzeichnete George mit diesem Rufnamen). Neben der älteren Schwester Anna Maria Ottilie (1866–1938) hatte Stefan George noch einen jüngeren Bruder, Friedrich Johann Baptist (1870–1925). Alle drei Geschwister blieben unverheiratet und kinderlos.
1873 zog die Familie nach Bingen, wo der Vater als Weinkommissionär und Weinhändler tätig war. Der kleine Stefan besuchte von 1876 bis 1882 die Bingener Realschule. Während der Schulzeit zeigte er vor allem Interesse für Fremdsprachen und entwickelte sogar eine eigene Geheimsprache. (Auch später entwarf er immer wieder Kunstsprachen.) Als 14-Jähriger wechselte er auf das Darmstädter Ludwig-Georgs-Gymnasium (bis 1888). Bei seinen Mitschülern galt George, der sich mit dem Nimbus des Geheimnisvollen und einer selbstgewählten Isolation umgab, als Sonderling mit einer ausgeprägten Fantasie. Es entstanden erste Gedichte, die er unter verschiedenen Pseudonymen erscheinen ließ. Eine Reihe davon in seiner Kunstsprache, die er anschließend selbst ins Deutsche übertrug.
Nach der abgelegten Reifeprüfung im März 1888 begab sich George zwei Monate später auf eine ausgedehnte Europareise. Erste Station war London, wo er das weltmännische Leben kennenlernte und fast ein halbes Jahr blieb. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in der Schweiz und in Oberitalien traf George im April 1889 schließlich in Paris ein, wo er durch den Schriftsteller Albert Saint-Paul in die literarische Szene eingeführt wurde – unter anderem Paul Verlaine oder André Gide. Die wichtigste Bekanntschaft führte ihn jedoch mit Stéphane Mallarmé zusammen. In dessen symbolistischer Dichtung sah der 21-jährige George die reinste Kunst, die „Poésie pure“. Der Paris-Aufenthalt war für ihn der wohl entscheidende Impuls, sich endgültig der Lyrik zuzuwenden. Obwohl George eine Zeitlang mit dem Gedanken spielte, Französisch zur Sprache seiner Dichtung zu machen, wollte er schließlich in Deutschland ähnlich richtungsweisend wirken, die deutsche Sprache als Dichtersprache erneuern und die Poesie zu einer fast sakralen Institution entwickeln.
Nach seiner Rückkehr – über Spanien und einem Kurzbesuch im Elternhaus – nahm George ein Studium an der Philosophischen Fakultät an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität auf – allerdings nur für drei Semester. Hier versammelte er gleichgesinnte Gefährten und Weggenossen um sich, die alle die Idee verband, eine neue Kunst zu schaffen. Neben Gedichten entstanden in dem zunächst gleichberechtigten Kreis auch Programme und Manifeste. Trotz dieser Gemeinschaft geriet George in eine schwere Krise und trug sich sogar mit dem Gedanken einer Auswanderung nach Mexiko. 1890 ließ er dann 17 Gedichte, die fast weihevoll daherkamen, unter dem Titel Hymnen als Privatdruck erscheinen. Bereits diese erste Veröffentlichung zeigt das typische Erscheinungsbild von Georges späteren Gedichten: die Verwendung von ungewöhnlichen Wortformen, eine fast feierliche Sprache, schmuckloses Antiqua-Schriftbild, durchgehende Kleinschreibung (mit Ausnahme von Eigennamen), Interpunktionslosigkeit und teilweise eine eigene Orthographie. Manche Gedichte begannen auf der linken Seite unten. Es folgten die Gedichtbände Pilgerfahrten (1891) und Algabal (1892), ebenfalls als Privatdrucke in 100 Exemplaren – recht schmucklos und von George selbst geheftet und gebunden. Sie waren nur für den Freundeskreis bestimmt, nicht für die größere Öffentlichkeit. Der Gedichtzyklus Algabal hatte dabei seine Wurzeln in der L’art pour l’art-Bewegung des französischen Ästhetizismus. George bediente sich hier des spätrömischen Kaisers Heliogabalus, um Parallelen für seine eigenen egomanischen Ansichten zu finden.
Der schöpfung wo er nur geweckt und verwaltet
Erhabene neuheit ihn manchmal erfreut ·
Wo ausser dem seinen kein wille schaltet
Und wo er dem licht und dem wetter gebeut.
In den Jahren 1891 und 1892 begab sich George wieder auf Reisen durch Europa: Kopenhagen, Paris Wien, München, England und wieder Wien, wo er im Dezember 1891 den sechs Jahre jüngeren Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) kennenlernte. Über diese Begegnung, das mehrschichtige Verhältnis – bis hin zu einer homoerotischen Beziehung – und schließlich das Zerwürfnis der beiden Dichter wird bis heute unter Literaturhistorikern gerätselt und spekuliert.
Im Herbst 1892 gründete George die ‚private‘ Zeitschrift Blätter für die Kunst, die bis 1919 in unregelmäßigen Abständen erschien. Mit ihr wollte George seine ästhetische Programmatik einer „GEISTIGEN KUNST“, einer „kunst für die kunst“ einem „ähnlichgesinnten“ Publikum vermitteln. Zunächst hatte die Zeitschrift eine Auflage von lediglich 100 Exemplaren, die nur in ausgewählten Buchhandlungen in Berlin, München, Wien und Paris erhältlich war. Auch später betrug die Auflagenhöhe selten mehr als 1.000 bis 1.500 Exemplare. Als Herausgeber fungierte Georges Mitschüler August Klein (1867–1952), während für die besondere künstlerische Ausgestaltung (unter anderem mit einer eigens entworfenen Schrifttype) meist der deutsche Grafiker und Buchkünstler Melchior Lechter (1865–1937) zuständig war. Der erste Band enthielt neben Auszügen aus seinen ersten Gedichtbänden das dramatische Fragment Der Tod des Tizian von Hugo von Hofmannstahl. George gelang es, auch andere zeitgenössische Schriftsteller, die meist noch unbekannt waren, für die Zeitschrift zu gewinnen – unter anderem Max Dauthendey (1867–1918), Karl Wolfskehl (1869–1948), Ludwig Klages (1872–1956), Friedrich Wolters (1876–1930) und Friedrich Gundolf (1880–1931). Aus diesen Mitarbeitern rekrutierte sich später weitgehend der sogenannte George-Kreis, zu dessen literarischem Sprachrohr sich die Blätter für die Kunst nun entwickelten. Hofmannsthal zog sich dagegen nach 1906 von ihr zurück; er hatte den esoterischen Charakter der Zeitschrift stets kritisch gesehen.
Vor diesem George-Kreis, in den 1890er Jahren, hatte George in München bereits Kontakt mit dem Kreis der „Kosmiker“ um Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Alfred Schuler (1865–1923). Der intellektuelle Schwabinger Kreis sah sich Nietzsches Kulturpessimismus verpflichtet. George nahm, wenn er in München weilte, an den Zusammenkünften und nächtelangen Diskussionen teil. Nach schweren Differenzen (unter anderem über den Antisemitismus einiger Kreismitglieder, womit sich George nicht identifizierte) kam es 1904 zum Bruch. Erwähnenswert und bedeutungsvoll für George war in der Münchner Zeit (1902) die Begegnung mit dem 14-jährigen Maximilian Kronberger. Der 32-jährige George fühlte sich zu dem begabten Gymnasiasten, der selbst Gedichte schrieb, hingezogen; man unternahm ausgedehnte Spaziergänge mit Gesprächen über die Schule, über Kunst und Dichtung. Als Max am 15. April 1904, einen Tag nach seinem 16. Geburtstag, an Meningitis starb, war George tief erschüttert. Zwei Jahre später veröffentlichte er Maximin. Ein Gedenkbuch, in das er neben 33 Gedichten Kronbergers auch einige Gedichte von trauernden Freunden aufnahm.
Mit dem Gedichtband Das Jahr der Seele (1897) endete Georges erste Schaffensperiode. Der Grundton der 94 Gedichte (im Kern jedoch Elegien), die in drei Sektionen unterteilt sind, ist düster und melancholisch; sie erzählen von Trauer, persönlichem Schmerz und innerer Leere. Die Außenwelt wird als Spiegelung der Innenwelt dargestellt. Der Schauplatz ist nicht die offene Landschaft, sondern ein symbolistischer Park:
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.
Die Jahreszeit Frühling wird ausgelassen – die trauernde Seele formt sich ihr eigenes Jahr, in dem es kein Frühjahr gibt. Mit seiner Dichtung schuf George einen Gegenpol zum klassizistisch-verklärenden Ideal des Münchner Dichterkreises um Emanuel Geibel und Paul Heyse. Seine absolute Distanz zur Wirklichkeit um die Jahrhundertwende war gepaart mit der Verachtung für das „Getobe“ des vulgären Realismus und Naturalismus: „Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa weisheit gelahrtheit) sondern die form“. Waren seine früheren Gedichtbände fast ohne Resonanz geblieben, so fand er nun mit Das Jahr der Seele Zugang zu einem breiteren Leserpublikum.
Der 1899 erschienene Gedichtband Der Teppich des Lebens trennte das Früh- vom Spätwerk des Dichters, der sich bei der Veröffentlichung in seiner Lebensmitte befand. Dominierte in den frühen Gedichten die ästhetizistische Lebensferne, reflektierte George jetzt die Frage nach seiner literarischen Bestimmung. Zugleich stellt der Band unter seinen insgesamt sieben Gedichtbänden die Mitte dar. Der Teppich des Lebens, der aus drei Gedichtzyklen besteht, zeichnet sich durch eine strenge, durchkomponierte Architektur aus („Strengstes maass ist zugleich höchste freiheit“). So bestehen alle 72 Gedichte aus vier Strophen mit jeweils vier Versen. Manche Gedichte sind paarweise angeordnet; die Dialogform vermag Spannung zu erzeugen.
Georges Kunstauffassungen fanden übrigens im westlichen Europa mehr Beachtung als in Deutschland; das lag sicher auch an seinen persönlichen Beziehungen – besonders nach Frankreich. Mit dem Erfolg der beiden Gedichtbände Das Jahr der Seele und Der Teppich des Lebens sowie der Aufnahme noch jüngerer Mitglieder veränderte sich der George-Kreis. War er zunächst ein Zirkel von gleichgesinnten und dichtungsbeflissenen jungen Intellektuellen, die für Poesie empfänglich waren und die „Neue Kunst“ einte, ging es jetzt um ein „Neues Leben“, zu dem die Kunst hinführen sollte. George hatte längst die dominierende Rolle des Kreises übernommen – er war der unbestrittene „Meister“, der seine „Jünger“ erzieherisch formen wollte. Mit einer klaren Rangordnung, die sich aus der Nähe zum „Meister“ ergab, organisierte sich die Gefolgschaft wie ein kleiner Hofstaat. Der priesterlich strenge Poet, der willenlose Unterordnung verlangte, lenkte aber auch ihre Begeisterung und weckte ihren Glauben, dass die von ihm geführte Elite eine kulturelle Erneuerung Deutschlands herbeiführen könne. (Der Autor und Literaturagent Thomas Karlauf zeichnete vor zehn Jahren in seiner umfassenden George-Biografie Die Entdeckung des Charisma ein genaues Bild vom Innenleben des legendären Kreises, wobei er auch Päderastie und Homosexualität nicht ausklammerte.)
1907 erschien mit Der siebente Ring Georges umfangreichster Gedichtzyklus. Der Titel bezog sich auf seine bisher veröffentlichten Gedichtsammlungen. George hatte den Band, der sieben Teile besaß, bewusst mit siebenjährigem Abstand zu Der Teppich des Lebens veröffentlicht. Der siebente Ring, in dem noch weitere Beispiele der Zahlensymbolik steckten, markierte eine weitere Abwendung Georges vom Symbolismus und besaß eine größere Formensprache als der Vorgängerband. Darüber hinaus war aus dem Spracherneuerer der Dichter-Seher in finsteren Zeiten geworden, der Ankläger einer tristen (wilhelminischen) Gegenwart und der Künder einer hehren Zukunft:
Ich euch gewissen · ich euch stimme dringe
Durch euren unmut der verwirft und flucht:
„Nur niedre herrschen noch · die edlen starben:
Verschwemmt ist glaube und verdorrt ist liebe.
Wie flüchten wir aus dem verwesten ball?“
Lasst euch die fackel halten wo verderben
Der zeit uns zehrt · wo ihr es schafft durch eigne
Erhizte sinne und zersplissnes herz.
JAHRHUNDERTSPRUCH
Zehntausend sterben ohne klang: der Gründer
Nur gibt den namen … für zehntausend münder
Hält einer nur das maass. In jeder ewe
Ist nur ein gott und einer nur sein künder.
Zentrum des Gedichtbandes bildete jedoch der Maximin-Zyklus, in dem George in 21 Gedichten (teilweise als Gebete) noch einmal den jugendlichen Freund als „vergöttlichten Toten“ ehrte, ihn zum neuen Messias, ja zum Mythos erhob.
In der Zeitschrift Das Jahrbuch für die geistige Bewegung – formell von den beiden George-Kreis-Mitgliedern Friedrich Wolters und Friedrich Gundolf in drei Jahrgängen (1910 bis 1912) herausgegeben – wurde die Zeitkritik noch deutlicher artikuliert. Es handelte sich dabei weniger um eine poetische Zeitschrift, sondern eher um eine polemische Publikation, deren Ton im Verlauf immer schärfer und radikaler wurde. Obwohl George nicht als Autor in den Jahrbüchern auftrat, war er doch an den Diskussionsrunden beteiligt.
In seinem nächsten Gedichtband Der Stern des Bundes (1914, als Privatdruck 1913) vertrat George nochmals seinen Anspruch als Mahner und Künder:
Ich bin der Eine und bin Beide
Ich bin der zeuger bin der schooss
Ich bin der degen und die scheide
Ich bin das opfer bin der stoss
Ich bin die sicht und bin der seher
Ich bin der bogen bin der bolz
Ich bin der altar und der fleher
Ich bin das feuer und das holz
Ich bin der reiche bin der bare
Ich bin das zeichen bin der sinn
Ich bin der schatten bin der wahre
Ich bin ein end und ein beginn.
Die 100 titellosen Sprüche des Gedichtzyklus galten seiner Jüngerschaft gewissermaßen als unantastbares ‚Gesetzbuch‘. Im Mittelpunkt stand die geistige Erhebung, doch ethnische Vorurteile, Frauenverachtung und die Ablehnung jeglicher Modernisierung warfen einen Schatten auf das ersehnte Menschenbild.
Stefan George und das Kapitel Erster Weltkrieg ist recht komplex und widersprüchlich. Obwohl er die traditionelle Vorstellung teilte, ein Krieg könnte Reinigung und Neuorientierung sein, brach er bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht in Jubel aus wie viele seiner Zeitgenossen. Er kritisierte sogar einige seiner Anhänger, die das „deutsche Reich“ und seine „Heldenhaftigkeit“ verherrlichten. Dieser Krieg „ging ihn nichts an“ – es war ein Krieg der Waffen und nicht des Geistes. So enthielt er sich zunächst jeder Stellungnahme und äußerte sich erst 1917 mit seinem Gedicht Der Krieg, das als Flugschrift in über 6000 Exemplaren (für George ganz ungewöhnlich) erschien:
Zu jubeln ziemt nicht: kein Triumph wird sein,
Nur viele Untergänge ohne Würde …
… Erkrankte welten fiebern sich zu ende
In dem getob.
Seine Kritik verharrte jedoch im Allgemeinen; für ihn war der Krieg mit seinen Exzessen lediglich die grauenvolle Steigerung jener Katastrophe, die er vorausgeahnt hatte. Hatte George anfänglich den Kriegsdienst als Pflicht angesehen – auch für seine „Jünger“, so trieb ihn später die Sorge um die Mitglieder des Kreises, die letztendlich auch einen hohen Blutzoll (teils durch Suizid) entrichten mussten. Nach Kriegsende versuchte George die dezimierte Schar des Kreises, der sich jetzt „Staat“ nannte, zu reorganisieren und seine Geschlossenheit wiederherzustellen. Ab Mitte der 1920er Jahre gehörten auch die Brüder Stauffenberg (Alexander (1905–1964), Berthold (1905–1944) und Claus (1907–1944)) dem George-Kreis an, der nach Heidelberg (in den 1910er Jahren) und Marburg (Anfang 1920) nun in Berlin seinen Hauptsitz fand.
Die geschichtliche und soziale Entwicklung der Weimarer Republik interessierte George, inzwischen körperlich geschwächt, wenig. In seinem 1928 erschienenen Band Das Neue Reich, in dem er die seit 1908 entstandenen Gedichte versammelte, die er nicht in Der Stern des Bundes aufgenommen hatte, beschwor er noch einmal eine Erneuerung Deutschlands – so beispielsweise in Der Dichter in Zeiten der Wirren:
Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht · er heftet
Das wahre sinnbild auf das völkische banner
Er führt durch sturm und grausige signale
Des frührots seiner treuen schar zum werk
Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.
Mit solchen Versen des Auserwähltseins geriet er natürlich in die Nähe von konservativ-völkischem Gedankengut. Obwohl Klaus Mann bereits 1933 in Das Schweigen Stefan Georges die nationalsozialistisch gefärbte Interpretation der George-Lyrik entschieden abgelehnt hatte, wird bis heute kontrovers darüber diskutiert: War George (wie Nietzsche) ein „Stichwortgeber“ und Wegbereiter der Nationalsozialisten? Zwar hatte er sich niemals öffentlich zum Faschismus bekannt, doch sich auch niemals öffentlich distanziert, nach außen war er zu keiner Stellungnahme bereit. Tatsache ist jedoch, dass er sich nicht vereinnahmen und vor den Karren spannen ließ. Das „Dritte Reich“ hatte mit seinem geistigen „Neuen Reich“ nichts gemeinsam. Als er angebotene Ehrungen (unter anderem die Präsidentschaft einer neuen deutschen Akademie für Dichtung) und Auszeichnungen ablehnte, verloren die neuen Machthaber das Interesse an ihm. Um der heiklen Tagespolitik aus dem Weg zu gehen – was jedoch keiner Emigration entsprach –, verbrachte George den Großteil seiner beiden letzten Lebensjahre im Schweizerischen Minusio, einem Bauerndorf bei Locarno, wo er am 4. Dezember 1933 starb. Zur Beisetzung waren die meisten seiner Jünger herbeigeeilt, wo es noch am Grab zum Streit über den offiziellen Kranz (mit Hakenkreuz) des deutschen Gesandten kam. Bald danach begann auch die kontroverse und verbitterte Auseinandersetzung um das geistige Erbe des „Meisters“.
Fast könnte man annehmen, Stefan George sei längst vergessen, nur noch bloßes Objekt von Literaturwissenschaftlern, eingefleischten Lyrikfreunden oder Esoterikern. Wäre da nicht die Geschichte von Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der nach dem gescheiterten Hitler-Attentat mit dem Ruf „Es lebe unser heiliges Deutschland!“ starb. So steht es jedenfalls in den Geschichtsbüchern. Andere Zeugen der Hinrichtung vom 21. Juli 1944 glauben jedoch, „Es lebe unser geheimes Deutschland!“ gehört zu haben – schließlich war Stauffenberg einer der letzten Vertrauten Georges.
Stefan George, der sich in der Tradition von Klopstock, Platen, C.F. Meyer und vor allem als Fortsetzer der Hölderlinschen Dichtung sah, wollte mit seinem Werk die Schönheit der Dichtung zurückgewinnen, „ihre Würde und priesterliche Reinheit“. Diesem elitären Vorhaben, das er mit asketischem Ernst verfolgte, unterwarf er nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch seinen intellektuellen Kreis, den er zum Künstlerstaat gestalten wollte. Sein Werk stand ganz im Zeichen der Kulturerneuerung. Und so diskutiert man bis heute, ob Stefan George neben Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder Paul Celan zu den bedeutendsten deutschen Lyrikern des 20. Jahrhunderts gehört.
Auch an seinem 150. Geburtstag wird man sicher in den Feuilletons darüber gebührlich streiten. Bereits in den letzten Wochen war der George-Jahrestag Anlass für einige Publikationen. An erster Stelle wäre da die umfangreiche Biografie Stefan George. Dichter und Prophet von Jürgen Egyptien zu nennen. Detailliert beschreibt der Literaturhistoriker, der an der RWTH Aachen Neuere deutsche Literaturwissenschaften lehrt, nicht nur Georges Lebensweg mit seiner charismatischen Ausstrahlung, sondern auch die immense Wirkung des „Meisters“ auf die deutsche Geistesgeschichte. Neben diesen zentralen Aspekten finden sich auch ausführliche Beschreibungen und Charakterzeichnungen der Literaturszene der französischen Symbolisten oder des George-Kreises. Die Biografie ist das Ergebnis einer ein Vierteljahrhundert währenden kontinuierlichen Auseinandersetzung mit George und seinem Dichterkreis. Egyptien, der auch Herausgeber des Stefan George-Werkkommentars ist, konnte dabei auf bisher nicht bekannte Quellen in verschiedenen Archiven im In- und Ausland zurückgreifen, was sich neben den Auszügen aus den Werken Georges in mehr als 100 Zitaten aus diesen Quellen niederschlägt. Gerade diese Mischung von Biografie, Literaturgeschichte, Textauszügen und gelegentlichen Gedichtkommentierungen machen den Reiz und den Gewinn dieser Neuerscheinung aus. Die Absicht des Autors, wie er im Nachwort betont, zielte darauf, „dem faszinierenden und provozierenden Phänomen George möglichst vorurteilsfrei und ohne ideologische Scheuklappen näher zu kommen“. Ein Vorhaben, das ausgewogen, informationsreich und vorzüglich gelungen ist.
In der Reihe „textura“ des C.H. Beck Verlags ist unter dem Titel Geheimes Deutschland eine Auswahl von 100 Gedichten erschienen, in denen George neben deutschen Landschaften und Städten auch den Aufbruch in ein neues Deutschland thematisierte. Im Wilhelminischen Kaiserreich sah George keine Realisierung in seinem Sinne. Sein „Geheimes Deutschland“, das durchaus europäische Perspektiven beinhaltete, war ein Erneuerungspathos von Antike, Christentum und Humanismus und knüpfte an die mittelalterliche Reichsidee an. Vorbild für Georges Gedankengebilde war Hölderlin und dessen literarische Utopie eines geistigen Deutschlands. Der Dichter als Wegbereiter und Erzieher eines geheimen und besseren Deutschlands, als Seher einer Reichsutopie, die bei George aber durchaus völkische Züge trug. Die Formulierung „Geheimes Deutschland“ stammt wohl nicht von George selbst, wie der Herausgeber Helmuth Kiesel in seinem Nachwort ausführt. Mit seiner Auswahl und den knappen Erläuterungen zu jedem Gedicht will er sowohl Georges europäische Gesinnung wie auch seine heilsbringenden, nationalen Vorstellungen sichtbar machen.
Eine weitere (schmale) Auswahl Dies ist ein Lied für dich allein mit 40 Gedichten ist in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung erschienen. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf den pointierten Deutungen der Gedichte, die von Ute Oelmann, Leiterin des Stefan-George-Archivs, und Wolfgang Braungart, erster Vorsitzender der Stefan-George-Gesellschaft e.V. Bingen, seit 2014 monatlich auf der Homepage der Stadt Bingen veröffentlicht wurden. Für die Buchform wurden die Texte etwas überarbeitet und nach der Chronologie des Werkes angeordnet. Die Auswahl reicht von Georges ersten Lyrikbänden Hymnen, Pilgerfahrten und Algabal bis zum Schlussband der Gesamtausgabe. Mit ihren Deutungsversuchen wollen die beiden Literaturhistoriker einen Zugang an das literarische Werk Georges schaffen; wobei sie sich nicht in erster Linie an Lyrik-Fachleute, sondern an einen größeren Leserkreis richten.
Abschließend (nicht nur der Vollständigkeit halber) sei hier neben der bereits erwähnten Biografie Die Entdeckung des Charisma von Thomas Karlauf (2008) auch Stefan George. Eine Biographie von Kai Kauffmann (2014) angeführt. Neben der bewegten Biografie Georges wendet sich der Literaturwissenschaftler in separaten Kapiteln immer wieder dessen Werk zu und bringt so beide in eine enge Wechselbeziehung.
Bei aller Aufmerksamkeit, die in diesen Tagen verständlicherweise dem „Meister“ zuteilwird, zum Schluss eine kurze Anmerkung zu seinen „Jüngern“, von denen einige durchaus literarisch Eigenständiges und Beachtliches hervorgebracht haben – allen voran Friedrich Gundolf, der mit seinen großen Biografien Goethe (1916), Cäsar (1924) und Shakespeare (1928) in den 1920er Jahren einer der meistgelesenen Germanisten war. Gelegentlich werden seine Werke noch heute verlegt, denn eine Lektüre lohnt sich auch nach fast 100 Jahren noch. In dem Handbuch Stefan George und sein Kreis (2012) wird ausführlich auf die Rezeption und Wirkung des George-Kreises eingegangen, der seine Fäden durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts gewoben hat. Ulrich Raulff (Vorstandsmitglied der Stefan-George-Gesellschaft) dagegen beschäftigt sich in Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben (2009) vorrangig mit dem George-Kreis in der Zeit nach dem Tod des „Meisters“.
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