Klugheit, Skepsis und Ironie im Dienst von bitterer Kritik
Voltaires „Philosophisches Taschenwörterbuch“ erscheint erstmals auf Deutsch
Von Martin Lowsky
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVoltaire (1694–1778), der französische Denker und Schriftsteller der Aufklärung, war sehr produktiv. Er hat Essays, Erzählungen, Theaterstücke und Abhandlungen zur französischen und zur Weltgeschichte verfasst. Mehrfach war er wegen Majestätsbeleidigung in Haft. Sein Philosophisches Taschenwörterbuch von 1764 hat er als ein Nebenwerk angesehen, es aber in Neuauflagen auf den achtfachen Umfang erweitert. Auf Deutsch ist dieses Werk nie vollständig erschienen, selbst der Kern des Ganzen, die Urfassung von 1764, wurde in Deutschland nur ausschnittweise bekannt. Diese Erstausgabe mit ihren 73 Artikeln legt Reclam jetzt erstmals vollständig auf Deutsch vor, als soliden, ja schön gestalteten Band in Halbleinen. Die einzelnen Stichwörter, also die Überschriften der Artikel, werden auch in ihrer französischen Fassung genannt, und entsprechend wird – eine vorzügliche Idee! – Voltaire zu Ehren seine ursprüngliche alphabetische Artikel-Reihung beibehalten. (Ein deutsches Register ist hinzugefügt.) So kommt der Beitrag ‚Seele‘ (franz. âme) ziemlich am Anfang, der Beitrag ‚Verrücktheit‘ (franz. folie) in der Mitte und ‚Aberglaube‘ (franz. superstition) gegen Ende. Dieses Wörterbuch ist natürlich kein Philosophie-Handbuch im akademischen Sinne. Voltaire wollte seine Kritik an den Menschen, den Zuständen und den Idealen seiner Zeit verbreiten und arbeitete dafür mit vielfältigen Stichwörtern, die die Leselust anregen sollen.
Voltaire kämpft gegen soziale Missstände: Im Artikel ‚Gleichheit‘ beklagt er, die Menschen seien weltweit in zwei Klassen eingeteilt, „die eine ist die Klasse der Unterdrücker und die andere die der Unterdrückten“. Im Artikel ‚Apis‘ nennt er die ägyptischen Pyramiden „elende Steinhaufen“ und stellt fest, sie seien „Denkmäler eines versklavten Volkes“. Kriege seien „höllische Unternehmungen“, zumal der Anführer „Gott anruft“, ehe er seine Nächsten auslöscht. Voltaire wendet sich ebenfalls gegen Vorurteile, sagt zum Beispiel über „die Menschenfresser“ (als solche sah man damals viele überseeische Völker an), sie seien nicht schlimmer als die, die ihre Gefangenen den Raubtieren zum Fraß vorwerfen oder ihrem Gott Menschenopfer bringen. In diesem Sinne attackiert er auch einen falschen Tugendbegriff: Tugend, erklärt er, sei das, „was zum Wohle der Gesellschaft beiträgt“; keine Tugend sei, wenn ein Frommer in der Einsamkeit betet. Dies liest sich wie schnell dahingesagt, ist jedoch, kein Zweifel, sehr tiefsinnig. Überhaupt fasziniert das Wörterbuch durch sein ‚Tempo‘, also dadurch, dass es gleichsam atemlos von einem Gedanken zum nächsten springt.
Immer wieder setzt sich Voltaire mit der Bibel auseinander. Er brandmarkt ihre „abscheulichsten Grausamkeíten“, zitiert voller Spott die Huren-Episoden aus dem Buch Hesekiel und nennt die Sintflutgeschichte ein „absurdes Hirngespinst“ (dies im Artikel ‚Überflutung‘). Natürlich reißt solche Bibelkritik uns heute, salopp formuliert, nicht mehr vom Hocker, aber packend ist, wie akribisch Voltaire dabei argumentiert: Die Welt voller Wasser widerspreche der physikalischen „Strömungslehre“, die Ernährung über Wochen hin in der Arche sei nichts als ein Wunder. Vor allem aber müssen wir bedenken: Die Kirche samt ihren Mythen war damals die moralische, geistige und weltanschauliche höchste Instanz, was sie brutal ausnutzte; Voltaire erkannte sie als seine Hauptgegnerin. Allerdings schätzt Voltaire auch Manches: etwa die Josef-Geschichte des Alten Testaments („bewegender als Homers Odyssee“) und den Apostel Paulus, für den die Nächstenliebe schwerer wiege als Glaube und Hoffnung.
Doch ist Voltaire auch Pessimist. Eine Gesellschaft ohne Religion nennt er nicht lebensfähig, denn der Mensch brauche einen „rächenden Gott“: Für die heimlichen Verbrechen musste es eine Bremse geben, und „diese Bremse konnte allein die Religion sein“ – dies lehre nun einmal der Blick in die Geschichte. Freilich formuliert Voltaire hier sehr plakativ, und fast zwangsläufig steht anschließend der unausgesprochene Gedanke im Raum: Könnte eine zukünftige Welt nicht ganz anders sein?
Selbst gegenüber der Vernunft und dem Denken ist Voltaire skeptisch. Er erklärt sich zum Widerpart des Rationalisten René Descartes und dessen berühmter These: „Ich denke, also bin ich“. Stattdessen sagt Voltaire: „Ich bin Körper und ich denke“. Jedem Denken gehe die Sinneswahrnehmung voraus; schon diese sei unzuverlässig, und das anschließende Denken sei „für Störungen anfällig“ (laut Artikel ‚Verrücktheit‘). Für uns Deutsche, die wir unseren Begriff der Aufklärung an Kant und seinem Lob des Verstandes festmachen, erscheint Voltaire daher oft nicht als Aufklärer.
Wenn wir Voltaire an dieser Stelle ernstnehmen wollen, sollten wir den Spieß herumdrehen. Voltaire nähert sich mit seiner Warnung vor dem ‚störungsanfälligen Denken‘ schon modernen Einsichten der Psychoanalyse. Sigmund Freud sollte 1916 (in einer Vorlesung) den Satz aussprechen: „Das Ich ist nicht einmal Herr im eigenen Hause.“ Das Resümee muss hier lauten: Voltaire war seiner Zeit voraus.
Nochmals zum Thema Religion! Voltaire sucht zu ergründen, welche denn die beste Religion sei. So allerdings stellt er die Frage nicht, sondern er sagt: Unsere heilige Religion ist die einzige gute, alle anderen sind schlecht, und interessant ist es zu wissen, welche „die am wenigsten schlechte“ sei. Wäre es nicht eine solche, die „sehr wenige Dogmen“ hätte, die den gesunden Menschenverstand gelten ließe und „die nur die Anbetung eines Gottes, die Gerechtigkeit, die Toleranz und die Menschlichkeit lehren würde“? (Voltaire ist von der Existenz eines ewigen Schöpfergottes überzeugt.) Ironisch wird also die im Abendland herrschende Religion gepriesen und sodann in Frageform, scheinbar demütig und doch in radikalen Gedankenblitzen das Ideal einer gänzlich anderen, wahrlich humanistischen Religion entworfen.
Diese Ironie lässt sich auch an anderen Stellen des Werkes feststellen oder erahnen (zum Beispiel dort, wo Voltaire sehr plakativ formuliert). Die Ironie prägt weite Teile dieses Wörterbuches; es ist zumeist eine Ironie des verhaltenen, bescheidenen Auftretens, des sparsamen Wortschatzes, es ist die Ironie der Diplomatie. Die hier vorgelegte Übersetzung ist an einigen Stellen der Gefahr erlegen, Voltaires wortkarger Ironie aufzuhelfen. Wir lesen „eindeutig bewiesen“, wo im Original nur „évident“ steht; weitere Beispiele sind „Irrglaube“ (für Voltaires schlichtes „erreur“, d. h. Irrtum), „sei doch wohl besser“ (für „valait mieux“), „aus sicherer Entfernung vom Geschehen“ (für „de loin“). Leider wird der Name Ézéchiel mal mit „Ezechiel“, mal mit „Hesekiel“ wiedergegeben.
Trotzdem ist die Übersetzung zu rühmen. Sie ist insgesamt präzise, klar und dabei flüssig und angenehm lesbar. Ein Gremium von Germanisten und Voltaire-Spezialisten, auch von der Voltaire Foundation in Oxford, hat der Übersetzerin zur Seite gestanden. Eine hohe Leistung sind auch die vielen Anmerkungen, die heute kaum noch bekannte Namen und Theorien erläutern, geistesgeschichtliche Querverbindungen herstellen und Voltaires gelegentliche antike Zitate übersetzen. So erscheint in diesem Buch auch die Wendung „ich ficke“, wo Voltaire nur das (ebenso obszöne) lateinische Wort „futuo“ zu schreiben wagt.
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