Kurzprosa mit Langzeitwirkung

Gisela von Wysocki schreibt mit „Der hingestreckte Sommer“ 49 Texte voller Gedankentiefe und Musikalität

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Schriftstellerin Gisela von Wysocki, 1940 in Berlin geboren, ist mit Theaterstücken und Hörspielen so erfolgreich wie mit Essays und Vorträgen. Auch ihre Romane finden breites Interesse. 

Nun ist ein Prosaband mit 49 Texten erschienen. Ob man die als Miniaturen, Mini-Essays oder anderswie bezeichnet, ist nicht so wichtig wie die Tatsache, dass sie allesamt in ihren Bann ziehen. Ihre Musikalität verwundert nicht bei einer Autorin, auf deren Website auch das Hören grafisch dargestellt wird. Melodie und Rhythmus der Sprache tun wohl zu einer Zeit, da Literatur oft am „Plot“ und am „Thrill“ gemessen wird. Doch die Autorin will keine „Sprachkunstwerke“ schaffen, sondern Bruchstellen und Schattenhaftes sichtbar machen. Die Musikwissenschaftlerin und promovierte Philosophin schreibt so gedankentief, dass man den Texten mit Gewinn nachlauscht. Da wird nichts verklausuliert, aber auch nichts verflacht und vereinfacht.

Fast alle Texte sind autobiographisch und befassen sich mit prägenden Ereignissen im Leben der Schriftstellerin und Journalistin Gisela von Wysocki. Das beginnt mit dem wachen Blick eines Kindes auf die eigene Familie, setzt sich fort über die intellektuelle Entfaltung, insbesondere während des Philosophiestudiums bei Theodor W. Adorno, und schließt die oft folgenreiche Begegnung mit literarischen und musikalischen Werken ein. So entsteht ein Kaleidoskop, das die Entwicklung der Künstlerin und Denkerin facettenreich nachzeichnet.

Nicht auf jeden Text in den vier Abteilungen des Buchs kann hier eingegangen werden, und das andernorts bewährte Prinzip „6 aus 49“ greift nicht. Subjektive Auswahl ist angesagt.

Die erste Abteilung, „Vitrinen“, beginnt mit „Der Kirchenraum“. Da geht es um die Umbettung der sterblichen Überreste Johann Sebastian Bachs von der kriegszerstörten Johanniskirche zu Leipzig in die Thomaskirche. Das geschah im Jahre 1949. Der Mann, der die Schubkarre gelenkt hat, sagt trocken: „Tach, ich bring den Bach“ – das einzige Beispiel offenen statt versteckten Humors in diesem Band. Ein Betrachter des Skeletts findet es vernichtend, dass der Schöpfer von Abertausenden Gottesgesängen aus finsteren Augenhöhlen ins Leere starrt.

Um die Augen geht es auch im Text „Das Gesicht“ über eine späte Begegnung mit der österreichischen Autorin Friederike Mayröcker (1924–2021). Sie will ihre Augen vor dem Starren der Kinder auf der Straße schützen und benutzt das Haar als Schutzhelm.

„Zeichenschriften“ beschreibt Engpässe und Bedrohungen im Leben von Gisela von Wysocki als Vorstufen ihres Erschreckens über Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie. „Magazinräume“ (der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin) werden zum Fundort für Überraschungen im Nachlass von Marlene Dietrich.

Überraschungen hält auch „Die Familie“ bereit, vor allem ein „sperriges Porträt“ der Großmutter aus Breslau, die als junge Frau einen abenteuerlichen Hut trug und später hinter einer Schrankwand ein gerahmtes Foto von Adolf Hitler versteckte.

„Das Gedächtnis“: Zunächst hindern wirre Bilder die Autorin daran, ihr Studium bei Theodor W. Adorno zu definieren. Schließlich bekennt sie: „Es war die Geschichte eines großen Scheiterns.“ Denn Adornos Frage, warum es in seinen akademischen Veranstaltungen so wenige Wortmeldungen gebe, machte ihr ein eigenes Versäumnis klar: Sie hätte das lähmende Schweigen beenden müssen. Doch mit ihrer späten Erkenntnis hat sie das erste Kapitel ihres Romans Wiesengrund vor Augen.

Weitere Themen in der ersten Abteilung sind das Frauenbild im Wandel der Zeiten, der Beruf der Schriftstellerin, die Enthüllung des sexuellen Geheimnisses von Vater und Mutter durch „einen unerhörten Satz“ in einem Buch, das Schicksal Kurt Gerrons, der nach Fertigstellung des Films Der Führer schenkt den Juden eine Stadt in Auschwitz ermordet wurde, eine verstörende Aktualisierung von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Der Untergang des Hauses Usher und ein Kuraufenthalt im slowakischen Piešťany, wo der untrügliche Blick israelischer Gäste auf alles Deutsche die Erzählerin aus gewünschter Unscheinbarkeit heraushebt.

„Die ruhelosen Wörter“ heißt die zweite Abteilung. Es gibt einen Pakt zwischen der Autorin und den Wörtern, die ruhelos nach eigenen Lösungen suchen und weder Schönfärberei noch Ausflüchte zulassen. Wenn der „Buchstabenschlaf“ im Bücherschrank beendet ist, werden die „durch die Zeilen eilenden Figuren“ sichtbar. 

„Das Elend mit den Buchstaben“ beim Erlernen der Schrift besteht für die kleine Gisela darin, dass die runden und eckigen Zeichen keine Hinweise auf das Gemeinte enthalten und so der Hund zum Buchstabenbündel wird.

Auch in den anderen Texten dieser Abteilung geht es um die Wörter, die mächtig sind, wenn sie Zuspruch geben, Klarheit schaffen oder Schuld benennen – aber ohnmächtig, wenn sie die Wirklichkeit beschönigen.

„Menschen und Blitze“ heißt die dritte Abteilung. So hatte die Autorin bereits eine Würdigung von Marieluise Fleißer zu deren 100. Geburtstag überschrieben. Die Wörter „Blick“ und „Blitz“ bedeuteten ursprünglich beide ein kurzes Aufleuchten. Die hier Porträtierten aber scheinen nachhaltig auf.

Zum Beispiel die jüdische Malerin Charlotte Salomon, die in einer Lebenskrise mit Entschlossenheit malte und 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Oder der Organist Cameron Carpenter in „Algorithmische Ekstase“, der die Kinoorgel so virtuos spielt, dass die Stummfilmakteure sich nach seiner Musik zu bewegen scheinen.

„Eine Bühne ohne Ende“ gab es für die Literaturdozentin Marleen, für die der Dichter Guillaume Apollinaire seine vulkanische Libido in unverblümte Worte kleidete.

„Im Rausch von der Leinwand gepflückt“ hat die kinobegeisterte Mutter der Autorin Gisela von Wysocki das ihr nicht vergönnte Leben ohne Krieg, Kochtöpfe und Ziegenstall.

„Stab und Gewand“ gehörten Jean Baptiste Lully, dem Hofkomponisten von Ludwig XIV. Der König erschien nicht zum Konzert, und Lully bohrte sich wütend den Taktstock durch den Fuß: Pferdemistbakterien, Wundbrand, Ende.

„Auf der Flucht mit Chaplin“ bringt in 14 Szenen die filmreife Geschichte vom Diebstahl der sterblichen Überreste Charlie Chaplins.

„Écrit d’après la nature“ heißt die vierte Abteilung, denn „Wir sitzen der Natur in einem Zuschauerraum gegenüber.“

Der Diamantschleifer Gabriel Tschaikowsky in Antwerpen hat drei Jahre lang im Scheinwerferlicht den größten Diamanten der Welt in Herzform gebracht – das Danach wird schwer.

In einem Interview nannte die Autorin es „schön absurd“, dass ausgerechnet die Titelgeschichte „Der hingestreckte Sommer“ von einem Tier handelt, über das sie wegen seiner platten Gefährlichkeit nie schreiben wollte. Eine Schlange kommt auf einer Kreuzung um und wird „Zellgewebsvergangenes“. Dies geschieht in einem Sommer mit großer Hitze, versengter Luft und gleißender Straße.

Als Schallplattenproduzent kannte der Vater der 15-jährigen Gisela viele prominente Künstler. Erzählt wird vom Tanz des jungen Mädchens mit dem Startenor Fritz Wunderlich, der ihr auf dem Parkett lautstark die Gaumensegelhochstellung für die Kopfstimme erläutert. Wichtig ist ihr die Begegnung: „Zwei Ballbesucher hatten ein winziges Stückchen Leben miteinander geteilt.“

Gisela von Wysocki hat in ihrem neuen Buch abermals das „Denken zur Sprache gebracht“, wie sie einmal in einem Forum formulierte. Sie betrachtet ihre Figuren als Reisende, denen sie Gestalt und Richtung gibt. So können ihre Prosaminiaturen uns Lesern etwas Heimatgefühl in einer Welt vermitteln, in der wir nach Überzeugung der Autorin nicht zu Hause sind.

Titelbild

Gisela von Wysocki: Der hingestreckte Sommer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
240 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430149

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