Ein Feindbild ist kein Gegenprogramm

Sahra Wagenknecht teilt in „Die Selbstgerechten“ gegen die Falschen aus

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sahra Wagenknechts neues Buch Die Selbstgerechten wurde in den vergangenen Wochen in verschiedenen Print- und Online-Medien sowohl zerrissen als auch gefeiert, innerhalb der Linkspartei sowohl ignoriert als auch mit Naserümpfen zur Kenntnis genommen. In einigen Interviews hat Wagenknecht immer wieder ihre Thesen erklären und verteidigen müssen. Dabei ist ihr Ausgangspunkt gar nicht so kontrovers: Die Politikerin beobachtet in ihrem Buch, dass sich seit dem Entstehen der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Linken viel getan hat – nicht immer zum Besten der weniger Privilegierten. 

Um nun zu verdeutlichen, was denn eigentlich so hinderlich für einen politischen Erfolg der Linken sei und weshalb die Rechte immer mehr erstarke, stellt Wagenknecht die traditionelle Linke und die „Lifestyle-Linken“ einander gegenüber. Diese radikale Dichotomie bildet die Prämisse aller Argumente im Buch: Einst habe es eine Linke gegeben, die sich gegen die Repression ärmerer, kaum privilegierter Gesellschaftsschichten eingesetzt und sich für einen verbindenden, sozialen Patriotismus ausgesprochen habe – heute sei die Linke in vielen Teilen selbst repressiv gegenüber jenen, die ihre progressiven Positionen nicht teilen. Hinter Wagenknechts Frage, weshalb der gegenwärtig vorherrschende Ansatz linker Gesellschaftspolitik scheitert und es keine progressive gesellschaftliche Mehrheit gibt, steht also bereits eine klare Antwort: Eine ganz bestimmte, kleine Bildungselite – und mit ihr ein Rattenschwanz „immer skurrilerer Minderheiten“ – trage die Schuld.

Aufgeheizte Diskurse als Symptom eines fehlenden politischen Gemeinschaftsgefühls

Wagenknecht beschreibt, wie die großen Themen unserer Zeit die Gemüter erhitzen: Geschlechterverhältnisse, Sexualität und Sprache, Flucht und Migration, Klimawandel, Konsum und Nachhaltigkeit. Die Politikerin nimmt dabei vor allem den sozioökonomischen Status jener Menschen in den Blick, deren Bedürfnisse und politische Einstellungen sich, obwohl es sich um demokratische Mehrheiten handelt, im derzeitigen Spektrum der Großparteien nicht abgebildet finden.

Diese Repräsentationslücke gilt für Menschen verschiedener Herkunft und durchaus differierender politischer Ausrichtung: Ob migriert oder nicht, mit eindeutiger Genderzugehörigkeit oder nicht, eingeschränkt oder nicht, jung oder alt – die Menschen, für die Wagenknecht sich einzusetzen behauptet, eint vor allem ihr niedriger sozioökonomischer Status unabhängig von diesen Faktoren. Nicht alle träumen von der vollkommenen Digitalisierung ihrer Lebenswelt, Aktienrenditen, einer hundertprozentig politisch korrekten Sprache und noch mehr Individualismus. Wagenknecht geht es deshalb um die viel existentielleren, unmittelbareren Bedürfnisse dieser „einfachen“ Menschen.

Im Zuge dessen beklagt sie die identitätspolitische Scheinheiligkeit vieler Gruppen innerhalb der Linken, die die existentiellen Bedürfnisse großer Bevölkerungsteile zugunsten identitätspolitischer Fragen zurückdränge. So kritisiert sie auch eine unehrliche öffentliche Debatte um Flucht und Migration: Wer ignoriere, dass die internationale Flüchtlingspolitik per se defizitär sei und dass Migration zu Konkurrenz um Arbeitsplätze sowie zu soziokulturellen Problemen führen könne, der übersehe ein Problem, welches sich nicht mit der für die akademische Mittelschicht typischen Glorifizierung von „Weltoffenheit“ ausblenden lasse. Solidarisch zu sein sei einfach, wenn es einem an nichts fehle. Aussagen wie diese sind nicht unmittelbar falsch. Sie bleiben allerdings ohne die Darstellung der argumentativen Gegenseite verkürzt.

Zutreffend ist, dass progressive, abolitionistische, emanzipatorische und ökofeministische Streitfragen, die im akademischen „linksliberalen Milieu“ aufgeworfen werden, jene verunsichern, die damit nicht schritthalten können oder möchten: Darf man noch „Flüchtlinge“ sagen oder heißt es jetzt „Geflüchtete“? Muss ich das Gendersternchen nutzen? Darf ich von weiblicher Schönheit sprechen oder ist das sexistisch? Bin ich egoistisch und unsozial, wenn ich mich nicht gegen Corona impfen lassen möchte? Ist es jetzt cultural appropriation, wenn meine Tochter sich als „Indianerin“ verkleidet, und blackfacing, wenn ich ein Meme mit einer Schwarzen Frau darin teile? Darf ich heutzutage als weißer, heterosexueller Mann noch sagen, dass ich mich in einer Situation benachteiligt fühle, oder leugne ich damit die Lebensrealität bestimmter diskriminierter Gruppen? Darf ich behaupten, dass ich mich für ernsthaft für Biodiversität einsetze, obwohl ich Tierprodukte esse?

Wagenknechts These: Europa habe andere, größere Probleme. Heute gehe es vielen Kindern schlechter als ihren Eltern. Die wirtschaftliche Lage der klassischen unteren Mittelschicht verändere sich über mehrere Generationen kaum oder nur zum schlechteren. Zusammenhalt und Solidarität werden aufgebrochen durch die Liberalisierung der Arbeitsverhältnisse, den europaweit zu beobachtenden Abbau der Sozialdemokratie und die neue Fokussierung der Linken auf Ausdrucks- und Lebensstilfragen, mit denen sich die klassische Mittelschlicht nicht mehr identifizieren könne.

Dass die europäische Linke den Anschluss an große Bevölkerungsteile verloren hat, liege an den linksliberalen Feelgood-Debatten, bei denen man es sich leichtmachen könne, sich „links“ und „woke“ zu zeigen. Man helfe damit jedoch nicht den Menschen, die von „echter“ Diskriminierung betroffen seien. Die „Lifestyle-Linken“, von denen all das ausgehe, seien gut situierte, meist akademisch Gebildete, die die eigenen Privilegien für Tugenden halten und einen Kampf um Begriffe und Identitäten führen, der indirekt zu einem Kampf gegen mehr als die Hälfte der Bevölkerung werde. Längst treten, so Wagenknecht, die Debatten um höhere Löhne und Renten, die deutsche Kriegspolitik und soziale Fragen in den Hintergrund. 

Viele „normale“ Menschen seien sich der alltäglichen sprachlichen Vergehen nicht bewusst, die ihnen hinterher von linksliberaler Seite angekreidet würden. Wagenknecht argumentiert deshalb, man solle nicht anderen Leuten, die nicht über dieselben Privilegien verfügen, vorschreiben, wie sie zu sprechen, essen und leben haben. Gerade Menschen mit geringerem Einkommen könnten sich, so die Politikerin, einen nachhaltigen Lebensstil gar nicht leisten und hätten nicht die Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, welcher Begriff neuerdings sexistisch, homophob, islamophob oder rassistisch sei.

Damit könnte Wagenknecht zwar rechthaben. Allerdings macht sie damit implizit eine Unterscheidung zwischen „echtem“ Rassismus und Sexismus und „unechtem“, den linksliberale Stimmen nur als solchen deklarieren. Das moraltheoretische Fundament, auf dem man Wagenknechts Thesen logisch gelten lassen könnte, ist allerdings dünn: Genügt es wirklich, dass sich Menschen ihrer rassistischen Aussagen nicht bewusst sind, um sie zu entschuldigen? Sollte man den harten Rassismus eines NPD-Wählers wirklich gegen einen weichen Alltagsrassismus ausspielen und dadurch Letzteren verharmlosen? Und ist die Fokussierung auf eine bestimmte Frage, wie etwa political correctness, wirklich hinderlich zur Lösung einer anderen, beispielsweise der von zu niedrigen Löhnen?

Wagenknecht arbeitet heraus, dass die überbordende Komplexität progressiver akademisch bestimmter Diskurse, verbunden mit moralisierender Überheblichkeit, kontraproduktiv sei. Sie plädiert stattdessen für eine „unverkrampfte Leitkulturdebatte“, an der auch jene teilhaben können, die sich zwar im linkspolitischen Spektrum einordnen, aber sich zugleich von der heutigen Linken entfremdet sehen. So legt sie nahe, dass eine Debatte, die bei sprachlichen Feinheiten stehenbleibt, erstens schlechte Intentionen unterstellt, wo vielleicht keine sind, und zweitens eine wirkliche Arbeit an sozialer Gerechtigkeit verhindert. Dabei benennt sie indirekt auch einige Hard-to-swallow-pills: Man ist nicht automatisch und grundsätzlich in allen Lebensbereichen privilegiert, weil man heterosexuell, weiß und männlich geboren wird. Die Wurzeln sozialer Probleme liegen tiefer.

Das Buch beweist trotz einiger argumentativer Schwachpunkte das eigentlich feine Gespür Wagenknechts für die identitätspolitische Emotionalisierung bestimmter Sprach- und Lifestyle-Debatten und für die Stimmungen derer, die sich von intellektualisierten politischen Diskursen abgehängt fühlen. So warnt sie vor der privilegierten Selbstvergessenheit einiger Bevölkerungsgruppen, die „selbstgerecht“ Gutes zu tun glauben, indem sie scharfe Kritik an anderen üben, sich gleichzeitig jedoch nicht aktiv für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Und Wagenknecht musste bisher Recht behalten: Eine Diskussion, gehalten im Tenor unserer Zeit, ist nicht erfolgreich, wenn sie mit Zuschreibung wie „linksgrün-versifft“, „Aluhut“ oder ähnlichen spöttischen Bemerkungen endet. 

Zudem mahnt die Politikerin vor zu starken Vereinfachungen: 

Es gibt kein gemeinsames Interesse der Nachfahren von Einwanderern aus muslimischen Ländern oder der Homosexuellen oder gar der Frauen, das über die rechtliche Gleichstellung und generelle Nichtdiskriminierung hinausgeht.

Im Zuge dieser Beobachtungen kritisiert Wagenknecht aus ihrer gewohnt kommunitaristischen Perspektive, dass der Mangel an gemeinsamen Werten, Traditionen und Erzählungen nur zu mehr Spaltung führe. Die Politikerin gibt zu bedenken, dass es auch in einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher ethnischer, religiöser und sozialer Herkunft und Zugehörigkeit zusammenleben, möglich sei, ein „Wir-Gefühl“ zu empfinden. Doch die aktuelle Debattenkultur zerstöre diese Möglichkeit: „An die Stelle demokratischen Meinungsstreits sind emotionalisierte Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Hass getreten.”

Deutschlands beliebtester Strohmann ist Veganer

Das Buch zeugt trotz dieser wohlmeinenden Intentionen vom Versuch, gesellschaftliche Spaltungen mit tendenziell
bildungsfeindlichen Ressentiments zu überbrücken. Ironischerweise ist es die Autorin selbst, die in ihrem Buch auf maximal unversöhnliche Weise jene karikiert und diffamiert, die wenigstens versuchen, etwas in der Welt zum Positiven zu verändern, indem sie an ihrem Konsumverhalten, ihrer Sprache und ihren Haltungen arbeiten.

Das Feindbild, das Wagenknecht dabei zeichnet, ist ein seit einigen Jahren von nahezu allen Großparteien bemühtes: Es geht um die vielleicht beliebteste, zugleich billigste Zielscheibe jeder politischen Debatte – die gerade einmal 0,9 bis 3 Prozent in unserer Gesellschaft, die sich vegan ernähren, meist (eine Geisteswissenschaft) studiert haben oder noch studieren, Fahrrad oder allenfalls ein Elektroauto fahren, ihre Lebensmittel unverpackt kaufen und in Berlin oder einer idyllischen Universitätsstadt leben. Sprachsensible, weltoffene Kosmopoliten, die sich kritisch mit ökologischen Problemen beschäftigen, Geflüchteten Deutschkurse geben und dann auch noch glauben, dass das soziale Geschlecht konstruiert und gendergerechte Sprache daher ein wichtiges Thema sei. 

Für Wagenknecht sind die Leute, auf die all das zutrifft, selbstgerechte, aufgeblasene, weltfremde Schnösel, die ihr Studium dank „Papas Vermögen und Mamas Beziehungen“ gerade noch auf die Reihe bekommen haben und es sich jetzt auf dem Rücken der Gesellschaft gut gehen lassen – „Lifestyle-Linke“ eben. Das ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die diese Privilegien nicht hatten und trotzdem linke Werte leben, und ein Schulterklopfer für jene jungen Studierenden, die tatsächlich in reiche, gut vernetzte Familien geboren wurden und nach einem kurzen, knackigen, vermutlich naturwissenschaftlichen Studium viel Geld in der Wirtschaft verdienen werden – ohne überhaupt etwas mit der Linkspartei oder linken Werten am Hut zu haben.

Wagenknecht argumentiert dennoch, dass die „Lifestyle-Linken“ der Grund dafür seien, dass die Spaltungen in unserer Gesellschaft immer weiter fortschreiten, der Rechtsradikalismus einen neuen Aufschwung erlebt hat und die Linke ihre arbeitende Wählerschaft teils an die AfD abtreten musste – und das, obwohl die AfD alles andere tut, als sich für die Bedürfnisse arbeitender Menschen einzusetzen. Diese These ist grundsätzlich interessant. Doch scheint die reiche, akademisch gebildete, lesbische Veganerin auf dem Fahrrad, mag sie eine noch so seltene, harmlose Subspezies innerhalb der Linken sein, wieder einmal ein Dorn im Auge des konservativen Bürgertums, der Stachel im Fleisch einer ohnehin gespaltenen Gesellschaft zu sein.

Die linke Veganerin: Für viele nur eine lästige Karikatur, die hochnäsig versucht, an ihrem Achtsamkeitsniveau und ihrer Wirkung in der Welt zu arbeiten, indem sie anders handelt, spricht, konsumiert. Polemisch tauft Wagenknecht solche Menschen „Sittlichkeitswächter“, „Inquisitoren“ oder „Bessergestellte unter sich“ und suhlt sich kapitelweise in Ressentiments gegen zahlreiche soziale Bewegungen wie Black Lives Matter, Unteilbar oder auch Fridays for Future

Kulturkämpferischer Populismus

Man könnte diese bequeme und äußerst populäre Perspektive Wagenknechts nun wieder als ein letztes Aufbäumen eines ohnehin aussterbenden bürgerlichen Konservatismus deuten. Allerdings versteht sich das Buch ja als links und versöhnlich: Es hat ein nobles Ziel, denn es soll gesellschaftliche Spaltungen bekämpfen, die Ideen von „Gemeinsinn“ und „Gemeinwohl“ wieder auf den Plan rufen. Tatsächlich erfüllt die Besinnung auf Traditionen, ein Gemeinschaftsgefühl und verbindende Werte wichtige soziale und psychische Funktionen. Doch wenn ganze soziale Bewegungen, die bestimmte Traditionen infrage stellen, als „selbstgerecht“ diskreditiert und die Menschen, die sich in ihnen engagieren, ad hominem angegriffen werden, so zielt dies letztlich darauf ab, die wenigen noch existierenden Keime altruistischen Denkens in einer ohnehin zerrissenen Gesellschaft zu zersetzen. Auf diese Weise spielt Wagenknecht den Rechtspopulisten nur weiter in die Karten, anstatt eine ernstzunehmende linkspolitische Alternative anzubieten. 

Wagenknecht behauptet nicht nur, dass diejenigen, „die ihre Identität in irgendeiner Marotte finden“, immer stärker beachtet würden und soziale Gerechtigkeit aus dem Blick gerate – nein, sie insinuiert mehrfach, Ersteres sei der Hauptgrund für Letzteres. Bereits das ist eine unhaltbare These, die vernachlässigt, wie komplex gesellschaftspolitische Prozesse und individuelle Einstellungen tatsächlich begründet sind. Zugleich perpetuiert Wagenknecht das Vorurteil, jede vom Mainstream abweichende Meinung werde sofort „gecancelt“. Sie veröffentlichte ihr Buch – nach einem Vorabdruck in der FAZ – im campus-Verlag. In zahlreichen Talkshows hörte man sie in den vergangenen Monaten noch diskutieren. Ihre Thesen sind umstritten, werden jedoch angehört. Trotz allem schreibt sie von der Befürchtung, „nun ebenfalls ‚gecancelt’“ zu werden und kritisiert die sogenannte „Cancel Culture“. Es seien die Intellektuellen, die diesen Diskurs so vergiftet hätten.

Nicht nur beansprucht die Politikerin also – über den einfallslosen Weg der anti-intellektualistischen Herabsetzung von Bildungseliten – volksnah auf der Seite der vermeintlich unverdorbenen, „einfachen Leute“ zu stehen, die nichts gegen das Wort „Zigeunersauce“ einzuwenden haben. Sie dämonisiert dabei auch noch eine Gruppe, über deren Verunglimpfung sich gerade jene freuen dürften, die sich im rechtskonservativen Lager verorten lassen. Der Ton ist sektiererisch: hier die selbstgerechten, bilingualen, überheblichen Lifestyle-Akademikerinnen, da die fleißigen, armen, selbstlosen Arbeiter.

Damit schürt Wagenknecht ein Feindbild von Personen, deren Einstellungen tatsächlich denkbar ungefährlich sind, und verharmlost dafür einige Seiten später politische Strukturen, die menschenfeindliche Ressentiments und Ideologien befördern. Auf diese Weise entsteht am Ende der Eindruck, der Protest-AfD-Wähler sei in Wirklichkeit nur ein vom Leben gebeutelter Arbeiter, den wir vor lauter Gendersternchen leider übersehen hätten. So einfach ist die Realität jedoch nicht.

Wagenknecht unterläuft der Fehler, drängende Fragen unserer Zeit als Entscheidungs- und/oder Gewichtungs-Fragen zu deuten: Sie unterstellt implizit, man könne entweder auf Gendersternchen achten oder sich „wirklich“ für Emanzipation einsetzen, man könne entweder vegan leben oder sich „wirklich“ aktiv gegen Umweltprobleme einsetzen et cetera. Den Zusammenhang zwischen all diesen Dingen sieht die Politikerin nicht, und die Möglichkeit, sich für mehr als nur ein Lifestyle-Problem einzusetzen, traut sie den gern verhöhnten „Gutmenschen“ nicht zu. Dabei vergisst sie auch, dass nicht Linksliberale sich am meisten mit political correctness befassen und die mediale Diskussion darüber bestimmten, sondern diejenigen, die dagegen sind.

Wenn man Wagenknechts Logik folgt, sind die Linksliberalen verantwortlich für die zunehmende Gentrifizierung, eine nicht wegzukriegende soziale Ungleichheit, eine defizitäre Migrationspolitik, den gesellschaftlichen Rechtsruck, einen immer schärferen Ton in öffentlichen Debatten und die Probleme der Globalisierung. Doch um nur einen der Punkte herauszunehmen: Mit Akademikergehalten – vor allem nicht denen der Geisteswissenschaftler – lassen sich keine Viertel gentrifizieren. Gentrifizierung geht von den hochbezahlten Jobs in der Industrie und in der Finanzwelt aus, nicht von studierten Soziologinnen, die gern Brokkoli essen. Das Übel der Welt scheint Wagenknecht trotz allem in der Ignoranz der Vergeistigten zu sehen. Wagenknecht unterstellt dem Großteil der akademischen Mittelschicht, ein entbehrungsreiches Leben nur aus Märchen zu kennen, und setzt sie damit fast schon auf eine Stufe mit den Superreichen.

So spielt sie auch den Fakt herunter, dass es mittlerweile immer mehr Bildungsaufsteigerinnen gibt, die sehr wohl beide Realitäten kennen und sich für mehr als nur Gendersternchen einsetzen. Insgesamt unterstellt sie dem linksliberalen Milieu, es lebe in einer Blase aus Biomärkten, Auslandssemestern und linguistischer Kleinkariertheit, entfremdet vom Blick für das Elend der arbeitenden Gesellschaftsschichten im eigenen Land, finanziell und sozial bessergestellt als andere. Gerade diese Behauptung ist fast ulkig angesichts der Tatsache, dass Geisteswissenschaftler bundesweit von einem meist unterdurchschnittlichen Gehalt leben müssen und teilweise ebenso an der Armutsgrenze leben wie die, so Wagenknecht, im Gegensatz zu ihnen „hart arbeitenden“ Menschen. 

Stereotype und Vorurteile

Die thematische Trias aus Gender, Zuwanderung und Klima ist sozialer Sprengstoff. Im Jahr 2020 ist Corona hinzugekommen. Zurecht bemerkt Wagenknecht zwar, dass sich politische Einstellungen auf einem Spektrum bewegen: „Nicht jeder, der für Zuwanderung wirbt, Gendersternchen verwendet und der Meinung ist, der Klimawandel sei vor allem eine Frage der Konsumgewohnheiten, […] ist wohlhabend.“ Doch anstatt sich aus dieser korrekten Beobachtung heraus damit zu beschäftigen, wie sich die Menschengruppen, von denen sie spricht, tatsächlich zusammensetzen, bleibt der Ton im Anschluss stets sektiererisch: „Aber solche Lifestyle-Linken befinden sich in der klaren Unterzahl. Typisch sind die anderen.“

Das Buch lebt von solchen Behauptungen und der Aussparung faktenbasierter Belege, gepaart mit dem wie gewohnt populistisch-polemischen Oberton: So behauptet Wagenknecht, das Durchschnittseinkommen der Linksliberalen läge bundesweit deutlich über dem Durchschnitt, die linksliberale Gendertheorie leugne die Existenz eines biologischen Geschlechts, Moralisten hätten kein echtes Mitgefühl und arme Menschen hätten eben nur das Aldi-Schnitzel zu essen und könnten sich kein Gemüse leisten. Die Politikerin bietet bei alldem weder Alternativen zur Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen an, noch ermöglicht sie die respektvolle Kommunikation zwischen den zerrissenen politischen Lagern. Dabei soll es ja ursprünglich das sein, was sie angestrebt hat.

Wagenknecht ist eigentlich eine bedeutende Kritikerin gegenwärtiger marktwirtschaftlicher Prozesse. Trotzdem zieht sie, sobald es zum Beispiel um ökologische Fragen geht, nicht Lobbyisten, Bauernverbände und unverhältnismäßige Mehrwertsteuersätze zur Verantwortung, sondern gerade diejenigen, die versuchen, vernünftigere Konsumentscheidungen zu treffen und normativ gegebene, politische Ideologien nicht nur an der Uni, sondern in ihrem Alltag praktisch und durch ihren Konsum zu hinterfragen. Anstatt einen kapitalismuskritischeren Diskurs anzustoßen, argumentiert Wagenknecht also auf der Ebene jener, die „Moralisten“ dämonisieren und damit ihre eigene Lebensweise rechtfertigen. 

Von einer erfahrenen, philosophisch gebildeten Politikerin wäre zu erwarten, dass sie ihre wertvolle Fähigkeit, die gegenwärtige Situation mit der Brille der weniger Privilegierten zu sehen, einsetzt, um zwischen den sogenannten „Gesellschaftsschichten“ zu vermitteln. Allerdings verbleibt sie auf dem ohnehin nur unterstellten Niveau jener, deren Stimmen sie zu fangen versucht – populistisch, vorurteilsbeladen, verbittert und äußerst rigide. Dabei übernimmt sie bildungsfeindliche Ressentiments, ohne nur einmal daran zu denken, dass auch Menschen, die viel und hart für wenig Geld arbeiten, unter Umständen gar nicht so schlecht über Universitäten, Gendersternchen, essbare Pflanzen und Fahrräder denken.

Wagenknecht unterstellt der arbeitenden Klasse also ganz bestimmte gemeinsame Einstellungen und Werte, wendet sie gegen eine vermeintliche Bildungselite und macht damit rhetorisch genau das, was sie den Linksliberalen vorwirft: auf die weniger Privilegierten herabschauen. Das Scheitern ihres eigenen, im Jahre 2018 begonnen Projekts „Aufstehen“ verschweigt sie dabei. Bereits nach kurzer Zeit zog sich Wagenknecht wieder aus ihrer eigenen Bewegung zurück, mit der sie geplant hatte, ein breites linkes Bündnis zu organisieren. Dies legt zumindest nahe, dass Wagenknecht nicht weiß, wie sie weniger privilegierte Menschen tatsächlich erreichen und nachhaltig motivieren kann, ohne zugleich mit deren beliebtesten Feindbildern zu arbeiten.

Wie zeitgemäß ist Wagenknechts Linkspopulismus noch?

Die Linke setzt sich auch heute noch unter anderem für eine verteilungsgerechtere Sozialpolitik ein. Zu behaupten, dass Gendersternchen und vegane Mensen diesem Ziel schaden, ist nicht nur absurd, sondern auch gefährlich, weil man damit Ressentiments verstärkt, die sich entlang alter und neuer, sozialer und kultureller Konfliktlinien entladen. Wie auch für viele Konservative und Rechtspopulisten üblich, unterstellt Wagenknecht breiten Teilen der Linken, ihre Sprach- und Konsumentscheidungen seien durch ein identitätspolitisches, kleinbürgerliches Distinktionsbedürfnis motiviert und nicht durch gute Argumente begründet. Das mag daran liegen, dass den Kritikern diese Argumente gar nicht geläufig sind.

Wagenknecht versucht vergeblich, verbreitete rechtspopulistische und konservative Positionen als links umzuinterpretieren. Indem Wagenknecht den „Lifestyle-Linken“ letztlich ihre politische Legitimität abspricht, macht sie nichts anderes als das, was sie ebendiesen vorwirft – Identitätspolitik, nur andersherum. Wagenknecht grenzt sich dabei nicht gegen identitätspolitisches Denken ab, sondern möchte eine nationale und soziale Grundlage für einen Gemeinsinn legen. Ihre kommunitaristischen Ausführungen sind weder diskriminierend noch menschenfeindlich – wie ihr vielfach vorgeworfen wird –, doch sie verstärken Vorurteile dort, wo es eindeutig schadet, und schaffen ein „Wir-Gefühl“ dort, wo Menschen an europäischen Grenzen sterben.

So vieles an der Publikation irritiert bis zuletzt: Wagenknecht überträgt ihre kulturkritischen Thesen über die US-amerikanische Politik beispielsweise übergangslos auf derzeitige Problemlagen in Deutschland. Weitere Schwachpunkte finden sich vor allem in Bezug auf Migrationsfragen. So etwa trennt Wagenknecht zwischen Kriegsflucht und Wirtschaftsmigration, ganz so, als sei Armut in anderen Ländern kein existenzielles Problem: „Wer ein besseres Leben sucht, handelt aus nachvollziehbaren Motiven, aber er müsste es nicht tun.“ Hier argumentiert Wagenknecht tatsächlich so, wie sie es den „Lifestyle-Linken“ zuvor unterstellte – aus einer privilegierten Situation heraus, blind für die existentiellen Bedürfnisse anderer.

Weiterhin formuliert Wagenknecht ihre Argumente unter vollkommener Ausblendung der kolonialistischen Vergangenheit Europas. Einerseits schreibt sie zurecht davon, dass Fluchtursachen bekämpft werden sollten, andererseits argumentiert sie, als stünde Mitteleuropäern qua Geburt die Ausbeutung irdischer Ressourcen zu. Wagenknecht spielt dabei immer wieder Arme gegen Arme aus. Dass man auch weniger privilegierten Menschen eine fundierte, reflektierte, „progressive“ Meinung zu Klima-, Gender- und Migrationsfragen zutrauen kann, fällt ihr nicht ein.

Die Stellen, an denen Wagenknecht versucht, etwas einfühlsamer zu klingen, enden meist mit einer unfreiwillig komischen Pointe. So heißt es: „Heute dominieren Zukunftsängste, und viele befürchten, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen selbst. Dafür gibt es Gründe.“ Und wenn die junge Leserin nun erwartet, dass an dieser Stelle endlich die Klimakrise problematisiert würde, muss sie enttäuscht werden: „Im internationalen Vergleich fallen wir wirtschaftlich zurück“ – so benennt Wagenknecht die vermeintlich größte Sorge junger Menschen.

Das bezeugt, wie wenig sie die tatsächlichen Sorgen junger Menschen, so sehr diese auch in ganzen sozialen Bewegungen und auf Demonstrationen artikuliert werden, ernstnimmt. Wer auf Demonstrationen lacht, meint Wagenknecht, der meine es nicht ernst. Panik sei aber auch falsch. Im Prinzip kann man es also nicht richtigmachen, Klima-Aktivismus und überhaupt jede Form von Engagement ist wohl, wenn es von Menschen mit gewissen Privilegien kommt, insgesamt heuchlerisch.

Wagenknecht tut recht daran, die Bedürfnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter in klimaschädlichen Branchen ins Auge zu fassen, die im Zuge eines umfassenden Strukturwandels nicht die Verlierer des veränderten Klimabewusstseins sein sollten. Doch in vielen Interviews der letzten Monate und Jahre drückte Wagenknecht bereits ihre Befürchtung aus, man würde Niedriglöhner automatisch zwangsveganisieren, wenn man in blinder Marktgläubigkeit Fleisch höher und pflanzliche Produkte geringer besteuern wolle. Die Politikerin hält nichts von Verzichtsdebatten – wer innerhalb Deutschlands fliegen und billiges Fleisch essen möchte, der solle das tun. Das bezeugt nicht zuletzt den blinden Fleck der Politikerin hinsichtlich des seit Jahrhunderten vorherrschenden tierlichen Elends in Mastanlagen und Schlachthöfen und den Folgen für die Umwelt.

Gerade die wichtigsten Zusammenhänge zwischen Flucht, Migration, Klimakrise und sozialer Ungleichheit werden konsequent ignoriert. Wagenknechts „links“ ist linksnational: Wenn die Deutschen ihre Jobs in Schlachthöfen und Kohlekraftwerken „brauchen“, dann ist Wagenknecht damit vollkommen einverstanden. Dass für einen Lebensstil, der diese Strukturen bestärkt, andere Menschen in fernen Ländern ihren Lebensraum einbüßen müssen und vor allem ärmere Regionen der Erde jetzt bereits mit den Folgen des Klimawandels kämpfen, unterschlägt Wagenknecht wie immer. Sie gibt zu bedenken, dass wir „nicht anders konsumieren, sondern vor allem anders produzieren“ müssen – ganz so, als ginge nicht beides.

Bernd Riexinger hat es einmal gut zusammengefasst: „Es gibt keinen Klimaschutz ohne soziale Gerechtigkeit, aber auch keine soziale Gerechtigkeit ohne Klimaschutz.“ Wagenknechts Buch macht leider recht offensichtlich, dass Wagenknecht keines der „Milieus“ anzusprechen weiß, von denen sie schreibt – weder die linksliberale Klimaaktivistenszene, noch diejenigen, als deren Patronin und einzig legitime Stimme sie sich ausgibt. Spaltung mit noch mehr Spaltung zu überwinden, ist ein von vornherein zum Scheitern verurteilter Versuch: Wagenknechts Buch hat das trotz wohlmeinender Intentionen und vieler im Kern stimmiger Beobachtungen auf enttäuschende Weise vorgeführt.

Titelbild

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
320 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783593513904

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