Im Autoskooter der Meinungsbildung
Martin Walsers gesammelte Interviews resümieren vier Jahrzehnte Feuilletondebatten
Von Wieland Schwanebeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn zwei ins Gespräch kommen, kann viel passieren bei Martin Walser – einige der größten Verwicklungen und der unerhörtesten zwischenmenschlichen Begegnungen spielen sich bei ihm im Dialog ab. So kommt es im Campus-Roman Brandung (1985) zu einer rasant-erotischen Shakespeare-Lektüre mit regelrecht koitaler Klimax, und im Augenblick der Liebe (2004) ist das Liebesverhängnis eigentlich schon nach dem einleitenden Kennenlerndialog über ,klirrende Möglichkeiten‘ beschlossene Sache. Wer Walser zudem einmal bei Lesungen im selbstbewusst-ironischen Schlagabtausch mit Moderatoren und Diskutanten aus dem Publikum erlebt hat, weiß, dass das Gespräch eine vom Autor souverän beherrschte Form ist, in der er es zu ebenso großer Meisterschaft wie im Roman, Essay oder Drama gebracht hat, der er möglicherweise sogar länger treu geblieben ist als all diesen anderen Gattungen.
Zum Rollenspiel und zur distanzierten Verstellung sind sie freilich allesamt auf ihre Art geeignet, wie auch der frisch erschienene Band Ich würde heute ungern sterben unterstreicht, der Walser-Gespräche aus vier Jahrzehnten versammelt. Zur Interviewform selbst positioniert sich Walser dabei ein ums andere Mal kritisch, schwört ihr gar ab, nur um im Folgejahr dann doch wieder den letzten Roman, das jüngste Missverständnis oder eine neuerliche Kontroverse mit Journalisten zu diskutieren, auch wenn es manchmal nur zu einem Griff ins verbale Greatest-Hits-Repertoire reicht: Schreiben als Gegenwehr, Poetik des Mangels, die Erträglichmachung erlittener Niederlagen durch Fiktionalisierung, und immer wieder „die Kühnheit der Sprache an sich“, die „etwas fest[hält], was eigentlich weiter will.“
Einmal spricht Walser rückblickend von den „Ich-Oratorien“, die er in der Frühphase seiner Karriere geschrieben hat, und rechtfertigt seine Hinwendung zur figuralen Erzählweise in der dritten Person damit, dass es nun einmal „Genauigkeiten“ gäbe, „die in der Ich-Form unglaubwürdig wären.“ Wendet man diesen Paradigmenwechsel nun auf die Form des Interviews an, die Walser (auch davon kann man hier lesen) als junger Reporter zunächst von der anderen Seite, also als Fragensteller kennengelernt hat, als er zu jeder Brückeneinweihung im Bundesgebiet entsandt wurde, dann ist das unvermeidliche „Ich! Ich! Ich!“, zu der das Interview verleitet, möglicherweise kein Garant für intime Bekenntnisse, sondern nur eine weitere Einladung zur Verstellung und Verbergung – was das Unterfangen, diese 39 Gespräche (von denen mehr als die Hälfte aus der Zeit nach der Jahrtausendwende stammen) in einem Band zu versammeln, allerdings nicht weniger reizvoll macht. Dass die letzten beiden Jahrzehnte den Schwerpunkt bilden, ist sicher den Kontroversen geschuldet, in die sich Walser im Zuge seiner Friedenspreisrede (1998) sowie der Publikation von Tod eines Kritikers (2002) verstrickt sah. Sie zogen zahlreiche Versuche der Klärung und Selbstrechtfertigung im Interview nach sich, bei denen Walser keinesfalls immer eine gute Figur abgab oder sich gar um eine Aussöhnung mit seinen Kontrahenten bemühte.
Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich bei der Zusammenstellung des von Thekla Chabbi (Co-Autorin seines Romans Ein sterbender Mann) herausgegebenen Bandes nicht schont; zahlreiche Misstöne und einigermaßen befremdlich anmutende Sentenzen sind erhalten geblieben – Walsers auf Reich-Ranicki gemünzte Einschätzung, im Verhältnis von Kritiker und Autor sei letzterer „der Jude“, ist ein besonders krudes Beispiel; die Stilblüte vom „Über-Eisprung im Kopf“, den Walser einem Kritiker nachsagt, immerhin amüsant. Damit unterwirft er sich aber konsequent dem eigenen Credo, dass es nun einmal sinnlos sei, sich selbst frühere Positionen vorzuwerfen: „Meinungen sind wie alte Fotografien, das war man, basta.“
Dass die Gespräche ungefiltert wiedergegeben werden, produziert unweigerlich Redundanzen, die den Autor mal als versiert-unterhaltsame Rampensau mit erprobtem Fundus an Anekdoten und Sentenzen, mal als lebenslang Trotzigen charakterisieren, der auf einige Themen immer wieder zu sprechen kommt beziehungsweise ständig auf diese angesprochen wird: die familiären Wurzeln, die Kindheit in Wasserburg, die deutsche Teilung, Walsers kurzer Flirt mit der kommunistischen Partei in Reaktion auf den Vietnam-Krieg, politische Lagerbildung, Machtmissbrauch im Kulturbetrieb, und immer wieder die „Autoskooterbahn des Politjahrmarkts“. Interessanter werden die Gespräche besonders aus poetologischer Sicht dann, wenn sich Walsers Interviewer tatsächlich auf seine Texte einlassen und nicht abermals am Ufer des Bodensees versanden – es bedarf der Publikation von Walsers geradezu prophetischem Spekulantenroman Angstblüte (2006), damit ihm die Gesprächspartner Aufschlussreiches über die Ökonomie des Bücherschreibens und das Geldverdienen entlocken, und im Zuge der Publikation von Muttersohn (2011) geraten auch Glaube und Religion in den Blickpunkt.
Wiewohl Walser viele dieser Themen in Essays und Romanen gründlicher und substanzieller ausgeführt hat, ist Ich würde heute ungern sterben dennoch eine sehr brauchbare Einführung in den Walser-Kosmos und auch ein achtbarer Querschnitt durch unterschiedliche Gesprächskulturen, trifft Walser doch hier nicht nur auf prominente Journalistinnen (Iris Radisch), Germanisten (Heinz Ludwig Arnold) und Zeitgenossen (Rudolf Augstein), sondern in den besten Fällen auch auf Personen, mit denen echte Gespräche zustande kommen. Die Begegnungen auf Augenhöhe zählen nicht durchweg zu den Sternstunden der Dialogkultur – mit Günter Grass etwa ist sich Walser etwas zu einig (Grass: „Das hättest du bei mir in Totes Holz nachlesen können.“ – Walser: „Toll, Günter.“), und seine denkwürdige Unterredung mit Augstein zum Thema Gedächtnis gerät zu einer kaum erträglichen Belehrung des Journalisten durch den Schriftsteller, nimmt sich letzterer doch gleich mehrfach kurzerhand auch der Erinnerungen des ersteren an. Als ein Juwel entpuppt sich Walsers Meta-Gespräch mit Michael Freitag; ein immens erhellendes Interview über Interviews. Gewünscht hätte man sich in diesem Zusammenhang auch noch den bizarren Spiegel-Text aus dem Jahr 2001, der zustande kam, als Walser seine Zustimmung zum Abdruck eines von Arno Luik geführten Interviews verweigerte und stattdessen dem Magazin einen selbstverfassten Dialog zwischen sich und Luik schickte, der mit Walsers trotziger Behauptung endet, ihm selbst falle „gegen mich mehr ein“ als dem Interviewer.
Chronologisch lesen muss man das Buch nicht, um Freude an ihm zu haben; selbst beim ziellosen Blättern stößt man auf Originelles, Launiges und – Walser ist als Humorist notorisch unterschätzt – sehr Komisches, etwa weshalb er sich Harald Schmidt als seinen idealen Leser vorstellt, warum jedes Buch ein kleiner Grabstein ist, der „den Endgrabstein vorbereite[t]“, wie er den von seinen Töchtern verehrten Erich Fried als Autor von Gedichten, „die keine sind“, abwatscht, oder wie er eine etwas abseitige Deutung des Augenblicks der Liebe durch den Interviewer mit dem wunderbaren Satz zurückweist: „Jetzt geht Ihre Phantasie mit Ihnen durch, was ja gut ist.“
Zur Erschließung einzelner Themen und Personen über die Jahrzehnte hinweg wäre ein Index hilfreich gewesen – ein Schönheitsfehler, der sich vielleicht in künftigen Auflagen beheben lässt.
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