Gesellschaftswissenschaftliche Prognosen
Die amerikanische Politologin Barbara F. Walter ergründet die Entstehung und Verhinderung von Bürgerkriegen
Von Jens Flemming
Im amerikanischen Original ist der Titel unaufgeregt, frei von apokalyptischen Beimengungen: „How Civil Wars start. And how to stop them.“ Die deutsche Übersetzung verwandelt eine nüchterne Überschrift in eine Version, die der Verlag offenbar für marktträchtig hielt: „Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen.“ Das trifft den Inhalt des Buches allerdings nicht oder nur sehr bedingt. Zum einen ist die Zahl der Staaten mit existentiellen gesellschaftlichen Problemen überschaubar, und ob sie wirklich in eine wie immer dimensionierte Tiefe schauen, müsste noch genauer analysiert werden. Zum andern spiegelt dies nicht die eigentliche Botschaft des Buches. Denn die ist gemünzt auf die USA, nicht auf Nordirland, Lybien, Syrien, Kroatien oder Serbien nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens, die wesentlich illustrativen, gleichsam hinführenden Zwecken, vor allem terminologischer Klärung dienen.
Autorin ist die renommierte Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter. Sie ist Professorin an der University of California, San Diego. Dort lehrt sie Internationale Beziehungen. Außerdem ist sie Mitglied des Foreign Relations Council und der Political Instability Task Force. Sie weiß also, wovon sie redet. Im Sommer 2020, nur ein paar Monate vor der Wahl des Präsidenten, hätten ihr Mann und sie die Frage umgetrieben, ob sie die USA verlassen sollten. Ganz sicher waren sie sich nicht, immerhin aber sorgten sie dafür, die Pässe aus ihren Herkunftsländern, aus Deutschland und Ungarn, zu verlängern. Tatsächlich war mit dem Wahlsieg Bidens die Absicht zu gehen schon wieder verflogen. „Wir lieben dieses Land zu sehr, um es zu verlassen“, lautet die Begründung. Denn die USA hätten nicht das Ende ihrer Geschichte erreicht. Vielmehr stünden sie „am Anfang einer neuen Ära“ mit der „Chance“, ihr „Gründungsmotto“ mit Leben zu füllen: „E Pluribus Unum, aus vielen eins werden“, und damit die Gefahr von Bürgerkrieg und Niedergang zu verringern.
In den ersten Kapiteln richtet sich das Augenmerk auf „Risikofaktoren“ in Staaten, die vor Bürgerkriegen standen oder darin bereits involviert waren. Dabei hat die Autorin kein Interesse an individuellen Entwicklungen, an dem, was von Zeitgenossen und Publizisten als einmalig wahrgenommen wurde. Obwohl sie ihre Kapitel mit der Betrachtung individueller Fälle einleitet, stehen Elemente im Mittelpunkt, die auf ein Schema, auf Modellhaftes, Verallgemeinerbares hindeuten. Die Gründe für gesellschaftliche Instabilität sind, wie rasch deutlich wird, außerordentlich vielfältig. Keinesfalls lassen sie sich über einen Kamm scheren, was der Vergleichbarkeit gewisse Grenzen setzt. Das gilt auch für die Triftigkeit von Prognosen, die man daraus ableiten möchte. Die Autorin ist sich darüber im Klaren, wenn sie notiert, dass man „selbst mit den besten Daten“ die Zukunft nicht voraussagen könne. Möglich jedoch und wünschenswert seien gemeinsame Anstrengungen, diese jeweils „positiv und friedlich zu gestalten.“ Die Politikwissenschaft nämlich erforscht seit langem schon die „Kräfte hinter Bürgerkriegen“ und die „Dynamik des Terrorismus“. Daraus gewonnene Erkenntnisse, so Barbara F. Walter, „können nicht nur genutzt werden, um Kriege vorherzusehen, sondern auch, um sie zu verhindern.“ Man wisse schließlich, „warum Demokratien untergehen.“
Für die Analyse sind zwei etwas sperrige, hierzulande eher ungewohnte Begriffe zentral: „Anokratie“ und „Faktion“. Beide signalisieren Gefährdungen, deuten auf Vorstufen diktatorischer Regime. Der Prozess einer Anokratisierung zeigt sich dann, wenn die überlieferte Balance der Institutionen aus den Fugen gerät, wenn die Exekutive die Mitwirkung der Legislative einschränkt oder gänzlich ausschaltet. Die Türkei wäre dafür ein schlagendes Beispiel. Offenbar werden dabei zunächst schleichende, dann manifest werdende Übergänge von demokratischen Ordnungen in autokratische. Indes: Derartige Entwicklungen münden nicht mit innerem Automatismus in einen Bürgerkrieg. Manche Staaten, etwa Litauen oder die Tschechische Republik absolvierten „ohne große Probleme“ den Weg von der Anokratie zur Demokratie, andere wie Venezuela verwandelten sich in Anokratien, vermieden jedoch bewaffnete Auseinandersetzungen im Innern durch eine Strategie stetig sich verschärfender Repression.
Zu Faktionen werden Gruppen, die ihre Identität an „Abstammung, Sprache und Glauben“ festmachen. Sie sind fixiert auf hergebrachte Traditionen, Gebräuche und Bedürfnisse. Existenzformen derer, die ihnen nicht zugehören, schieben sie beiseite, übergeordnete Interessen des Staatsganzen ignorieren sie oder akzeptieren sie nicht. Das treibt ideologisch, religiös und ethnisch motivierte Konflikte hervor, politisiert, zerspaltet und paralysiert das Gemeinwesen. Die Tendenz zur Verabsolutierung des Eigenen auf Kosten des Anderen ist kein naturwüchsiges Phänomen, sondern muss erst geweckt und befördert, „in die Köpfe“ der Menschen „eingepflanzt“ werden. Diejenigen, die sich dafür zuständig erklären, nennt die Autorin „ethnische Entrepreneure“, wenn man so will: völkische Unternehmer, Spekulanten und Profiteure. Instrumente, die sie für ihre Zwecke okkupieren, sind Rundfunk, Presse und Fernsehen. Öffentliche Diskussionen und Veranstaltungen werden inszeniert und gelenkt von einschlägigen Propagandaapparaten. In dem Maß wie eine Gruppe so etwas wie Dominanz gewinnt, erleiden deren Konkurrenten Statusverlust, werden geplagt von Abstiegsängsten, tatsächlicher oder gefühlter Deklassierung. Aus dem Zerfall einer Gesellschaft in identitäre Segmente erwachsen gravierende Konsequenzen. Wissenschaftliche Studien legen die Vermutung nahe, dass dies alles „Brandbeschleuniger“ sind und namentlich in wenig gefestigten Staaten den Nährboden bilden für Protest, Aufstand und Bürgerkrieg.
Der am dichtesten argumentierende, zusammenhängende Linien zeichnende Teil des Buches widmet sich den Verhältnissen in den USA. Er ist geprägt von tiefer Sorge und zugleich überlagert von Optimismus. Zum Auftakt, gewissermaßen als Leitseil, dieses: „Den meisten Menschen“, lesen wir an einer Stelle, „ist nicht bewusst, wie anfällig westliche Demokratien für gewalttätige Konflikte sind.“ Ihnen sei es „selbstverständlich“, auf deren „Unerschütterlichkeit, Widerstandskraft und Krisenfestigkeit“ zu bauen: „Aber dieses Vertrauen stammt aus einer Zeit, in der es noch keine sozialen Medien gab.“ Damit ist zugleich ein Kammerton angeschlagen für die kritische Musterung der vergangenen Jahre in den Vereinigten Staaten. Sie führt uns zurück in die unmittelbare Vergangenheit, wesentlich in die Ära des Ex-Präsidenten Donald Trump.
Vieles von dem, was da berichtet wird, ist noch geläufig, auch die Begeisterung darüber, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner den Mann mit knapper Mehrheit abgewählt, wenngleich nicht in die Wüste geschickt haben. An der „Krisenfestigkeit“ der USA hatten sich damals erhebliche Zweifel eingeschlichen. Und mancher hat sich am 6. Januar 2021 gefragt, ob nicht der Bürgerkrieg an die Türen klopfe und ein gewaltbereiter Mob die Dinge unwiderruflich in die Hand nehmen würde. Bewahrheitet haben sich derartige Befürchtungen nicht, weil wichtige „Leitplanken“ einer demokratischen Ordnung weiterhin funktionstüchtig blieben. Aber manches, vor dem die Autorin warnt, ist nicht verschwunden, sondern macht auch fürderhin von sich reden. Denn die USA seien, wie Barabara F. Walter kommentiert, „zum ersten Mal seit über zweihundert Jahren zu einer Anokratie“ mutiert.
Um erneuten Malaisen vorzubeugen, bedarf es der Reformen, vor allem auch einer Abkehr von „identitätsbasierter Politik“. Das Wahlrecht und die damit verbundenen Regularien müssten so ausgestaltet werden, dass sie für Missbrauch zugunsten bestimmter Parteien nicht mehr zugänglich sind. Empfindungen der „Entfremdung“, die Teile der Bevölkerung gegenüber dem Staat und den Washingtoner Eliten hegen, sollten so rasch wie möglich, wenn schon nicht abgebaut, so doch vermindert werden. Auch das Verhältnis zur Wahrheit wäre neu zu justieren. „Fake News“ gehören in die Rumpelkammer der Politik. Und natürlich ist es notwendig, sich auf mögliche Szenarien eines Bürgerkriegs oder bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen vorzubereiten. „Es gilt“, resümiert die Autorin, „Amerikas Regierung zu reformieren, sie transparenter, verantwortungsvoller, gerechter und für alle Bürger offener zu machen.“ Dazu gehört, den Radius und die Macht der sozialen Medien energisch zu beschneiden. Denn die können zu Netzwerken eines globalen Extremismus mutieren. Sie in ihre Schranken zu weisen, wäre vermutlich ein Gewinn, denn dies dürfte „die liberalen Demokratien auf der ganzen Welt stärken.“ Und schließlich: Nimmt man den sozialen Medien „das Megafon“ fort, dann könnten „die Unruhestifter, Verschwörungstheoretiker, Bots, Trolle, Desinformationsmaschinen, Hetzer und Demokratiefeinde nicht mehr so laut tönen“ wie zuvor. Trump hat davon erheblich profitiert, ob er damit bei den kommenden Wahlen ähnliche Erfolge wird einheimsen können, wird sich weisen. Und das heißt zugleich, die Validität der Situationsanalysen und die daraus abgeleiteten Prognosen geraten dann wirklich auf den Prüfstand.
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