Ein bedeutendes Kapitel nicht nur der deutsch-britischen Kunstgeschichte

„Defending ‚degenerate‘ art. London 1938“ – eine Anti-Hitler-Kunstaktion

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Liebermann-Villa am Wannsee ist in Zusammenarbeit mit der Wiener Library in London die Ausstellung London 1938. Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler eröffnet worden, die bis zum 14. Januar 2019 zu sehen sein wird. Sie erinnert an die denkwürdige  Schau Twentieth Century German Art 1938 in London. Damals wurden mehr als 300 Meisterwerke der deutschen Moderne, vor allem aber auch emigrierter und in Nazi-Deutschland als „entartet“ geltender Künstler unter schwierigsten Umständen zusammengetragen. Es handelte sich um eine Gegenausstellung zu der NS-Propaganda-Schau Entartete Kunst 1937 in München – und Hitler schäumte vor Wut, als er 1938 die von den Nazis „gleichgeschaltete“ Große deutsche Kunstausstellung in München eröffnete und auf diese Londoner Ausstellung, die später in den USA gezeigt wurde, zu sprechen kam.

Zum 80. Jubiläum der Londoner Ausstellung konnten jetzt in der Liebermann-Villa Original-Arbeiten, die damals zu sehen waren, zusammengeholt werden. Kuratiert wird diese Gedächtnisschau von der jungen englischen Kunsthistorikerin Lucy Wasensteiner, die jahrelang über das Londoner Ausstellungsprojekt von 1938 geforscht und sich fast drei Jahre in der Liebermann-Villa aufgehalten hat. Die ausgestellten Werke von Wassily Kandinsky, Max Liebermann, Emil Nolde, Paula Modersohn-Becker, Oskar Kokoschka, Max Beckmann, Otto Dix, Käthe Kollwitz und vielen anderen wiederzusehen, ist allein schon ein Erlebnis. Aber zu erfahren, welch ein internationales Netzwerk damals geknüpft wurde, um Werke aus Nazi-Deutschland herauszuschmuggeln, wie – vorwiegend jüdische –  Sammler, aber auch Galeristen, Kunsthistoriker und emigrierte Künstler Arbeiten ermittelten und nach London brachten, ist mindestens ebenso beeindruckend.

Die Züricher Galeristin Irmgard Burchard war es, die dank ihres Schweizer Passes länderübergreifend hin und her reiste und die Leihgaben zusammentrug. Max Pechstein, der weiterhin in Deutschland lebte, nannte seine wichtigsten ausländischen Sammler, die dann ihre Werke zur Verfügung stellten. Selbst Martha Liebermann, die Witwe Max Liebermanns, ließ ein Werk ihres Mannes, das Porträt Albert Einsteins, nach London schicken. Kurt Schwitters sandte Arbeiten aus seinem Exilland Norwegen nach England, Peggy Guggenheim, die gerade ihre Galerie Guggenheim jeune in London eröffnet hatte, vermittelte der Ausstellung Werke von Kandinsky und Kokoschka. Natürlich gab es auch Differenzen und Auseinandersetzungen, die unter anderem zum Rücktritt des emigrierten Kunstkritikers Paul Westheim führten. Er, der in der Zeit der Weimarer Republik die Zeitschrift Das Kunstblatt herausgegeben hatte und 1937 zu den Gründern des Deutschen Künstlerbundes in Paris gehörte, wollte entschieden die politische Zielrichtung der Ausstellung verstärken. Der prominente Schriftsteller und Kunsthistoriker Herbert Read wurde dann Präsident des Organisationskomitees. Es kam zu einem Wechsel des Ausstellungstitels in Twentieth Century German Art, auch ein neuer Ausstellungsort musste mit den New Burlington Galleries gefunden werden.

Welche Werke aus der damaligen Londoner Ausstellung werden nun in der Liebermann-Villa gezeigt? Da ist zuerst zu nennen das sehr persönlich wirkende Bildnis Professor Albert Einstein (1925) von Max Liebermann. Es ist beispielhaft für dessen Porträtwerk und wurde zwar im Katalog der Londoner Ausstellung als Leihgabe eines Londoner Privatsammlers aufgeführt, doch solche Formulierungen dienten oft dazu, die Identifizierung von Eigentümern zu verhindern, die damals noch in Deutschland lebten. Das Gemälde hat sich wohl 1938 weiterhin im Besitz von Martha Liebermann befunden, denn es zählte zu den Werken, die die Witwe des Malers seit Mitte der 1930er Jahre für verschiedene Ausstellungen zur Verfügung stellte. Unter den wohl mehr als zehn Werken, mit denen sich der Züricher Arzt und Sammler Sigmund Pollag an Twentieth Century German Art beteiligte, gehörte auch Liebermanns Konzert in der Oper (1922), während dessen Kartoffelpflücker (1874) – ohne Sentiment und ohne Pathos ist er in den Naturraum gestellt – von dem nach London emigrierten Galeristen Max Stern stammte.

Mindestens sechs Gemälde von Lovis Corinth liehen das bereits 1934 nach England emigrierte jüdische Sammlerpaar Erich und Senta Göritz, darunter auch das zauberhafte In Bordighera (1912), während Corinths Selbstbildnis (etwa 1912) – das Abbild wird hier undeutlich, aufgerissen, durchlässig für Zerrüttungen, die bisher verborgen geblieben waren – der nach 1933 aus Deutschland emigrierte Kunsthistoriker Ludwig Burchard beisteuerte. Mit sechs Bildern Max Slevogts beteiligten sich der nach England emigrierte Arzt Janos Plech und seine Frau an der Londoner Ausstellung, so auch mit Der Garten in Neukastel mit der Bibliothek (1930-31) – Slevogt malte ihn vor dem Motiv alla prima – und Der Panther (1931) – man scheint den Atem der Raubkatze zu spüren –, die nun am Wannsee zu sehen sind.

Paula Modersohn-Beckers Landschaft mit drei Kindern (1902) und Stillleben mit Orangen, Bananen, Zitrone und Tomate (1906) kamen aus der Schweiz, während ihre ergreifende Alte Armenhäuslerin (1906) – der Frauenkörper verweist eher auf die Stofflichkeit der Dargestellten als dass er diesen abbildet – als „entartet“ aus der ständigen Sammlung des Stadtmuseums Dresden entfernt werden musste und 1936 vom Basler Kunsthändler Willi Raeber gekauft wurde.

Mindestens 20 Werke hatte der 1933 nach Paris geflüchtete Bankier Hugo Simon geliehen, darunter auch Erich Heckels Badende (1914). Max Pechsteins Fischerpferde (1919) stammte aus der Sammlung Walter Minnich, der größten Privatsammlung dieses Künstlers außerhalb Deutschlands. Ernst Ludwig Kirchners Stafelalpweg (1918-19) war eine Leihgabe des Chefarztes eines Davoser Sanatoriums Heinrich Staub. Dieser war mit Kirchner befreundet, der seit 1917 in Davos lebte und 1938 hier Selbstmord beging. Die Welt der Farbe entsprach der subjektiven Natur der einstigen „Brücke“-Maler, mit denen sie auf die äußere Natur antworteten.

Der seit 1933 bei Paris lebende Kandinsky stellte mindestens zwei der insgesamt 13 Werke selbst zur Verfügung, so auch Murnau, Landschaft mit Turm (1908), während der andere Kandinsky, der in der Liebermann-Villa gezeigt wird, Unbenannte Improvisation II (1914) – hier wirbelt ein ununterbrochener Fluss von Zeichen und grafischen Schwingungen um ein imaginäres Zentrum herum – aus der Schweizer Sammlung Nell Walden stammt, aus der wenigstens 39 Werke in London ausgestellt wurden. Eines der ergreifendsten Werke Kokoschkas ist in der Ausstellung am Wannsee das Selbstbildnis als entarteter Künstler (1937). Der Künstler hatte es dem Industriellen und Wirtschaftswissenschaftler Emil Korner übergeben, bei dem er damals in Tschechien Zuflucht gefunden hatte. Die Bildoberfläche ist so transparent und flackernd, als ob der Künstler sich scheut, in seiner psychischen Qual bloßgelegt zu werden. Das Aquarell Gift (1932) von Paul Klee, ein Bild des Widerstandes, hat Burchard im Einverständnis mit dem Künstler mit zwei weiteren Klee-Werken nach London geschickt.

Der der Ausstellung beigegebene deutsch- und englischsprachige Studienband weist aus, welch eine ungeheure Recherchearbeit hier geleistet worden ist, um die Provenienz der Werke zu ermitteln, Informationen zu den Leihgebern des Jahres 1938 und zu der Resonanz der Londoner Ausstellung in Großbritannien und in NS-Deutschland zu präsentieren. Meike Hoffmann untersucht die NS-Kulturpolitik in ihrer Konsolidierungsphase 1933 bis 1937, beschäftigt sich mit deren Hauptprotagonisten Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Bernhard Rust, ihren Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten. Die nationalsozialistischen Kunstanschauungen gingen von einer völkischen Ideologie aus. In München wurde 1937 die erste Große Deutsche Kunstausstellung eröffnet und der Goebbels dann die Femeausstellung Entartete Kunst gegenüberstellte. Auf diese Weise wurde dem Besucher der Kontrast von „arteigen“ und „entartet“ visualisiert. Auf der Grundlage eines Führererlasses wurden nun alle restlichen Bestände moderner Kunstwerke in Museen und Institutionen beschlagnahmt. Insgesamt waren mehr als 21.000 Kunstwerke davon betroffen.

Barbara Warnock gibt in ihrem Bericht über die Emigranten und Flüchtlinge aus NS-Deutschland nach Großbritannien zwischen 1933 und 1938 genaues Zahlenmaterial an. Auch wenn es nicht einfach war, in Großbritannien Zuflucht zu finden, konnte vor allem nach den wachsenden Verfolgungen im Deutschen Reich und der Zerschlagung der Tschechoslowakei die britische Regierung durch die Hilfsorganisationen bewogen werden, die Einreiseformalitäten zu lockern. Von 80.000 vor allem jüdischen Flüchtlingen ist die Rede, die 1933 bis 1939 von Großbritannien aufgenommen werden.

Matthew C. Potter fragt, wie sich die britisch-deutschen Kunstbeziehungen vor 1938 entwickelt haben und nennt 1906 als ein Schlüsseljahr. Galten anfangs die unregelmäßig stattfindenden Ausstellungen einer Bildungsnovität, so dienten sie in der Kaiserzeit als „Balsam“ für die politischen Spannungen, die zwischen beiden Ländern bestanden.  

Einen grundlegenden Beitrag liefert Wasensteiner, indem sie die Geschichte der Londoner Ausstellung von 1938 darstellt und nachzeichnet, wie die Londoner Kunsthändlerin Noel Norton und die Züricher Galeristin Irmgard Burchard unabhängig voneinander den Plan fassten, verbotene deutsche Künstler auszustellen, wie sie beschlossen, gemeinsam eine solche Ausstellung zu realisieren, wie Westheim hinzukam, der zu den Gründern des Deutschen Künstlerbundes in Paris gehörte, wie dieser die politische Neutralität der Ausstellung kritisierte und zurücktrat und Read Präsident des Organisationskomitees wurde. Die Ausstellung, deren Titel noch geändert werden musste und für die man einen neuen Ort brauchte, wurde, wie Wasensteiner in einem weiteren Beitrag ausführt, zu einem „großartigen moralischen Erfolg“ und in England wie in Nazi-Deutschland als klares Statement gegen die NS-Kulturpolitik verstanden. Zur Vernissage der Ausstellung, zu der mehr als 1.000 Menschen kamen, hat sich nur eine einzige Serie von Fotos erhalten, die, so Veronica Hekking, von dem aus Berlin emigrierten Otto Erich Salomon stammte, der später unter dem Namen Peter Hunter bekannt wurde.

Martin Faass verweist in seinem Text auf die beiden einzigen Liebermann-Ausstellungen in NS-Deutschland, die 1935 als Gedenkausstellungen im Jüdischen Museum Frankfurt am Main und Berlin stattfanden. Die Organisatoren der Londoner Ausstellung räumten ihm einen prominenten Rang in ihrer Präsentation ein: Zehn Gemälde und acht Grafiken kamen zusammen und wurden mit Bildern von Corinth und Slevogt, aber auch Modersohn-Becker gezeigt. David Elliot gibt Auskunft über das zusammen mit dem Ausstellungskatalog herausgekommene Taschenbuch Modern German Art, das erste Buch in englischer Sprache zur „modernen deutschen Kunst“, von Peter Thoerme (ein Pseudonym des linken Kunsthistorikers Oto Bihalji-Merin). Bihalji hob den Pluralismus und das spezifisch antifaschistische Wesen der Avantgarde hervor. Kein britischer Autor dieser Zeit, schreibt Elliot, wäre damals in der Lage gewesen, so wie Bihalji Kunst als Kontinuum des kulturellen Schaffens des Menschen zu aktivieren.

Albrecht Dümling befasst sich in seinem Beitrag mit dem Londoner Festival of German Music, das als Antwort auf die 1938 in Düsseldorf gezeigte Nazi-Propagandaschau Entartete Musik und als Ergänzung zur Ausstellung Twentieth Century German Art in den New Burlington Galleries stattfand. Die Londoner Konzerte präsentierten sowohl Werke von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert als auch von Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Anton Webern, Paul Hindemith. Ernst Krenek und Kurt Weill als „deutsche Musik“ ohne jede rassische und stilistische Einschränkung. Wenn auch die Wirkung der Konzerte auf das englische Publikum begrenzt war, öffneten sie den beteiligten Komponisten die Augen über das ganze Ausmaß der NS-Kulturbarbarei: Hindemith verließ daraufhin Deutschland, Benjamin Britten lehnte die Aufführung eines seiner Werke beim Festival für zeitgenössische Musik in Baden-Baden ab.

Aya Soika zufolge war Nolde unfreiwillig als einer von insgesamt 64 Künstlern mit zwei Gemälden, sieben Aquarellen und jeweils einer Zeichnung und einer Lithografie vertreten; diese wurden der Londoner Ausstellung von Schweizer oder emigrierten jüdischen Sammlern zur Verfügung gestellt. Nolde hatte vorher schon in schriftlichen Loyalitätsbekundungen an den Kultusminister Bernhard Rust und Propagandaminister Goebbels zum Ausdruck gebracht, dass er weder „entartet“ noch „undeutsch“ wäre. Dass Nolde mit Werken aus jüdischem Besitz Seite an Seite mit emigrierten Künstlern ausgestellt worden war, hatte ihn veranlasst, sich durch Betonung seines Antisemitismus von den Zielen der Schau abzugrenzen. Nolde hatte noch 1938/39 das NS-Regime befürwortet und dessen antijüdische Politik akzeptiert. Aber Nolde wurde auch selbst als ‚entartet‘ verfemt und steht deshalb wohl auch zu Recht im Untertitel von Katalog und Ausstellung in der Reihe der Künstler ‚gegen Hitler‘.

 In den Erinnerungen eines Kurators äußert sich Richard Calvocoressi über die Aufnahme der deutschen Kunst der Moderne in Großbritannien nach 1938. Zwar fanden in den 1930er Jahren in Edinburgh schon mehrere Ausstellungen deutscher Kunst statt und es wurde bereits 1939 eine abgewandelte Version von Twentieth Century German Art in Glasgow gezeigt, aber es bedurfte doch eines Generationswechsels, ehe die britischen Museen eine größere Aufgeschlossenheit für die deutsche Moderne bekundeten. Die privaten Galerien zeigten da schon weit früher ein viel größeres Engagement. Seit den 1980er Jahren kam es aber zu größeren Erwerbungen und substanziellen Ausstellungen bezüglich der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts.

Über die Ausstellungstournee Twentieth Century (Banned) German Art durch die USA informiert Keith Holz. Es gelang der Organisatorin Blanche A. Byerley, zumindest neun Museen zur Übernahme der Schau zu bewegen. Wenn auch nur wenige Bilder verkauft wurden, so regte doch die Tournee die amerikanischen Kunstinteressierten dazu an, sich mit den Verfolgungen und Vertreibungen von Künstlern und ihren Werken in NS-Deutschland auseinanderzusetzen.

Damals ließ der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Londoner Ausstellung in Vergessenheit geraten. Jetzt wird an ein bedeutendes Kapitel nicht nur deutsch-britischer Kunstgeschichte erinnert.

Titelbild

Lucy Wasensteiner / Martin Faass (Hg.): London 1938. Defending ‚degenerate‘ art. Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler.
Nimbus. Kunst und Bücher, Wädenswil 2018.
240 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783038500490

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