Satirische Reiseberichte zwischen Chauvinismus und Kulturkritik

Neuerscheinung von Evelyn Waughs „Expeditionen eines englischen Gentleman“

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Evelyn Waugh musste nach eigenen Angaben seinerzeit im Gotha nachschlagen, um Aufschluss über einen ihm bis dahin unbekannten Herrscher zu erhalten. Das noch heute erhältliche Konversationslexikon der Adelsgeschlechter verriet ihm, dass Ras Tafari eine der wichtigsten Gestalten des afrikanischen Kontinents war. Dieser Ras Tafari, bis heute in Europa besser unter dem Namen Haile Selassie bekannt, sollte im Herbst 1930 zum Negus Negest gekrönt werden. Als äthiopischem Kaiser gebührte ihm der Titel des „Königs der Könige“. Die anstehende Kaiserkrönung bewegte nicht nur den afrikanischen Kontinent, sondern sorgte auch in Europa für höchste Aufmerksamkeit. Vertreter aller europäischen Regierungen waren zu dem Jahrhundertereignis eingeladen – viele buhlten darum, teilzunehmen. Selbstredend entsandten die Redaktionen der europäischen Presse Berichterstatter. Waugh reiste im Auftrag der Londoner Zeitungen Daily Express und The Times nach Addis Abeba. Dazu musste der Reporter Waugh zunächst eine Schiffsreise bis in den Golf von Aden unternehmen, um von dort mit der Eisenbahn tief nach Ostafrika, auf die amharische Hochebene zu gelangen. Addis Abeba ist die erste große Station seiner Fahrt, die ihn auch nach Sansibar und in den Kongo, Kenia und Aden führt. Seine satirischen Berichte, die zusammengefasst unter dem englischen Originaltitel Remote People erschienen, zeugen von sensibler Beobachtungsgabe, Witz und Ironie. Und sie werfen nicht nur einen kritischen Blick auf afrikanische Verhältnisse zwischen den beiden Weltkriegen, sondern auch auf selbstverliebte Europäer fern der Heimat.

Anders als es der Leser erwartet, will Waugh bei seinem Publikum keineswegs Neid wecken: Dort wo ihn die Reise hinführte, muss man nicht gewesen sein. Denn die fremde weite Welt, die er beschreibt, erweist sich als skurril und lächerlich, langweilig, bisweilen auch düster und sogar gefährlich. Jedenfalls bezweifelt Waugh, dass Reisen erstrebenswert sei. Man möchte wohl nicht tauschen mit einem, der versichert, die Verhältnisse während der Krönungsfeiern seien ein einziger verrückter Zauber, nur mit Alices Adventures in Wonderland angemessen vergleichbar. Was es in Addis Abeba während der Zeit der Festivitäten zu sehen gibt, wirkt auf Waugh wie eine „verfremdete Realität, wo Tiere Uhren in den Westentaschen tragen, Majestäten auf dem Crocket-Rasen neben dem Scharfrichter einherschreiten und eine Gerichtsverhandlung damit endet, dass plötzlich ein Kartenspiel durch die Luft segelt“. Staunend wird Waugh Zeuge chaotischer Volksaufläufe, nimmt an verwirrenden Staatsempfängen teil, die kein Protokoll kennen. Amüsiert beobachtet er, dass sich – nicht nur in der kaiserlichen Hauptstadt – Vertreter des Okzidents zum Narren machen, wie etwa die deutsche Köchin im roten Schlüpfer oder die von Flöhen geplagte Gesellschaft des Herzogs von Gloucester.

Als zuverlässiger Berichterstatter gibt Waugh Auskunft über die historisch-politischen Hintergründe des abessinischen Kaiserreichs. Er erzählt von Menelik dem Großen, der vierzig Jahre zuvor die neue Hauptstadt aus einem Feldlager gründete. Strategisch geschickt habe er von dort aus die verschiedensten Volksstämme regiert und damit die Machtposition begründet, die Haile Selassie nun halte. Waugh versorgt seine Leser nicht nur mit dem skurrilen Flair einer unfassbaren Märchenwelt, sondern vermittelt auch handfestes Wissen über einen Verbündeten des Britischen Reichs. Dass Abessinien und der zu krönende Negus nur wenige Jahre später zum zweiten Mal vom faschistischen Italien angegriffen werden und zu einem wichtigen weltpolitischen Faktor werden würde, ahnt Waugh wohl nicht. Trotzdem erweist sich Remote People als äußerst interessante kulturgeschichtliche Quelle, die nicht nur heutige Kenner Afrikas interessieren dürfte. Auch heikle Themen wie die Beschneidung junger Mädchen greift Waugh auf. Er berichtet von der Begegnung mit einem Missionar, der ihm vom vergeblichen Kampf gegen dieses Ritual erzählt. Die Lösung gibt Waugh wörtlich zitiert wieder und entlarvt sowohl die Bigotterie des Missionars als auch das Scheitern zivilisatorischer Werte auf ganzer Linie: Die Gattin des Gottesmannes führe nun das traditionelle Prozedere an den jungen Frauen im Gemeindehaus durch.

Die Übersetzung von Matthias Fienbork ist meist geschmeidig. Allerdings gibt es immer wieder sprachliche Rauheiten, weil so mancher englische Begriff zwar semantisch korrekt ins Deutsche übertragen wurde, stilistisch aber irritiert. Eine „galvanisierte“ Realität lässt einem eher den Duft eines Chemielabors in die Nase steigen, als dass man darin eine gelungene Beschreibung der unerwarteten Begegnung mit etwas absolut Fremden erkennen würde. Ähnlich verhält es sich mit einer „atavistischen“ Ahnung über das Wesen von Fruchtbarkeit. Evolutionsbiologisch mag die Wendung korrekt sein, aber im Deutschen weckt der Ausdruck eher lächerliche Vorstellungen von übermäßiger Körperbehaarung oder grotesken Missbildungen. Geläufiger und richtiger wäre hier „instinktive“ Ahnung.

Auffällig ist noch vor dem Einstieg in die Lektüre die Entscheidung für die deutsche Übersetzung des Titels von Remote People. Die aktuelle Ausgabe bei Diogenes macht den Untertitel der zweiten und im Jahre 2008 bei Eichborn erschienenen Auflage der ersten deutschen Übersetzung von 2007, die ebenfalls Fienbork besorgte, zum Haupttitel: Expeditionen eines englischen Gentleman. Die limitierte Erstausgabe des Eichborn-Verlags erschien im Deutschen 2007 unter Befremdliche Völker, seltsame Sitten – Expeditionen eines britischen Gentleman und fokussierte damit hauptsächlich die indigene Bevölkerung Abessiniens und den von Waugh bereisten riesigen, vielfach noch unerforschten Kontinent. Weit weg sind die Beschriebenen. Tausende von Kilometern, tief drinnen im schwarzen Kontinent. Und wenn es auch zivilisatorische Errungenschaften – wie etwa die Eisenbahn, europäische Architektur oder auch die Krönungskutsche Wilhelms II. –  bereits dorthin geschafft haben, so fehlen offenbar doch Geist und Wesen europäischer Zivilisation und lassen die Beobachtungen wie eine pervertierte Variante des absurden Wunderlands von Lewis Carroll anmuten. Die vorsichtige Vorgehensweise bei der Wahl des Titels ist verständlich: Mit dem Verzicht auf Befremdliche Völker, seltsame Sitten vermeiden die Verantwortlichen, von vornherein wegen politischer Inkorrektheit kritisiert zu werden. Doch andererseits führt der Titel der Neuerscheinung, Expeditionen eines englischen Gentleman, den Leser in die Irre, denn er unterschlägt einen wesentlichen Aspekt. Waughs Beobachtungen offenbaren eben nicht nur die traditionell chauvinistische Haltung eines imperialen Briten, der in entlegenen Regionen Afrikas auf rückständige Volksstämme („remote people“) trifft. Jenseits der Grenzen seines Mutterlandes sieht Waugh mit scharfem Blick sehr genau auch auf jene Menschen („people“) des Westens, die sich „fern“ ihrer Heimat („remote“) in Afrika niedergelassen haben. Unter ihnen sind zuhauf lächerliche, tumbe, schrullige, selbstgerechte, egozentrische und auch gescheiterte Existenzen. So erweist sich die Ferne nicht nur als wundersamer Ort der Abenteuer, sondern auch als Beobachtungsposten dafür, wie zweifelhaft der Erfolg solcher Kulturexporteure bleiben muss, weil sie selbst zweifelhaft sind.

Die Rezension zur Übersetzung von 2007 ist hier zu finden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Evelyn Waugh: Expeditionen eines englischen Gentleman.
Mit einem Nachwort von Rainer Wieland.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Fienbork.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
326 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070262

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