Auf der Suche nach Verlorengegangenen und Beobachtungen des Jetzt
Erhard Weinholz auf Streifzügen durch den Osten Berlins
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseErhard Weinholz (Jahrgang 1949) lebt seit 1969 in Berlin. Aufgrund seiner fast fünfzigjährigen Erfahrung ist er ein profunder Kenner der Metropole, vor allem als Hauptstadt der DDR (bis 1989) aber auch als gesamtdeutsche Hauptstadt. Von Beruf eigentlich Ökonom, schreibt der freiberufliche Übersetzer seit den 1970er Jahren Prosa und publizistische Arbeiten, zuletzt für die beiden Zweiwochenzeitschriften Blättchen und Ossietzky – beide in der Tradition der legendären Wochenzeitschrift Die Weltbühne von Siegfried Jacobsohn (1881-1926), Kurt Tucholsky (1890-1935) und Carl von Ossietzky (1889-1938) stehen. Und so sind die hier unter dem Titel Lokaltermin – Berliner Ansichten versammelten Berlin-Streifzüge auch zunächst in diesen beiden Zeitschriften erschienen.
Bei seinen Berliner Spaziergängen entpuppt sich Weinholz als aufmerksamer und kritischer Beobachter. Er erkundet die Stadt, die sich ständig im Wandel befindet. Die 174 Seiten beginnen, wie sollte es anders sein, mit einer Stippvisite auf dem Alexanderplatz, „auf dem eine fast schon immerwährende Volksfeststimmung“ herrscht. Aber „eigentlich ist er gar kein Platz, sondern bloß eine Restfläche“.
Weinholz, der viele Jahre in der Schwedter Straße wohnte, kennt noch gut das Ost-Berlin aus der Vorwendezeit, die Mietshäuser mit dem bröckligen Putz und den undichten Dächern. Außerdem mit den Außentoiletten, bei denen im Winter die Rohre einfroren. Doch zum „Tag der Republik“ wurde fahnengeschmückt. Heute interessiert das kaum noch jemand. Es wurde saniert oder abgerissen. Doch häufig kann Weinholz in dem „Modernen kaum Bemerkenswertes erkennen“. Es sind Alltagsbegegnungen, die ihn zum Innehalten und Notieren bewegen – wie der junge Mann, der in der U- und S-Bahn kleine Zettel mit selbst verfassten Geschichten für 50 Cent verkauft.
Auf dem U-Bahnhof Klosterstraße entdeckt Weinholz schließlich das „stille Berlin“, wo er den U-Bahn-Musikern zuhört. Auch andere Berliner Bahnhöfe wie der Wiesenburger Bahnhof gehören zu seinen Wanderzielen. Meist hat er jedoch kein genaues Ziel, häufig entscheidet er sich spontan. Da kann es schon passieren, dass er einfach auf einem Kinderspielplatz landet. Dabei kommt er über den östlichen Ringbahnbereich selten hinaus. Gelegentlich unternimmt Weinholz auch eine Landpartie, etwa nach Brandenburg und Rathenow. Dieser etwas längere Text mit Wahrnehmungen aus der Provinz ist eine Erstveröffentlichung. In den drei Texten Friedrichsfelder Ansichtskarte beleuchtet Weinholz kurz die ältere (1967) und jüngere (2000 und 2017) Geschichte des Berliner Ortsteils. Als wollte er am Ende der Hauptstadt entfliehen, begibt er sich bei seinem letzten Streifzug noch einmal aufs Land, nach Belzig, dem Ort seiner Oberschule, von wo er nach Borne und Wiesenburg, dem Wohnort der Eltern, wandert.
Weinholz, der sich selbst als „Landstreicher“ sieht, versucht, Vergangenes mit jüngerem Geschehen zu verbinden. Trotz der vielen Erinnerungen und der Suche nach Verlorengegangenen spricht aus den Texten keine Nostalgie. Das verbietet sich allein schon bei einem Blick auf Weinholz‘ Biografie – schließlich verlor er aus politischen Gründen 1982 seinen Arbeitsplatz an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seine Berliner Ansichten sind Miniaturen, die ganz ohne literarische Ambitionen entstanden. Weinholz ist nicht durch Berlin gewandert, um über die Stadt zu schreiben, sondern um seine Stadt immer wieder neu zu entdecken. Und dazu lädt er den Leser ein.
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