Wie man springend im Text vorwärts kommt

Kaltërina Latifis beeindruckende Studie „Perspektivische Ambiguitäten“ zur Poetologie E.T.A. Hoffmanns

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es vorweg zu sagen: Die Lektüre von Latifis Untersuchung ist ein Stück Arbeit – das sich aber lohnt. Kaltërina Latifi, die sich derzeit an der Universität Göttingen zur Ästhetik des Fragments habilitiert, ist eine ausgewiesene Kennerin des Werkes E.T.A. Hoffmanns, zu dem sie z.B. textkritische Ausgaben des Sandmanns (2020) und dreier Erzählungen aus den Fantasiestücken in Callot’s Manier (2014) veröffentlicht hat. Bereits auf den ersten Seiten ihrer neuen Studie zur Poetologie Hoffmanns wird deutlich, dass Latifi Hoffmann Achtung entgegenbringt, wenn sie ihn als „virtuosen Sprachkünstler“, als Meister des perspektivischen Erzählens und als „Urheber moderner Erzählverfahren“ bezeichnet. In Perspektivische Ambiguitäten wirft sie einen zum Teil neuen Blick auf das Werk eines der meistinterpretierten deutschsprachigen Autoren – was angesichts der Forschungsdichte erstaunlich ist. Dabei begibt sich Latifi tief in die Texte hinein, sie unterzieht die sprachlichen Strukturen einer mikrostilistischen Untersuchung, das Vorgehen nennt sie „lingualpoetische, ja syntaxanalytische Perspektive“. Ziel ist es aufzuzeigen, wie Hoffmann seine Sprache nutzt, um im Text Zweideutigkeiten und Perspektiven zu erzeugen. Latifi will belegen, wie Hoffmann das Was einer Erzählung mit dem Wie kombiniert, um so etwas Neuartiges, nämlich eine „literarische Mitteilung“ zu schaffen. 

Die Studie ist im Kern in drei Kapitel gegliedert. Durchweg bettet Latifi Hoffmanns Werk in einen zeitgenössischen Kontext ein, indem sie Goethe, Schlegel, Hegel, Hölderlin, Leibniz, Kant, Lessing und andere zitiert. Dabei ragt der Teil „Poetologische Annäherung(en)“ heraus, da Latifi hier auf einige Grundzüge in Hoffmanns Schreiben eingeht. So beschreibt sie die Verbindung zwischen Autor und Leser*innen und welche Ziele Hoffmann hier verfolgt; sie geht auf Hoffmanns Prozess des Schreibens ein und unterfüttert das mit Zitaten aus Tagebüchern und Briefen. Zudem lenkt sie den Blick auf die Wechselwirkungen von Stoff und Sprache und wie diese beiden Seiten derselben Medaille durch ihr stetiges Wenden Grundbestandteil der Poetik Hoffmanns werden. Die Poetologie, also „die gewundenen Wege der lingua […] mitzugehen“, die Verwickelungen und in sich verschachtelten Bewegungen der Sprache zu ergründen, das ist Latifis Instrument. Sie nutzt dieses, um sich in „den Labyrinthen wortsprachlicher Hervorbringung“ zurechtzufinden.

Im zweiten, umfangreichsten Kapitel des Buches seziert die Autorin ausgewählte Texte Hoffmanns. Dafür zieht sie Texte der gesamten literarischen Schaffensperiode von 1814 und 1822 heran: drei Texte aus den Fantasiestücken in Callot’s Manier (Jaques Callot, Ritter Gluck, Kreisleriana), jeweils einen Text aus den Nachtstücken (Der Sandmann) und den Serapionsbrüdern (Rat Krespel) sowie die beiden späten Texte Schreiben an den Herausgeber und Des Vetters Eckfenster. Hier deckt sie jeweils auf, wie durch kleine sprachliche Veränderungen eine neue Perspektive geschaffen oder eine bewusste Irritation ausgelöst wird oder wie die Struktur der Geschichte die Struktur des Textes widerspiegelt. Dieser Nachweis gelingt ihr sehr überzeugend. Mit Lust und Auge fürs Detail widmet sich Latifi zunächst unscheinbaren sprachlichen Auffälligkeiten, etwa dem Wandel von einem hier zu einem da, dem hinauf- und herabgehen, einem scheinbar beiläufig eingestreuten „u.s.w.“, der bewussten Setzung von Satzzeichen, einer konditional geäußerten Kausalverbindung wie „schaue ich […] so beleben sich“, durch welche die Belebung der Figuren mit dem Schauen als ästhetischem Element verknüpft wird oder auch der Besonderheit von zwei Westen, die in der Kreisleriana metaphorisch eine So-tun-als-ob-Thematik exponieren und eine Zweiteilung der gesamten Erzählung aufgreifen. Diese Auffälligkeiten stellt sie dann in den Kontext der Erzählungen und prüft, welche Aufgaben sie im Text oder für den Text erfüllen. Dabei geht sie auch auf gezielte Manöver der Täuschung ein, die Hoffmann unternimmt oder zeigt auf, wie Hoffmann durch sein Erzählen auch sein Schreiben reflektiert. Das gelingt ihr und motiviert, einige Texte Hoffmanns nochmals unter dem Eindruck ihrer Erkenntnisse neu zu lesen.

Gekonnt werden die Aufsätze an einigen Stellen durch Faksimiles von Handschriften und Zeichnungen Hoffmanns ergänzt. Erfreulich ist die Auseinandersetzung mit der eher weniger bekannten Erzählung Der Dey von Elba in Paris, die jedoch leider nur auf den letzten Seiten des Buches berücksichtigt wird. In diesem letzten, nur knapp 15 Seiten schmalen Kapitel versucht Latifi nochmals, einige Aspekte zu betonen bzw. zusammenzufassen. Dafür greift sie auf einige bereits besprochene Texte zurück, führt neue Texte ein und fragt sich, wie man „den Korken knallen [lässt], ohne die Flasche [den Text, Anm. PJ] zunichtezumachen“. Dieses Fazit überzeugt nicht und bildet auch keinen ausblickenden Schlusspunkt. Das schmälert aber nicht die Leistung des Buches und die Begeisterung beim Lesen. Latifi verneigt sich vor Hoffmann als Sprachkünstler und entwirft dabei ein überzeugendes Modell seiner erzählenden Poetik. Wer Hoffmann gerne liest, sollte auch dieses Buch lesen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kaltërina Latifi: Perspektivische Ambiguitäten. E.T.A. Hoffmann, poetologisch gelesen.
Rombach Verlag, Freiburg 2021.
258 Seiten, 54 EUR.
ISBN-13: 9783968217895

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch