Faszination für das Abseitige

Philipp Winkler entführt den Leser in „Carnival“ in eine Welt des Wunders

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Jahrmärkten geht seit Jahrhunderten eine besondere Faszination aus; eine Faszination zwischen angenehmem Grusel, einer dionysischen Leichtigkeit und einer Faszination für das Abseitige. Geht man über die Kirmes, wie diese Jahrmärkte in Deutschland in der Regel genannt werden, hat man nicht selten das Gefühl, eine Halbwelt zu betreten, eine Art Paralleluniversum, das nur dafür geschaffen scheint, auf möglichst sinnfreie Weise in kürzester Zeit sein Geld loszuwerden. Mit Kindern auf die Kirmes zu gehen, ist meist ein kurzes Vergnügen und wird oft mit einem Gefühl von Sinnlosigkeit, aber auch Wehmut verknüpft. Zu kurz der Spaß einer Karussellfahrt, zu groß der wachsende Widerwille, noch mehr Geld dafür auszugeben. Von den Los- und Schießbuden ganz zu schweigen.

Natürlich hat die Kirmes, wie sie mehrmals im Jahr in deutschen Kleinstädten und Dörfern anzutreffen war – gegenwärtig ist ja alles anders – wenig mit dem traditionellen amerikanischen Carnival zu tun, wie wir ihn aus dutzenden Filmen kennen, von Todd Brownings Freaks bis hin zur leider viel zu früh (und mitten im sich entwickelnden Spannungsbogen) verschwundenen HBO-Serie Carnivále. Dort betrat man dunkle Räume, in denen Wahrsagerinnen die Karten legten, Menschen mit körperlichen Deformationen wie Tiere vorgeführt wurden und oft minder begabte Artisten, bei denen es nicht zum Zirkus gereicht hatte, ihre Kunststücke vorführten. Philipp Winkler nimmt uns in seinem zweiten Roman Carnival mit in diese wundersame Welt.

Doch was für eine Welt ist das, in der wir uns wiederfinden? Winkler tut einiges, um weder Ort noch Zeit zu determinieren. Wir befinden uns in einem Schwebezustand – entsprechend der Welt der Wunder, die uns auf der Kirmes erwarten – einem magischen Zwischenreich, das aber gleichzeitig eine harte, abgebrühte, unleidliche Welt ist, voller halbkrimineller, sozial deformierter Gestalten, die beim sogenannten ‚fahrenden Volk‘ einen letzten Rest Würde suchen. Die Kunst dieses Romans ohne Plot, dieses Textes der nur darstellt, zeigt, verweist, aber niemals eine Handlung zu entwickeln beginnt, ist jene Zeit- und Ortlosigkeit. Geschickt verbindet Winkler darüber hinaus die mythische Welt des amerikanischen Carnival mit seinen Sideshows, seinen ‚Freaks‘, seinen Artisten mit der schnöden deutschen Kirmes, bevölkert von altbekannten Figuren wie dem mit jaulender, gepitchter Stimme sprechenden Fahrgeschäftsmoderator, der nach Fett riechenden Pommesbuden-Matrone und der derben Schießstand-Chefin. Deutsche Provinzialität trifft auf das große amerikanische Land, das ja letztlich auch nichts anderes als eine Ansammlung von armseligen Provinzen ist, doch deren Carnival etwas Mythisches ausstrahlt, während die hiesige Kirmes wiederum die Kindheitserinnerungen triggert.

Zum anderen ist dieser Roman zeitlos, weil er aus einer Zeit spricht, in welcher die Kirmes und der Carnival vollends verschwunden sind; in der eine nie definierte Erzählerstimme (die aber eindeutig einem Mitglied der Schaustellerfamilie gehört) von einer längst vergangenen Zeit erzählt, als die Menschen noch das Brachland außerhalb ihrer Ansiedlungen gestürmt haben, um am Wunder teilzuhaben – und nicht zuletzt, um sich mal gehörig abzocken zu lassen, wie der Erzähler unumwunden eingesteht. War es Corona oder unsere zunehmende Abgeklärtheit und Zurückgezogenheit, die dem fiktiven Carnival dieses Textes den Garaus gemacht haben? Die Videospiele, das Dauerstreaming, ja, die mediale Reizüberflutung unserer Zeit? Man erfährt es nicht, aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass es so einen Text gibt, einen derart wortmächtigen, tiefgehenden, wundersamen Text über eine möglicherweise bald vergangene Zeit.

Titelbild

Philipp Winkler: Carnival.
Aufbau Verlag, Berlin 2020.
119 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783351038281

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