„Im Blauen verheddert“

Wolfgang Niedecken wird 70 – Ein Gespräch

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 30. März feierte Wolfgang Niedecken seinen 70. Geburtstag. Sein großes Vorbild Bob Dylan begeht nur knapp zwei Monate später seinen 80. Aus diesem Grund hat Niedecken für die Reihe KiWis Musikbibliothek einen Band verfasst, der die Karriere Dylans mit seiner eigenen auf faszinierende Weise veknüpft. Gleichzeitig erscheinen Niedeckens zwei autobiographischen Bände gemeinsam in einer Sonderedition. Sascha Seiler sprach mit einem von Deutschlands größten Rockstars über seine Liebe zu Bob Dylan, die Verbindungen zu seinem eigenen Leben und Werk sowie über falsche und richtige Entscheidungen in einer langen Karriere.

 

Literaturkritik.de: Ich habe Ihre Autobiographie, die jetzt neu zusammengestellt wurde, noch einmal gelesen und da ist mir eines aufgefallen: Wer nicht nur die Geschichten, die Sie in Ihren Songs erzählen, sondern auch Ihren ganz spezifischen Sound, Ihre genauen Formulierungen, im Ohr hat, erkennt in den Büchern vieles aus Ihren Texten sofort wieder. Das ist vor allem in den Seiten über Ihre Kindheit sehr prägnant, die mich stark an den Song „Nie mit Aljebra“ erinnern. Wie hat das beim Schreiben funktioniert? Sie haben die Bücher ja gemeinsam mit Oliver Kobold verfasst.

Wolfgang Niedecken: Stimmt, ich habe beide Bücher, Für ne Moment und Zugabe, gemeinsam mit Oliver Kobold gemacht, der promovierter Literaturwissenschaftler ist. Ich habe ihm – in dem neuen Vorwort für den Doppelband habe ich das ja auch beschrieben – irgendwann mal relativ flapsig gesagt: „Hör mal, du weißt ja wohl, dass du demnächst meine Biographie schreibst.“ Und er fand die Idee super, und als es dann so weit war, haben wir uns hingesetzt und ich habe ihm einfach meine ganzen Geschichten erzählt. Und die hat er dann erst einmal aufgeschrieben und versucht zu einer Autobiographie zu komponieren. Insofern sind natürlich viele Geschichten in meinem Originalton erzählt.

Das, was daraus entstanden ist, hat Oliver mir dann geschickt, dann bin ich nochmal drüber gegangen und schließlich haben wir das Ganze weiter hin und her geschickt, bis wir beide damit happy waren – und dann sind wir an die nächsten Stories gegangen. Alle drei Wochen haben wir uns hier in Köln hingesetzt und haben ein Wochenende durcherzählt. Ich finde, er hat einen wunderbaren Stil gefunden, das ist kein Buch geworden, in dem man sich verliert. Ich habe es für die Neuausgabe letztens auch nochmal gelesen. Tatsächlich war ich selbst auch immer wieder neugierig wie es weitergeht (lacht). In dem, was in dem Buch erzählt wird, erkenne ich mich wieder und das ist letztlich die Hauptsache. Wenn man sich einen Ghostwriter holt, der zwar vielleicht gut schreiben kann aber von der von der Materie überhaupt keine Ahnung hat, dann wird er das handwerklich zwar sicher gut machen, aber niemals den richtigen Ton erwischen. Und Oliver hat das fantastisch gemacht.

Literaturkritik.de: Da passt es ja auch, dass Erinnerung in Ihren Songtexten von Anfang an eine sehr entscheidende Rolle gespielt hat.

Niedecken: Sie haben ja bereits „Nie mit Aljebra“ erwähnt. Der Song war eigentlich der Grund für mein erstes Soloalbum Schlagzeiten, das 1987 erschien. Es gab bei BAP nur noch einen weiteren Musiker, der das Stück mit der Band aufnehmen wollte, und das war der „Schmal“ Boecker. Bei den anderen gab’s zwar einige, die indifferent waren, aber tatsächlich gab es eine große Opposition. Das fand ich sehr schade, denn es waren noch einige andere tolle Lieder übriggeblieben. Es war, wie ja allgemein bekannt ist, eine kritische Phase damals, während den Aufnahmen zum Ahl Männer, aalglatt-Album, BAP war kurz vorm Auseinanderfliegen. An dem gemessen haben wir uns danach nochmal, für die nächsten vierzehn Jahre, recht ordentlich zusammengerauft – Gott sei Dank. Aber „Nie mit Aljebra“ war wirklich der Grund für mein erstes Soloalbum, weil mir und dem Schmal dieses Lied so wichtig war.

Literaturkritik.de: Ahl Männer, aalglatt, das 1986 erschienen ist, war das erste BAP-Album, das ich jemals gehört habe, vielleicht nicht der beste Einstieg – soundtechnisch zumindest…

Niedecken: (lacht) Nee, wirklich nicht. 

Literaturkritik.de: Sie haben also damals Mitte der 80er Jahre „Nie mit Aljebra“ geschrieben, einen extrem langen, sehr persönlichen Text, der in vielen Strophen ihr Leben bis zu diesem Zeitpunkt nacherzählt, und ihn dann Ihren Bandkollegen vorgelegt. Und die waren, so wie Sie eben erzählt haben, indifferent oder dagegen, so einen Text zu einem BAP-Song zu machen. Übrig blieb auf dem Ahl Männer-Album davon dann nur das Lied „Bunte Trümmer“, in dem Fragmente aus „Nie mit Aljebra“ eingeflossen sind, in dem es aber eher um etwas anderes geht…

Niedecken: „Bunte Trümmer“, das kann man ja jetzt auch mal zugeben, war damals ein Angst-Song – meine erste Ehe war schon deutlich auf dem Weg in Richtung Abgrund. So, dass ich mir dachte: „Scheiße, wie sollen wir das je wieder hinkriegen?“ Meine damalige Frau und ich hatten zweierlei Vorstellungen, wie sich unser gemeinsamer Weg gestalten sollte, und die waren auf Dauer immer schwerer zu vereinbaren. In meinem gerade erschienenen Dylan-Buch beschreibe ich ja diese Zeit, als wir auf Patmos im Urlaub waren, und ich mir irgendwann klar darüber werde, dass das Ganze auf Dauer nicht gut gehen kann. Auf dem Ahl Männer-Album sind so einige Stücke zu diesem Thema, es ist sozusagen ein bisschen mein Blood On The Tracks. Nehmen Sie „Endlich allein“ – im Grunde ein unverschämtes Lied – so im Geiste von „Idiot Wind“….

Literaturkritik.de: (lacht) Es ist nicht ganz so böse, aber ja…

Niedecken: Wettern, Schimpfen, alles Mögliche. Ganz liebe Lieder wie „Breef ahn üch zwei“, sind ja auch drauf, ja… Aber ich habe den Abgrund kommen sehen.

Literaturkritik.de: Das ist ja das, was mich – trotz des Sounds – immer an dem Album fasziniert hat. Und diese Nähe zu Blood On The Tracks war mir bewusst noch gar nicht aufgefallen, aber jetzt sehe ich sie auch. Aber davon abgesehen war das wahrscheinlich auch ein größerer Bruch in der Bandgeschichte, gerade weil Ihr persönlichster Song „Nie mit Aljebra“ nicht angenommen wurde, oder?

Niedecken: Das ist wahr, man konnte klar erkennen, dass eine Fraktion bei BAP in eine andere Richtung wollte, nämlich in Richtung internationale Popmusik. Und ich habe mich dagegengestemmt. Ich habe ja nicht angefangen Musik zu machen, um irgendwann internationale Popmusik zu produzieren, sondern weil ich mich ausdrücken wollte. Und ich sah das alles schwinden, da stand so eine Bon Jovi-mäßige Anpassung im Raum – womit ich nichts anfangen kann, da bin ich auch der schlechteste Mann für. Ich habe dann auch gesagt: „Also wenn ihr das wollt, dann sucht euch einen anderen Sänger, einen anderen Bandnamen und ich geh‘ wieder Bilder malen.“ Aber Gott sei Dank haben wir das dann doch wieder hingekriegt und es sind danach ja auch noch wundervolle Songs und großartige Platten entstanden. Das ist ja das Schöne dabei, dass man dann aus dieser Spannung heraus doch wieder Sachen hinbekommt, die man zunächst gar nicht mehr für möglich gehalten hat.

Aber es stimmt schon, das Tragische an dieser Phase ist eigentlich, dass unglaublich viel gutes Material da war. Also wenn ich irgendwann mal die Zeit dazu hätte, würde ich sehr gern aus dem Material mal ein Doppel-Album machen: die Songs von Schlagzeiten und vor allem eben die von Ahl Männer, aalglatt in der richtigen Reihenfolge. Das zusammen, mit der jetzigen BAP-Besetzung, das wäre richtig spannend. Weiß der Teufel, wie lange Corona noch dauert, vielleicht hat man, wenn das noch ein paar Jahre so weitergeht, genug Zeit, um mal ins Studio zu gehen und die Stücke dementsprechend aufzunehmen. Paul McCartney hat vor einigen Jahren ja Let It Be – Naked rausgebracht, wo er die Platte quasi ‚Ent-Spectorisiert‘ hat. Und das ist ein wunderschönes Album (lacht), wenn dieser ganze Geigenscheiß, das ganze Bombast-Zeug, eben dieser Phil Spector-Mist weg ist. So etwas könnte ich mir auch für Ahl Männer vorstellen. Auf der anderen Seite weiß ich aber auch, was dann wieder kommt – die medialen Auseinandersetzungen darüber, dass ich unbedingt recht behalten wollte und dann kommen diese ganzen unverbesserlichen Major-Jünger wieder aus ihren Löchern, die bis heute nicht wahrhaben wollen, wieso wir wirklich auseinandergegangen sind. So gesehen sollte ich wahrscheinlich doch lieber sagen: „Ach komm, dann lass’ es einfach sein“. Aber im Ernst: Ich habe das manchmal im Hinterkopf, weil das Material einfach klasse ist. 

Literaturkritik.de: Es gäbe auch noch die Möglichkeit, es wie McCartney einfach neu abzumischen…

Niedecken: Nein, das hat keinen Sinn! Die Situation in München im Music Land-Studio war so unfassbar verkorkst, dass mir viele, viele Jahre später der Reinhold Mack, der die Platte produziert hat, noch geschrieben hat, was für einem Irrtum er erlegen sei. So ist das oft, wenn die Leute sich nicht wirklich mit der zu produzierenden Band befasst haben, dann einfach nur nach dem aktuellen Sound-Trend gehen. Er hat damals leider überhaupt nicht kapiert, wo genau unsere Stärken als Band lagen. Und letztendlich haben dieses Album dann nur zwei Musiker eingespielt: Das waren der Effendi und der Major. Am Schlagzeug saß Kurt Cress, ein Studiomusiker und ich durfte dann wenigstens noch singen. Diese Zeit in München habe ich als sehr, sehr bitter in Erinnerung. Und das aller Schärfste war natürlich (lacht), dass ich das Ding dann auch noch promoten musste. Ich musste ja dann durch die Gegend ziehen, es im Radio bewerben und Interviews dazu machen, weil ich ja der Bandsprecher war. Das war eine Situation, um die ich mich bis heute nicht beneide.

Literaturkritik.de: War das alles denn auch irgendwo eine Reaktion der Band auf Zwesche Salzjebäck un Bier? Sie haben das ja auch angedeutet im Dylan-Buch, dass das Album kommerziell nicht so erfolgreich war, wie sich das manche in der Band nach den großen Erfolgen Anfang der 80er Jahre vorgestellt hatten, aber – meiner Meinung nach – ist es immer noch das beste BAP-Album.

Niedecken: Finde ich auch, jedenfalls was die Frühphase betrifft.

Literaturkritik.de: …weil da wirklich fantastische Songs drauf sind und auch der Sound toll ist – aber scheinbar waren doch einige nicht so zufrieden damit und wollten genau deswegen die Richtung ändern.

Niedecken: Der Major und seine Gefolgsleute haben eben abgestimmt, nach diesem Album die Richtung zu ändern, was ich natürlich nicht so toll fand. Und es kam ja noch ein weiteres Problem auf, über das wir vorhin schon gesprochen haben: Je persönlicher diese Songtexte wurden, je deutlicher zu spüren war, dass diese ganzen Texte eben von mir handelten, desto mehr Eifersucht kam auf. Das kann ich sogar verstehen, da kam natürlich bei so einem Text wie „Nie mit Aljebra“ ein Spruch wie: „Du lieber Gott, jetzt auch noch in Überlange!“ Auf dem ersten Live-Album 1983 gab es ja schon das Stück „Hundertmohl“, das ziemlich direkt meine Befindlichkeiten zu jener Zeit ausdrückt und in dem ich mich hinterfrage: „Du lieber Gott wo bin ich jetzt mittlerweile angekommen?“. Auch „Nemm mich met“, ebenfalls ein neues Stück auf diesem Live-Album, behandelt meinen ganz persönlichen Umgang mit dem neu gewonnenen Ruhm. Schon „Koot vüür Aach“, das auf Vun drinne no drusse drauf ist, stieß einigen bitter auf und auf für usszeschnigge! „Ens em Vertraue“ gingenebenfalls in diese Richtung.

Literaturkritik.de: Da würde ich mal einhaken: Sie verarbeiten in Ihren Texten ja vor allem immer wieder Ihr eigenes Leben. Dabei haben Sie die Themen Familie, Heimat, Vergangenheit, und ich finde hier kann man doch einen ganz klaren Unterschied zu Bob Dylan ausmachen, der ja lyrisch durchaus Ihr Vorbild ist. Dylan nämlich trägt stets seine vielzitierte Maske. Aber so etwas kam für Sie nie in Frage oder?

Niedecken: Das sehe ich anders. Ich habe eben über „Bunte Trümmer“ gesprochen – da singe ich durch die Maske! Die Maske gibt es auch in „Endlich allein“. Es gibt sie schon, diese Maskenstücke, aber die sind bei mir nicht vorsätzlich. Ich habe mal ein Interview mit Jacob Dylan gelesen, der zu der These seines Vaters, Blood On The Tracks würde gar nicht von ihm und seiner damaligen Frau Sara handeln, sagte, dass sei völliger Quatsch. Jedes Mal, wenn er das Album höre, würde er die Stimmen von seiner Mutter und seinem Vater wiedererkennen und das, was damals zu Hause gesagt wurde. Klar, Dylan gibt das ums Verrecken nicht zu und wirft stattdessen Nebelkerzen. Er sagt, Blood On The Tracks wäre eigentlich ein Album über Tschechow. Nebelkerze. Ich habe den Tschechow in dem Album ehrlich gesagt nirgendwo gefunden. Aber im Nebelkerzen-Werfen ist er natürlich großartig. Vor allem, weil er keine Nachfragen zulässt.

Literaturkritik.de: Ich habe mich kürzlich auch damit beschäftigt, weil wir hier an einem Dylan-Buch arbeiten. Er hat ja damals bei dem Künstler Norman Raeben Malstunden genommen – und sagte dann, dass er genauso texten will, wie Raeben malt, also eine Art Gleichzeitigkeit in der Kunst darstellen. Das klingt ja alles sehr artifiziell und künstlich, wenn er das so sagt. Dabei ist es doch so einfach: Es geht um die Liebe…

Niedecken: Ja, da hat er sich ‚im  Blauen verheddert‘ (lacht). „Tangled Up In Blue“ – was hat man darüber nicht schon nachgedacht. Irgendwann konnte man es dann lesen – was ja schön ist. Aber Dylan muss sich auch für mich nicht entmystifizieren. Das macht ja unter anderem den großen Charme an seinem Werk aus. Bruce Springsteen ist auch großer Dylan-Fan, aber er ist ein ganz anderer, ein offener Typ. Bruce steht auf der Bühne und erzählt, was ihm grade einfällt zu dem jeweiligen Song – und so ähnlich mache ich das auch. Dylan ist übrigens ein sehr schüchterner Mensch. Die beiden Male, als ich ihn getroffen habe, konnte ich feststellen, wie schüchtern er tatsächlich ist. Es mag manchmal als hochnäsig empfunden werden, wenn er auf der Bühne kein Wort zum Publikum sagt oder wenn er sich in Interviews arrogant verhält, aber das ist meines Erachtens nur Schüchternheit. Es stimmt letztlich, wenn er sagt: „It’s all in the songs“, das ist für mich komplett nachvollziehbar. Er möchte eben keine Beipackzettel, keine Gebrauchsanweisungen. Und es gibt so viele wunderbare Texte, bei denen ich noch lange nicht verstanden hab‘, worum es wirklich geht. Von „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“ über „Desolation Row“ – immer wird es einem ein Stück klarer, von was sie handeln, aber so ganz steigt man dann doch nicht durch. Aber dann wiederum gibt es auch Erleuchtungen: Der große gesungene Beipackzettel zu „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“ war ja „Sara“ auf Desire.

Literaturkritik.de: Sie haben ja selbst viel von Dylan übertragen, nicht nur mit Leopardefell ein ganzes Album mit eingekölschten Dylan-Songs gemacht, sondern auch immer wieder mal einen Song übersetzt und eingespielt. Wieso machen Sie das eigentlich? Ist das nicht auch ein Wagnis, weil die Fallhöhe so hoch ist?

Niedecken: Hm, wo fange ich an… Zu dem Leopardefell-Album kam es ja nur über einen Umweg. Ich habe eigentlich seit 1976 Dylan-Songs für mich übersetzt, das war so was wie eine Fingerübung, auch, weil ich einfach Spaß daran hatte. Wir hatten uns mit BAP zuvor auf der Pik-Sibbe-Tour wieder wunderbar zusammengespielt, was sich sehr schön angefühlt hat. Und da dachte ich nach der Tour, dass man eigentlich jetzt in diesem Zustand ins Studio gehen und ein Album aufnehmen sollte. Die Frage war nur mit welchem Material. Also habe ich gesagt, ich hätte ja noch ohne Ende Dylan Songs zu Hause rumliegen, da könnten wir etwas mit machen. Wir haben das dann auch zwei Wochen lang probiert, und was passierte? Die Songs wurden immer schlechter, weil sie immer mehr in so eine bemühte, modernistische Richtung abdrifteten, bis dann einige der Meinung waren, man sollte das doch lieber sein lassen. Und dann sagte der Major zu meiner großen Überraschung: „Du hast doch noch einen Vertrag für ein Soloalbum, mach doch einfach ein Soloalbum daraus“. Insofern war die Platte letztlich sogar die Idee vom Major.

Ich habe mir daraufhin die Leopardefell-Band zusammengestellt, wir haben noch nicht mal geprobt, sondern sind direkt ins Studio gegangen. Und es war hammermäßig, es war alles da, was ich in dieser Phase bei BAP vermisst hatte, vor allem die Spontanität. Allerdings muss ich aus heutiger Sicht eine Einschränkung machen: Wenn ich mir damals schon richtig über die Frage der Fallhöhe im Klaren gewesen wäre, hätte ich mir die Texte nochmal alle richtig vorgenommen. Ich habe im Rückblick einige Texte einfach zu leichtgenommen. Im Grunde bin ich zwar zufrieden mit meinen Übersetzungen, aber ich hätte sie nochmal richtig auf den Seziertisch legen sollen. Aber ich bin auch mit der Prämisse rangegangen, dass Dylan Humor hat und es schon OK finden wird, wenn ich seinen Highway 61 zum Nürburgring mache. Das würde ich heute allerdings nicht mehr tun.

Mit den Dylan-Übersetzungen innerhalb der letzten 15-20 Jahre bin ich dann auch deutlich zufriedener als mit vielem was auf dem Leopardefell-Album zu hören ist. „Senor“, „Simple Twist Of Fate“ oder „Forever Young“ sind Texte, an denen ich so lange drangeblieben bin, wie ich auch an einem Bild dranbleibe, nämlich bis da keine schlechte Stelle mehr drauf ist, sonst verdirbt mir diese eine schlechte Stelle das ganze Bild. Aber ich übersetze jetzt seit 45 Jahren Dylan-Texte und man lernt ja immer dazu. Ich bin auch mit meinen eigenen Texten aus der Frühzeit nicht immer zufrieden, da sind eine Menge handwerkliche Fehler drin. Die kann ich aber nicht mehr ausmerzen, denn die Leute kennen und schätzen die Sachen eben genau mit diesen handwerklichen Fehlern. 

Literaturkritik.de: Aber die Songs wurden ja nicht nur einfach übersetzt, sondern Sie haben sie teilweise auch in Ihren eigenen Kosmos übertragen. Also auch wieder in den autobiographischen Bereich. Ich liebe ja Ihre Version von „Sara“ auf dem Album, weil es Ihnen gelingt – das kann man in Ihrem Dylan-Buch ja auch nachlesen – Ihren ersten Familienurlaub mit Kindern, in Griechenland, hier so wunderbar mit Dylans Erinnerung an dieselbe Art von Urlaub zu verbinden, etwa, indem sie griechische Sounds integrieren.

Niedecken: Ja, diese Version mag ich auch sehr gern, obwohl ich zugeben muss, dass ich ihn lange nicht mehr gehört habe. Ich sollte mir das jetzt endlich nochmal ganz in Ruhe anhören, das Leopardefell-Album. Ich weiß, dass ich damals wahnsinnig stolz war, nachdem wir das gemacht hatten. Es war ja zu der Zeit bei BAP das Hauptproblem, dass man unterschiedliche Richtungen einschlagen wollte – und ich kam mir immer wie der letzte Steinzeitmensch vor, weil ich der Meinung war, dass wir die Songs gemeinsam erspielen müssen. So geht ja eigentlich Rock’n’Roll, dass man etwas zusammen erspielt und nicht, dass sich jemand irgendwo am Computer ein Arrangement ausdenkt und wo dann, wenn’s hochkommt, noch eine real existierende Gitarre drauf gespielt wird. Aber diese freie Atmosphäre hatte ich sowohl bei den Complizen als auch mit den Leoparden. Und genau deshalb betone ich aber auch immer, dass meine ganzen Solo-Alben sehr, sehr nützlich für das BAP-Bandgefühl gewesen sind. Damals hatte die Band tatsächlich Angst, ich würde mich jetzt vom Acker machen, denn „Maat et joot“ war ja ein richtiger Radiohit. Aber da habe ich keine Sekunde dran gedacht. BAP war mir immer sehr wichtig. 

Literaturkritik.de: Würden Sie sich eher als emotionalen Hörer oder als intellektuellen Dylan-Hörer bezeichnen?

Niedecken: Es geht immer erst über die Emotion. Das habe ich auch im Buch beschrieben mit dem Ausdruck „doppelter Diagonalabstand“. Man lässt das Ganze erstmal emotional auf sich wirken. Und erst wenn man dann in die Details geht, wird es zur intellektuellen Auseinandersetzung, da kommt das akribische Element dazu. Aber zunächst mal hört man emotional. Ins Detail zu gehen, lohnt sich dann später aber immer, nicht nur bei Songs, natürlich auch bei Literatur. Ich habe gerade nochmal ein paar Bücher von John Steinbeck wiedergelesen, einfach weil ich nicht mehr wusste, wie ich das damals empfunden hatte. 

Literaturkritik.de: Er kommt ja auch in Ihrem wohl bekanntesten Lied „Verdamp lang her“ prominent vor….

Niedecken: Ja genau, ich weiß, dass mich das alles sehr beeindruckt hat, als ich jung war, aber ich lese das heute natürlich anders, ich habe ja auch eine andere Lebenserfahrung und kann vieles daher anders beurteilen – damals war das aber einfach überwältigend – es ist, tatsächlich, verdammt lang her (lacht). Ich kam mir damals wirklich wie ein Zwerg vor zwischen John Steinbeck und Joseph Conrad, verloren – ich weiß aber ehrlich gesagt gar nicht mehr, wie das in den Text reingekommen ist, aber das war damals mein Gefühl für die Situation, in der ich steckte.

Literaturkritik.de: Sie feiern am 30. März Ihren 70. Geburtstag und Dylan am 24. Mai seinen 80. Nun sind Sie beide ja Musiker, die sehr gern und viel auf der Bühne stehen. Und jetzt mal ganz von allen finanziellen Geschichten abgesehen, aber wie schlimm ist denn jetzt diese Zeit für Sie, wo Sie – da haben wir ja vorhin schon drüber gesprochen – diese Unsicherheit haben: „Wann kann ich denn jetzt wieder auf die Bühne gehen?“

Niedecken: Ja für mich ist das schlimm. Aber ich muss auf der anderen Seite sagen, es gibt andere Leute, für die das schlimmer ist. Ich muss nicht auf allzu viel verzichten. Klar, ich muss darauf verzichten, dass man auf der Bühne mit dem Publikum Tennis spielt. Denn wenn man die ganze Zeit nur Squash spielt und den Ball gegen eine Wand spielt, dann wird das auf Dauer sehr, sehr unsinnlich, unhaptisch. Es wird eben immer theoretischer. Natürlich freue ich mich darüber, wenn ich irgendwo eine Erwähnung vom neuen Album lese und dass das Album überall gelobt wird, dass es bisher noch keinen einzigen Verriss gab. Das ist schon eine schöne Bestätigung, aber die Bestätigung, dass die Stücke auch vom Publikum aufgenommen werden, dass da wieder eine Emotion zurück auf die Bühne kommt, darauf muss ich verzichten, bis wir wieder live spielen dürfen. Und das sieht so aus, dass wir jetzt planen, die Tour ein komplettes Jahr zu verschieben. Dass ich meinen 70. Geburtstag – dann eher „70 & 1“ oder „70A“ oder wie auch immer – dann doch in der Köln Arena feiern kann… mit irgendeinem Hygienekonzept vielleicht, man weiß es noch nicht. Ich denke, bis dahin werden wir auch Planungssicherheit haben.

Aber für diesen Sommer sehe ich schon wieder schwarz. Mal ganz abgesehen von dem Problem, dass, wenn es wieder gehen sollte, plötzlich alle auf Tour sein werden. Daraus folgen nämlich Komplikationen, über die der Laie nicht unbedingt nachdenkt: So viele Crews gibt’s gar nicht. So viele Leute, die einem den Kram durch die Gegend fahren, auf- und abbauen, die Tontechnik machen. Und so viele Locations gibt’s auch nicht. Die Konzert-Agenturen drehen mittlerweile am Rad. Und dann wird’s doch immer wieder in die Tonne getreten, weil es kommt die nächste Mutation oder irgendein Scheiß dazwischen… das ist schon zum Verzweifeln. Da die Ruhe zu bewahren… ich bewundere all diese Tourplanungs-Leute, denen gar nichts anderes übrig bleibt, als das Ding irgendwie auf die Reihe zu kriegen. 

Titelbild

Wolfgang Niedecken: 70 Jahre. ‚Für ‚ne Moment‘ und ‚Zugabe‘ in einem Band – mit neuem Vorwort.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
896 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783455011463

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wolfgang Niedecken: Wolfgang Niedecken über Bob Dylan.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
240 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462001204

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