Harte Männer, heiße Tränen

Der japanische Kriminalautor Hideo Yokoyama zeigt Mitleid mit einem Mörder

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Yokoyama Hideos Kriminalroman 50 gibt es, wie es das Genre vorsieht, einen Mord und eine Leiche. Bei letzterer handelt es sich um die Ehefrau des Polizeihauptmeisters Kaji, der als Lehrer an der Polizeischule der Präfektur W. tätig ist. Mit dieser einen Toten beschäftigen sich vier Dutzend Männer sechs Kapitel lang. Die „Fünfzig“ aus dem Titel bezeichnet jedoch nicht die Anzahl der Personen, die sich mit dem Fall auseinandersetzen, sondern sie steht für einen berühmten Satz aus der japanischen Überlieferung, in dem es in Bezug auf das Kriegerepos Heike monogatari heißt, der Mensch lebe nur die kurze Zeit von fünfzig Jahren. An diesem Wendepunkt befand sich der 49-jährige Sôichirô Kaji, der, wie man auf den ersten Seiten des Buchs erfährt, seine Frau selbst getötet und die Tat auch bereits gestanden hat. Die Geschehnisse geben in diesem Punkt keine großen Rätsel auf, denn Kaji erklärt, er habe der Bitte seiner Frau nachgegeben, die an Alzheimer erkrankt sei und ihn verzweifelt angefleht habe, sie von ihrem traurigen Zustand zu erlösen. Sie befürchtete vor allem, dass auch ihre Erinnerung an den dreizehnjährigen Sohn, der vor sieben Jahren an myeloischer Leukämie gestorben war, verlöschen würde.

Yokoyamas Text unterläuft in der Tat viele Erwartungen, die man im Hinblick auf einen Krimi hegt. Das Werk spielt im Milieu der Verbrechensbekämpfung, stellt aber mehr eine Studie von Institutionen dar, in denen sich – wie es allgemein üblich ist – in erster Linie Männer innerhalb der gesetzten Strukturen zum einen um die Sache an sich bemühen, zum anderen um ihre eigene Karriere. Dafür gilt es bestimmte Taktiken und Strategien zu kennen und geschickt anzuwenden. Je älter und erfahrener ein Mann, desto umsichtiger wird er auf dem Feld agieren, es sei denn, er sitzt zu Unrecht auf seinem Posten. Die miteinander in Konkurrenz tretenden Einrichtungen sind bei 50 der Polizeiapparat, die Justiz und die Justizvollzugsanstalt sowie die Presse, deren Vertreter sich erwartungsgemäß gegen die staatlichen Stellen positioniert bzw. nachforscht, ob sich nicht doch ein medienträchtiger Skandal ausmachen lässt. Grundlage für eine solche Annahme sind die zwei Tage nach der Ermordung von Kajis Frau, über die man nichts weiß und in denen sich der Ausbilder offensichtlich einem geheimen Vorhaben widmete. Warum hat Kaji, nachdem er nun seine gesamte Familie auf tragische Art und Weise verlor, nicht unmittelbar Selbstmord begangen, wie man es hätte erwarten können? Durch den Text zieht sich die Frage, was Kaji denn getan haben mochte und wofür er noch lebte.

Vor diesem Hintergrund erweist sich der Roman als eine Milieustudie der „harten Männer des Gesetzes“. Yokoyama ermöglicht es mit seinem reichhaltigen Figureninventar, die verschiedenen Charaktere und ihre Motivationen kennenzulernen. Die Protagonisten sind Kazumasa Shiki, Abteilungsleiter des Dezernats I für Gewaltverbrechen, Staatsanwalt Morio Sase und Anwalt Manabu Uemura – alle drei sind wie der Delinquent in einem Alter, in dem man Bilanz zieht: Was hatte man sich für Ziele im Leben gesteckt und was hat man erreicht? Wo liegen die wunden Punkte? Welche Fehler wurden begangen? In welchem Moment hat man versagt?

Im System gilt nur der Erfolg. Kazumasa Shiki bekommt zu hören: „Das Bemühen überlassen Sie mal den Wachtmeistern. Hauptkommissare liefern Ergebnisse. Klar?“ Um die gewünschten Resultate zu bekommen und die eigene Institution in bestem Licht erscheinen zu lassen, wird getrickst und getäuscht, mit falschen Fakten jongliert, und es werden mit gezielten Lügen Dinge in die Richtung gelenkt, die man für die günstigste hält. Ethischer Kern der Erzählung vom unglücklichen Polizeiausbilder ist ein japanisches paternalistisches Familienideal: Der Vater beschützt die Familie und hält sich der männlichen Rolle gemäß schweigend im Hintergrund. Dieser Vorstellung folgte der als korrekt und stets freundlich bekannte Kaji, er wollte seinem Leben nach diesem Muster noch einen Sinn geben. Seine Kollegen scheinen dies zu ahnen. Er ist, obwohl eines Verbrechens angeklagt und inhaftiert, einer der „Guten“. Den absolut nichtswürdigen Kriminellen verkörpert der Kunstdozent und Serienvergewaltiger Mitsugu Takano, der Mädchen missbraucht hat und der, ebenfalls festgenommen, versucht, sich der Verantwortung durch Selbstmord zu entziehen. Die Institution als erweiterte Familienstruktur setzt alles daran, den einen seiner gerechten Strafe zuzuführen, während sie sich bemüht, Kaji in Schutz zu nehmen – umso mehr, als man erfährt, warum er nach der Tat am Leben bleiben wollte. Shiki, Sase und Uemura empfinden tiefes Mitleid mit seinem Schicksal, Gefängniswärter Koga von der Justizvollzugsanstalt schwört, zu Tränen gerührt, sein Bestes zu tun.

Yokoyamas Kriminalroman, der im Original im Jahr 2002 publiziert wurde, belebt einerseits noch einmal den Mythos vom pflichtbewussten, aber empfindsamen Samurai. Insofern müsste man den doch relativ altmodischen und deshalb für weniger an Japanspezifischem interessierte Leser eher unattraktiven Text vielleicht auch als historisches Zitat lesen, das eine Retroversion von ritterlicher Männlichkeit noch einmal aufleben lässt. Andererseits beschreibt der Autor die Problematik einer alternden japanischen Gegenwartsgesellschaft, in der sich viele Menschen Themen wie dem Altern in Würde, Krankheit und Pflegesituation sowie der Frage nach Sterbehilfe zu stellen haben. Yokoyamas Protagonisten werden jedenfalls sehr nachdrücklich mit dem vanitas-Leitsatz der japanischen Vormoderne konfrontiert, der besagt, dass die fünfzig Jahre Lebenserwartung eines Menschen äußerst schnell vergehen – wie ein Traum.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hideo Yokoyama: 50. Kriminalroman.
Atrium Verlag, Berlin 2020.
368 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783855350971

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