Scheißgeneration

Der chilenische Schriftsteller Alejandro Zambra legt mit „Multiple Choice“ ein unkonventionelles Meisterwerk vor

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Form dieses Romans mutet nicht nur auf den ersten Blick seltsam an: Das schmale Bändchen besteht ausschließlich aus verschiedenen Multiple-Choice-Tests. Unterteilt sind diese in fünf Kategorien, unter ihnen „Lückentext“, „Entbehrlicher Satz“ oder „Leseverständnis“. Nur in diesem letzten, drei kurze Prosatexte umfassenden Teil findet man etwas, das an eine strukturierte Erzählung erinnert. Alles andere muss sich der Leser selbst zusammensuchen, so zumindest erscheint es zunächst. Und doch ergibt sich nach dem Vorbild des „Eignungstests“, dem man sich von 1967 bis 1994 in Chile vor der Aufnahme an eine Universität unterziehen musste, ein kongruenter, erschütternder und sehr bewegender Text.

Der Chilene A.Z. wurde 1975 in die Pinochet-Diktatur hineingeboren, was sein Heranwachsen unweigerlich beeinflusste. Das Buch beginnt entsprechend verwirrend, führt doch der erste Teil der Eignungsprüfung („Ausgeschlossener Begriff“) automatisch zu literarischen Formexperimenten, wie man sie in den späten 60er Jahren etwa aus Peter Handkes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt kennt. Das Prinzip des Multiple-Choice-Tests wird von Zambra hier auf recht durchsichtige Weise parodiert, wobei die ernsten Hintergründe recht schnell deutlich werden. Sprachspiele sowie Absurditäten wie mehrere gleiche Antworten wollen offenkundig den Sinn hinter solch einer Prüfung erstens hinterfragen und zweitens unterminieren, indem ihr eine kalte, grausame Realität entgegengestellt wird.

Man ist öfter verführt, das Buch einfach wegzulegen, weil einem diese Form linguistischer Experimentalprosa nur bedingt 100 Seiten lang Vergnügen bereiten kann.

Doch mit jedem weiteren Teil wird die hinter den Fragen steckende Erzählung dichter; nach und nach breitet sich vor dem geistigen Auge des Lesers die Biographie eines verzweifelten Mannes aus, der schwer an dem Umstand zu tragen hat, Teil einer „Scheißgeneration“ – den Begriff übernimmt er von einem berühmten Song der chilenischen Rockband Los Prisioneros – gewesen zu sein. Im zweiten Teil geht es um die Gliederung eines Textes. Hier werden fünf oder mehr einzelne Sätze gedruckt, die der Leser in eine bestimmte Abfolge bringen soll. Natürlich verändert sich mit der Reihenfolge auch der Sinn oder vielmehr die Gewichtung bestimmter Aussagen, und das Ergebnis ist das Hervorbringen einer tiefen Trauer ob des blutigen Erbes der Militärdiktatur. Was zunächst wie Nonsens gewirkt hat, bekommt einen zunehmend erdrückenden Charakter, allerdings sind die Texte auch geprägt von einer gewissen Melancholie, die sich aus der Erinnerung und dem Gedenken an die Toten sowie an die Opfer speist, die man bringen musste, wenn man Teil dieser verlorenen Generation war. Besonders deutlich wird dies in Teil IV („Entbehrlicher Teil“), in dem der Prüfling angehalten wird, einen oder mehr Sätze zu streichen, die nicht zur Gesamtaussage einer Gruppe von Aussagen passen. Hier thematisiert Zambra recht eindringlich das in lateinamerikanischen postdiktatorischen Gesellschaften omnipräsente Thema des Verschwindens. Dass ihm eine solch subtile Evokation des Vergessenen und Verdrängten anhand einer aufgrund des experimentellen Charakters naturgemäß stark artifiziellen Prosa gelingt, ist erstaunlich.

Am konventionellsten gestaltet sich schließlich der fünfte Teil, in dem Zambra drei kurze Geschichten erzählt: Es geht um ein Bildungssystem, das die Anleitung zum Betrug als Grundbedingung einer gelungenen Ausbildung ansieht, um die Absurdität des postdiktatorischen chilenischen Rechtssystems sowie, in der bewegendsten Passage, die sich der Autor bewusst für den Schluss aufgehoben hat, um den (zeitgenössischen) Brief eines Vaters an seinen 18-jährigen Sohn. Ein Vater, der wohl Zambra selbst ist, und der dem Sohn zu erklären versucht, warum seine Generation unfähig war, ein normales Leben aufzubauen. Und er weiß, so die Fragen im Rahmen des letzten Kapitels „Textverständnis“ am Ende, natürlich auch, dass er ebenso „ein schwachsinniger Exhibitionist“ sein könnte, „der die Grenze überschreitet, die zwischen Eltern und Kindern immer bestehen sollte“ wie auch „ein aufrichtiger, mutiger Mensch oder vielleicht jemand, der nach vielen Fehlern begreift, dass man vollkommen aufrichtig sein muss.“ Kreuzen Sie bitte die ihrer Meinung nach richtige Antwort an.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Alejandro Zambra: Multiple Choice.
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
109 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428313

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