Eine konsequente Antifaschistin und mäßige Schriftstellerin

Ulrich Weinzierl hat eine vierbändige Werkausgabe der vergessenen österreichischen Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die heute weitgehend vergessene österreichische Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert in verschiedenen literarischen Textsorten unterwegs. In der Weimarer Republik schrieb sie neben dicken Romanen auch kurze Novellen und Erzählungen. Außerdem sozialistisch grundierte Märchen, ebensolche Glossen und andere Feuilletons. Ihr erster nachweisbarer Text erschien Ende 1917. Da war sie bereits 34 Jahre alt. Von 1919 an war die nun in Frankfurt am Main lebende Zur Mühlen Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, für deren Zentralorgan, die Roten Fahne, sie von da an schrieb. Ende des Jahrzehnts wurden ihre Differenzen zur orthodoxen Parteilinie jedoch immer größer. Sie trat 1932 aus der Partei aus und publizierte ihre Texte fortan überwiegend in sozialdemokratischen, aber auch ‚bürgerlichen‘ Periodika.

Nach Anette Kolb und Irmgard Keun ist sie die dritte Autorin, die mit einer vierbändigen Werkausgabe in der noch jungen Reihe „Bibliothek Wüstenrot Stiftung Autorinnen des 20. Jahrhunderts“ vertreten ist, die in unregelmäßigen Abständen zwar in gleicher Aufmachung, jedoch in verschiedenen Verlagen erscheint. Herausgegeben wurde die Zur-Mühlen-Edition von Ulrich Weinzierl. Der erste Band versammelt Erinnerungen und Romane, der zweite wiederum Romane, während der dritte Erzählungen und Märchen enthält, der vierte schließlich Geschichten und Feuilletons. Herausgeber Weinzierl beschließt ihn mit einem biografischen Essay, in dem er Zur Mühlen als „Genossin Gräfin“ porträtiert.

Felicitas Hoppe wiederum leitet die Ausgabe im ersten Band mit einem persönlich gehaltenen Essay zu ihrer Lektüre Zur Mühlens ein. Ihm folgt deren 1929 veröffentlichter autobiografischer Text Ende und Anfang. Ein Lebensbuch. Von der „aberwitzigen Lebensgeschichte“ Hermynia Zur Mühlens, die Hoppe zuvor konstatiert, ist dort nicht viel zu sehen. Doch endet er auch schon mit der russischen Revolution 1917, die für Zur Mühlen ein Anfang bedeutete. Sie berichtet von ihrer Kindheit in einem „wohltemperierten Glashaus“ und von den zahlreichen Reisen mit ihrem Vater, der als Diplomat nicht nur in Europa unterwegs war, sondern sich auch längere Zeit in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens aufhielt, während ihre Mutter, zu der sie zeitlebens eine spannungsreiche Beziehung hatte, zurück blieb. Solche Auslandserfahrungen waren damals weit ungewöhnlicher als heute, zumal für eine junge Frau, aber eben nicht aberwitzig. Ausführlich berichtet Zur Mühlen auch von ihrer im Alter von 24 Jahren gegen den Willen ihrer Eltern geschlossenen Ehe mit einem reaktionären baltischen Adligen, dem sie in dessen Heimat folgt, was zwar ausgesprochen dumm gewesen sein mag, aber ebenfalls nicht aberwitzig war. „Würden wir beide die ganze Welt abgesucht haben, keines von uns hätte einen schlechter zu ihm passenden Menschen finden können“, fasst Zur Mühlen die unglückliche Verbindung pointiert zusammen. Zwar wurde die Ehe erst nach einem Jahrzehnt geschieden, doch hatte sie sich da schon längst von ihrem Mann getrennt. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte sie in Davos, wo sie sich bereits seit längerem zur Kur aufhielt. Sie kehrte nicht mehr ins Baltikum zu ihrem Mann zurück.

Als Tochter eines adligen Diplomaten war Zur Mühlen der Sozialismus zwar nicht gerade in die Wiege gelegt, doch will sie schon „im zarten Alter“ von acht Jahren „durch die Lektüre der Neuen Freien Presse und anderer liberaler Zeitungen ‚verdorben‘“ worden sein. Wo sie das Blatt herbekommen haben will, bleibt offen, zumal sie berichtet, dass man damals „in unseren Kreisen nur das Fremdenblatt lesen [durfte]“. Die etwas progressiv gestimmte Großmutter könnte ihr die Zeitung zugesteckt haben, die immerhin prinzipiell für das Frauenwahlrecht war, nur dass sie meinte, ihre Geschlechtsgenossinnen seien noch nicht reif dafür. Woher auch immer sie ihre liberale Lektüre hatte, so liegt jedenfalls die Vermutung nahe, dass Zur Mühlen ihr Leben in dem autobiographischen Text stark stilisierte. Dabei ist der Text nicht frei von nicht eben frauenfreundlichen Geschlechterklischees. So gilt es ihr als „feminines Mittel“, andere gegeneinander auszuspielen, oder sie vergleicht Diplomaten mit Frauen: Beide „lassen einer an dem andern kein gutes Haar“. Stilistisch greift sie öfter einmal zu schon damals verbrauchten Bildern und gelegentlich begeht sie die Sünde unschöner Wortwiederholungen. So bringt sie in vier Zeilen fünf Mal die Worte schön und Schönheit unter.

Als Zur Mühlens autobiografischer Text Ende und Anfang 1929 erschien, war sie schon ein rundes Jahrzehnt in diversen Textgattungen unterwegs. Als erste eigenständige Publikation war 1920 unter dem Titel Was Peterchens Freunde erzählen ein märchenhaft anmutender Sammelband für Kinder erschienen, der in den dritten Band der vorliegenden Ausgabe aufgenommen wurde. Die Geschichten der Sammlung, in denen allerlei tote Gegenstände und ein Schneeglöckchen dem mit einem gebrochenen Bein ans Bett gefesselte Peter Geschichten erzählen oder sich mit einander unterhalten, verfolgen eine klare sozialistische Stoßrichtung, die geradezu brachial vorgebracht wird, aber wenig Phantasie auf mögliche Eigenheiten der zum Leben erweckten Gegenstände aufwendet. So empören sich zwei Kohlestücke nicht etwa darüber, dass sie gewaltsam aus dem Schoß von Mutter Erde gebrochen wurden, um anschließend verheizt zu werden, sondern über die miserablen Arbeitsbedingungen der Bergleute.

Das sozialistisch-kommunistische Anliegen der Autorin springt die Lesenden auch in einem zwei Jahre darauf erschienenen Märchenband Zur Mühlens allzu sehr an. Nicht nur, wenn ein Spatz seinen aufmüpfigen Abkömmling als Kommunist beschimpft oder die zukunftssichtige Sphinx eine Zeit prophezeit, „da sich alle Sklaven erheben werden zu einem furchtbaren Kampf wider ihre Unterdrücker. Nach langem blutigem Ringen werden sie siegen, und dann wird es eine neue Welt geben, wo allen alles gemeinsam gehört und die Menschen frei sein werden“. Weitere, 1927 erschienene Märchen sind im Nahen Osten angesiedelt. Hier sind es „die Söhne der Aischa“, die auf einem Schiff gleich dem „Panzerkreuzer Potemkin“ die rote Fahne hissen und ihre revolutionäre Botschaft von Land zu Land tragen.

Nicht viel anders als mit den Märchen verhält es sich mit Zur Mühlens 1922 erschienenem Roman Der Tempel. Handlungszeit und -ort reichen vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Russland bis zur Niederschlagung der sozialistischen Revolution 1919 in Deutschland. In ihm kommt die Autorin dem plumpen Agitprop, für den die von verschiedenen AutorInnen in der Roten Fahne veröffentlichten Kurzgeschichten berüchtigt waren, gefährlich nahe und ergeht sich in ausgemachtem Revolutionskitsch, der nicht zuletzt daher rührt, dass sie religiöse Heilserwartung und die Hoffnung auf den Sozialismus parallelisiert. Das geschieht nicht etwa implizit, sondern immer wieder ganz ausdrücklich. „Sozialismus ist in erster Linie Religion!“, belehrt einer der Revolutionäre seine Genossen und mit ihnen die Lesenden. Ein „alter Pastor“ erklärt wiederum den RevolutionärInnen: „Ihr nennt es Sozialismus, wir haben es Christentum genannt.“ Zur Mühlen geht sogar soweit, Karl Liebknecht als den „Nazarener“ auftreten zu lassen. Zwar gibt es in dem Roman durchaus einige in Maßen als emanzipiert gezeichnete Frauenfiguren (so macht etwa die weibliche Protagonistin einem Revolutionär einen Heiratsantrag), doch ist das Frauenbild – auch das der RevolutionärInnen und SympathieträgerInnen – ausgesprochen konservativ, wenn nicht reaktionär. So werden etwa „alle Frauen“ für „borniert und phantasielos“ erklärt, und natürlich für „feig“. Kurzum: Die „Weiber“ sind „zu nichts gut“. Da erhebt auch die revolutionäre Protagonistin keinen Einspruch.

Schlichtem Agitprop nahe stehen auch einige der in den 1920er Jahren erstmals erschienenen Erzählungen des zweiten Bandes der Ausgabe, von denen Zur Mühlen selbst als „Propagandaerzählungen“ sprach. So etwa die erstmals 1924 in dem Erzählband Der rote Heiland erschienenen achtzehn „Novellen“, bei denen es sich zumeist eher um Kurzgeschichten handelt. Wie der Titel des ursprünglichen Erzählbandes bereits ahnen lässt, gehen christliche und marxistische Heilslehren auch hier öfter eine enge Verbindung ein. Stilistisch gleiten sie zudem schon einmal in schlechten Expressionismus ab: „Es deuchte ihn seine Zunge ein ekler Brei, den er im Munde umdrehte, ausspeien musste, um sich von dem Blut – und Kotgeschmack zu befreien“.

Aus einem besonderen Grund erwähnenswert ist eine weitere der in den zweiten Band der vorliegenden Werkausgabe aufgenommene „Propagandaerzählungen“. Die Rede ist von der 1924 erschienenen Erzählung Schupomann Karl Müller. Zur Mühlen wurden wegen ihr des Hochverrats angeklagt. Dabei handelt es sich um ein ausgesprochen harmloses Geschichtchen, wie für Kinder erzählt. Die Anklage wurde denn auch fallen gelassen.

In Form und Inhalt weit reifer als Zur Mühlens literarische Texte der 1920er Jahre ist der 1933, also nach ihrem Bruch mit der KPD erschienene Roman Reise durch ein Leben. Er folgt dem Lebensweg einer Mitte der 1880er Jahre geborenen Gräfin bis in die frühen 1930er Jahre hinein. Ähnlich wie Ende und Anfang ist er zunächst stark episodisch erzählt, was sich später allerdings verliert. In dieser Erzählweise spiegelt sich das Erinnerungsvermögen Erwachsener an die eigene Kindheit, von der nur einzelne Ereignisse erinnert werden, die sich erst im Laufe des Älterwerdens zu einer weitgehend zusammenhängenden Geschichte verdichten. Selbst die Stimme der Erzählinstanz passt sich dem Alter der Protagonistin und der jeweiligen Handlungszeit an. Erzählt ist der Roman zumeist aus der Sicht der Protagonistin, mit der die Lesenden ganz vertraut werden und in deren Inneres sie gegen Ende durch einen größeren inneren Monolog genaueren Einblick erhalten. Zu Beginn ist der Roman durch die Zweifel und ethischen Probleme der da noch kindlichen Protagonistin geprägt. Dabei gelingt es Zur Mühlen, sich in das Kind, die Jugendliche, die Heranwachsende die zunächst junge und dann reifere Frau hineinzuversetzen. Allerdings nimmt man der oft allzu naiven und weltfremden, aber herzensguten Protagonistin, die sich einmal sagen lassen muss, sie sei „so anständig und so – o – o dumm“, nicht wirklich ab, dass sie „alle Bücher von Bertha von Suttner gelesen“  hat. Und ihre Aufforderung „lest doch gründlich Marx, dann werdet ihr alles begreifen“ nimmt sich angesichts ihrer fast zeitgleich geäußerten Klage, „jede Zeitung sagt etwas anderes und man wird ganz verwirrt“, nicht sehr überzeugend aus. Vielleicht soll ihr Glaube, eine gründliche Marx-Lektüre werde alle Nebel lichten, auch von ihrer Naivität zeugen.

Wie viele Werke Zur Mühlens ist auch Reise durch ein Leben dezidiert pazifistisch. Vielleicht schildert sie die Tage des Kriegsausbruches eben darum besonders eindrucksvoll. Nicht weniger deutlich nimmt der Roman gegen den verbreiteten Antisemitismus Stellung. Auch dies hat er mit zahlreichen Werken Zur Mühlens gemein. Ebenso wie den Antifaschismus, dem zentralen Thema ihres wohl bedeutendsten Romans Unsere Töchter, die Nazinen. Er erschien zunächst in mehreren Teilen 1934 als Vorabdruck in der Tageszeitung Deutsche Freiheit und ein Jahr später in überarbeiteter und erweiterter Form als selbständige Publikation. Handlungszeit ist die damals jüngste Vergangenheit, also die Zeit der ausgehenden Weimarer Republik bis in die ersten beiden Jahre der nationalsozialistischen Tyrannei. Erzählt wird aus der jeweiligen Sicht dreier Ich-Erzählerinnen, deren Töchter in die NSDAP eintreten. Zwei dieser Mütter erzählen ihre Geschichte, eine von ihnen mal „laut“, mal „leise“. Die Dritte schreibt in ihr Tagebuch. So steht es jedenfalls in den jeweiligen Kapitelüberschriften. Erkennen lässt der Text die unterschiedlichen Erzählweisen allenfalls dadurch, dass das leise Erzählte die geheimen Gedanken der betreffenden Frau wiedergibt. Insbesondere der Tagebuch-Text ist als solcher stilistisch völlig unglaubwürdig.

Wie schon in früheren Werken stehen die Figuren, hier die drei Mütter und ihre jeweiligen Töchter  für bestimmte Typen verschiedenen Standes und Charakters. Bei den Müttern handelt es sich um die Witwe eines sozialdemokratischen Arbeiters, eine unpolitische, aber aufrechte Adlige und eine bürgerliche Opportunistin, die gemeinsam mit ihrem Mann stets das Beste für sich herauszuholen versteht und von Zur Mühlen gründlich bloßgestellt und der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Anders als sein Titel erwarten lässt, entwickelt sich der Roman, der zunächst von Konflikten zwischen Müttern und Töchtern erzählt, mehr und mehr zu einer Geschichte von Widerständlerinnen, womit die Autorin die Erwartungen mancher der Lesenden nicht etwa enttäuschen, sondern übertreffen dürfte.

Der vierte Band der vorliegenden Ausgabe – Geschichten und Feuilletons – wird mit einem Briefwechsel aus dem Jahr 1933 eröffnet, in dem Zur Mühlens damaliger Verlag mit dem Ansinnen an sie herantritt, nicht mehr für die im Exil erscheinende Monatsschrift Neue deutsche Blätter zu schreiben, andernfalls könne sie in Deutschland nicht länger publiziert werden. Empört lehnt sie ab und erklärt ihre Solidarität mit all den Menschen „die im Dritten Reich um ihrer Überzeugung willen verfolgt, in Konzentrationslager gesperrt oder ‚auf der Flucht erschossen‘ werden“. Man könne „Deutschland und dem deutschen Volk keinen besseren Dienst erweisen, als das Dritte Reich, dieses zur Wirklichkeit gewordene Greuelmärchen, zu bekämpfen“. Eine in ihrer kompromisslosen Eindeutigkeit bewundernswerte Antwort, die Zur Mühlens kämpferischen Antifaschismus deutlich macht.

Das erste der in den Band aufgenommene Feuilleton, Jung-Mädchen-Literatur, stammt bereits aus dem Jahr 1919 und wendet sich gegen den „amoralischen Dreck“ der damaligen Backfischliteratur mit ihren reaktionären Rollenidealen, welche die „verderbliche, angeborene Engherzigkeit“ der heranwachsende Frauen fördere und preise. Ein misogyner Biologismus der nicht eben frauenfreundlich oder gar feministisch ist, da hilft es auch wenig, dass Zur Mühlen den „jungen Seelen von vierzehn und sechzehn Jahren“ konzediert, sie seien „in den meisten Fällen idealhungrig“.

Im Zentrum des vierten Bandes steht der 1936 in Buchform erschienene Erzählband Fahrt ins Licht mit seinen gut 60 Kurzgeschichten, die Zur Mühlen in den vorausgegangenen Jahren in sozialdemokratischen Periodika publizierte. Literarisch ragen sie weit über den Agitprop ihrer im Laufe der 1920er Jahre in kommunistischen Blättern erschienenen Texte hinaus, ohne dass sie wirklich große Literatur wären. Immerhin aber zeigt die Autorin in ihnen, dass sie schreiben kann. Auch hat sie ihr Themenspektrum in den 1930er Jahren gründlich erweitert. Es reicht nun von unerfüllter Liebe, über die Wahrheit der Portraitmalerei bis hin zu alten Menschen, die den jungen das Leben stehlen. Es ist nicht mehr die Weltrevolution, „die aus dieser Erde ein Paradies machen kann“, sondern die Liebe. Zudem besteht Zur Mühlens Figurenkabinett nun nicht mehr aus bloßen Typen, sondern individuell gestalteten Charakteren, wie etwa eine (mutmaßliche) Mörderin. Die Pointen der Geschichten sind allerdings allzu oft schnell absehbar. Der Kurzgeschichte Die „Heilige“ handelt von einer Frau, die ihr „Leben lang Gutes getan“ hat. Allerdings nicht etwa aus Liebe zu den Menschen, sondern aus Hass. Ihrem scheinbar paradoxen Handeln liegen nun nicht philosophische Reflexionen zugrunde – was interessant hätte sein können –, sondern eine frühkindliche Unrechtserfahrung, was dann doch eher banal ist. Außerdem verschenkt zur Mühlen die Pointe der Geschichte, indem sie sie schon auf der zweiten Seite zum Besten gibt. Einige der Geschichten handeln in beziehungsweise von Afrika. Bei anderen handelt es sich um Tiergeschichten. Nicht selten haben sie ‚eine Moral‘.

Den Geschichten des Erzählbandes Fahrt ins Licht folgen noch einige weitere späte Kurzgeschichten, deren bedeutendste, Man muss es ihnen sagen, 1948 veröffentlicht wurde. In ihr entlarvt Zur Mühlen die verlogene Entschuldigung der nationalsozialistischen MitläuferInnen, sie hätte nichts gewusst, nichts von den Todeslagern, nichts vom Holocaust und überhaupt nichts von Nichts. Die Wahrheit ist: „Sie wissen es alle, sie wissen es alle!“

Die vier Bände sind mit Kommentaren des Herausgebers versehen, in denen die jeweiligen Texte als ganze in den Blick genommen werden. Sie bieten Wissenswertes über die (Zeit-)Umstände der Entstehung sowie über die Publikations- und Rezeptionsgeschichte der Texte. In Stellenkommentaren informiert Weinzierl etwa über erwähnte Personen und Werke oder korrigiert historische und andere Irrtümer der Verfasserin. Das ist oft hilfreich, doch stellen die Kommentare nicht in jedem Fall zufrieden. Wenn eine der Figuren erklärt, der Kampf um das Frauenwahlrecht sei „ein zweischneidiges Schwert“ und die rhetorische Frage anfügt „Du weißt doch, wie in England um das Wahlrecht gekämpft wird?“, kommentiert Weinzierl das wie folgt: „Die sogenannten Suffragetten kämpften in Großbritannien für das Frauenwahlrecht. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erhielten Frauen, die Grundeigentum besaßen, das Wahlrecht.“ Die für das Verständnis der kommentierten Stelle entscheidende Information, nämlich wie die Suffragetten für das Wahlrecht kämpften, enthält er den Lesenden vor. Sie verfassten nicht nur Petitionen und organisierten Massendemonstrationen, sondern warfen als radikalster Teil der internationalen Frauenwahlrechtsbewegung zudem Scheiben ein, brachten Briefkästen zur Explosion und zündeten Landhäuser an. Die Zeilen „Deutschland hat ewigen Bestand, / es ist ein kerngesundes Land“ wiederum kommentiert Weinzierl, mit der Bemerkung, sie seien „naturgemäß nicht von dem deutsch-patriotischen Freiheitsdichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860), sondern von Heinrich Heine“ verfasst worden. Tatsächlich? Naturgemäß?

„Eine Konstante“ des Schaffens Zur Mühlens sei „ihre Parteinahme für Frauen, das bedeutet auch gegen die Männer“, erklärt Weinzierl an einer anderen Stelle seiner Kommentare. Doch davon ist, in der vorliegenden Ausgabe zumindest, wenig zu sehen. Es seien hier nur einige widersprechende Beispiele aus Fahrt ins Licht genannt. Die Puppe oder Ewige Treue sind alles andere als Stellungnahmen für Frauen und gegen Männer. Ebenso wenig Die Schande, eine sich über Jahrzehnte erstreckende Geschichte über eine ledige Mutter, deren Protagonistin in recht schlechtem Licht dasteht. Zudem blendet sie den gesellschaftlichen Druck auf ledige Mütter aus. In Jan war in Sibirien wiederum kritisiert die Identifikationsfigur, eine hart arbeitende Landfrau, dass eine ihrer Geschlechtsgenossen „reitet und tollt und Streiche macht, wie ein Junge“. So etwas sei „nicht anständig“. Stattdessen sollten Frauen „daheim sitzen, ordentlich den Haushalt führen, Kinder kriegen“. Ihrem Wesen nach ist ‚die Frau‘ eine Wilde, eine „Barbarin“. Zu der mutiert sie jedenfalls in Kultur während einer Afrikareise, auf der sie sich mit einer „Negerin“ um einen Mann prügelt. Erst auf dem Rückweg nach Europa „verwandelt“ sie sich wieder „in eine zivilisierte Frau“, wohingegen sich der zivilisierte Mann während der gesamten Reise gleich bleibt. Nun wird die Geschichte zwar von einem Mann erzählt, allerdings wird er keineswegs als unglaubwürdig oder gar misogyn gezeichnet, vielmehr bekommt er als „berühmtester Psychiater der Gegenwart“ Autorität verliehen. Auch widerspricht die in Rede stehende Frau seiner Schilderung der Ereignisse nicht. Selbst Zu Mühlens Metaphern rekurrieren auf misogyne Weiblichkeitsklischees. So ist etwa der Thuner-See der „weiblichste See der Schweiz“, da er „im Verlauf einer kurzen Stunde wenigstens fünf verschiedene Stimmungen hat“.

Die meisten von Zur Mühlens literarischen Texten sind nur noch von (literar-)historischem Interesse. Zum Vergnügen oder um gut unterhalten zu werden, wird wohl kaum jemand zu ihren Büchern greifen. Heute noch für ein breiteres Publikum lesenswert sind allenfalls einige Geschichten des Erzählbandes Fahrt ins Licht und – aus historisch-politischen Gründen – der Roman Unsere Töchter, die Nazinen, sicher aber nicht die Werke ihrer kommunistischen Phase.

Titelbild

Hermynia Zur Mühlen: Werke. Band 1-4.
Herausgegeben von Ulrich Weinzierl. Mit einem Essay von Felicitas Hoppe.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019.
2432 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059269

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