Die Details entschlüsseln

In ihrem Vaterporträt „Der Platz“ gelingt Annie Ernaux eine berührende Milieustudie

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sie Proust oder Mauriac lese, schreibt Annie Ernaux, könne sie in diesen Werken nichts von der Welt ihres Vaters erkennen. „Seine Welt ist das Mittelalter.“ Damit formuliert die Autorin in ihrem Buch Der Platz eine doppelte Kluft der Entfremdung: zwischen Literatur und Lebenswelt zum einen, zwischen ihrer bürgerlichen Existenz als Lehrerin und der Herkunft aus einem kleinbürgerlichen Milieu zum anderen. Mit 27 legte Annie Ernaux die Prüfung für den höheren Schuldienst ab, genau zwei Monate später starb ihr Vater. „Daraufhin begann ich einen Roman zu schreiben, mit ihm als Hauptfigur.“ Darin wolle sie, schreibt sie, alles erklären: mit Zuneigung und zugleich mit einem „Gefühl des Ekels“. Sie möchte den beiden Befindlichkeiten auf den Grund gehen. „Ans Licht holen, was ich an der Schwelle zur gebildeten bürgerlichen Welt zurücklassen musste.“

Die Eltern stammten aus der französischen Provinz. Der Vater wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, dessen Eltern verdingten sich bei Großbauern. Früh lernte er dort Genügsamkeit und Demut. Nach dem Ersten Weltkrieg verließ er den Bauernhof und nahm eine Arbeit in der Fabrik an, wo er seine spätere Frau traf. Mit ihr erfüllte er sich den Traum eines eigenen Geschäfts: eines Kramladens mit Kneipe, der zuhinterst in einem Industrietal kaum Aussicht auf Verdienst bot. Später zogen die Eltern in eine Kleinstadt, um in bescheidenem Maß am Aufschwung nach dem Krieg teilzuhaben.

Ohne „zu den Mitteln der Kunst“ zu greifen, beschreibt Annie Ernaux das elterliche Milieu mit größter Klarheit. Die Autorin ist sich bewusst, dass ihr zunehmendes Unverständnis den Eltern nicht gerecht wird. Durch ihre Ehe mit einem Intellektuellen und durch ihren Lehrerberuf war sie im Milieu der Gebildeten angekommen. Die Lebensumstände der Eltern befremdeten sie daher mehr und mehr.

Genau das aber weckte ihre Skepsis. Ernaux wollte verstehen, woher sie selbst kommt. So begann sie zu schreiben: langsam, mit großen Lücken und ohne Freude, wie sie bemerkt, denn es fiel ihr schwer, „die Einzigartigkeit meines Vaters“ wiederherzustellen. Es fiel ihr schwer einzutauchen in diese Welt, die frei war von Ironie und „in der man alles wörtlich nahm“.

Der Vater wollte „seinen Platz halten“, sich als Ladenbesitzer sehen, nicht als Arbeiter. Dieser Platz ist für ihn zentral, er steht ebenso für einen Ort (die französische Provinz) wie für eine soziale Stellung (Geschäftsinhaber). Genau deshalb verstand er nie so recht, was seine Tochter an der Universität, in der Stadt tat. Dass „ich gern nachdachte, war ihm suspekt. Ein Zeichen fehlender Lebenslust in jungen Jahren.“ Überhaupt hatte er Angst vor dem Wort, weshalb er lieber auf gesicherte Wahrheiten vertraute. Man hat, was man hat. „Was werden die Leute von uns denken?“ Es wäre jedoch falsch, macht die Autorin deutlich, sich aufgrund all dessen das väterliche Leben als unglücklich vorzustellen. „Er war fröhlich.“

Nur von seinem Platz aus ist das Leben des Vaters verstehbar. Anschaulich schildert Ernaux die Beklommenheit, die sich in der Wohnung breit machte, als sie den Eltern ihren späteren Mann vorstellte. Was sollten sie reden, worüber sich unterhalten? Was geht verloren, wenn Kinder es schaffen, sozial aufzusteigen, wie es sich ihre Eltern wünschen, und sie sich dabei dem Milieu ihrer Herkunft entfremden? Annie Ernauxʼ Buch gibt darauf eine bemerkenswert schöne Antwort. So fremd ihr die elterliche Welt geworden ist, so sehr bewahrt sie eine „Art distanzierter Liebe“, die das Trennende aufhebt. Sie beobachtet mit soziologischer Genauigkeit und fühlt zugleich eine starke Zuneigung. In ihrem Vaterbuch mischen sich analytische Distanz und empathische Vertrautheit. Diese subtile Balance prägt das Buch.

„Etwas von der Zeit retten, in der man selbst nie wieder sein wird“, heißt es am Schluss der autobiografischen Prosa Die Jahre. 25 Jahre vorher, von November 1982 bis Juni 1983 entstanden, erweitert Der Platz das Zitat um eine Errettung dessen, woher man selbst kommt, und worüber sich allzu leicht der Mantel des Vergessens legt.

Der Platz ist ein dünnes Buch von nicht einmal hundert Seiten, das sich durch leuchtende Präzision und große stilistische Schlichtheit auszeichnet – ja mehr noch: berührt. Knackige Werbeslogans auf dem Buchumschlag sind oft ein Ärgernis, doch in diesem Fall dürften vielleicht ein paar Leser und Leserinnen dem Zitat von Didier Eribon auf dem Streifband zustimmen: „Eine lebensverändernde Lektüre“.

Peu à peu in kleinen präzisen Etappen erarbeitet sich Annie Ernaux ihr Leben auf ganz und gar unnachahmliche Weise. Inzwischen sind drei ihrer gut 20 Bücher auf Deutsch erschienen, von Sonja Finck atmosphärisch stimmig übertragen. Somit darf man noch auf ein paar Preziosen dieser Autorin hoffen.

Titelbild

Annie Ernaux: Der Platz.
Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
95 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225097

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