Reise ins Innere des Kopfes

Lukas Bärfuss verfolgt im Roman „Hagard“ einen Verfolger, der von seinen eigenen Obsessionen gejagt wird

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lukas Bärfussʼ dritter Roman Hagard war bereits vor einem Jahr angekündigt und mit Spannung zur Leipziger Buchmesse 2016 erwartet worden. Der Verlagsprospekt versprach die Geschichte von einem Mann, der aus einer Laune heraus eine Frau zu verfolgen beginnt. Eine erste Leseprobe machte bereits die Runde. Doch irgendein Widerstand schien die Veröffentlichung zu blockieren. Ein Jahr später nun ist das Buch da, und gleich in der Eröffnung artikuliert es den Kern des Problems: „Seit viel zu langer Zeit versuche ich, Philips Geschichte zu verstehen […]. Ein ums andere Mal bin ich gescheitert und konnte das Rätsel jener Bilder nicht entschlüsseln“.

Hat sich das Erscheinen des Buches deshalb verzögert? Im Unterschied zur frühen Leseprobe hat Hagard inzwischen einen Ich-Erzähler erhalten, der sich im lebhaften Präsens darüber auslässt, wie sehr ihn das Geschehene noch immer frappiert, gewissermaßen als ein Signal für „den Untergang der Welt, wie wir sie kannten“. Er verfolgt seinen Protagonisten Philip nicht nur bis in die innersten Winkel seines Kopfes, er möchte mit einer Erklärung auch wieder aus diesem herausfinden. Ob es ihm gelingt, soll hier noch nicht vorweggenommen werden. Auf jeden Fall ist Hagard zu einem faszinierenden Roman gereift.

Wer wäre nicht schon einmal der Idee verfallen, die vernunftgeleitete Lebensbahn unversehens zu verlassen, zur Seite zu treten und einer neuen Fährte zu folgen? Üblicherweise behält dabei die Macht der Gewohnheit die Oberhand. Es bleibt bestenfalls bei ein paar Hausecken, danach zweigen wir brav wieder in unser eigenes Lebenshaus ab. Genau das tut Philip nicht, auch wenn er im Nachhinein nicht zu sagen vermöchte, wie und warum er sich so einfach hat vergessen können. Als er an einem lauen Frühlingsnachmittag, präzise am 11. März 2014 nach fünf Uhr abends, etwas Wartezeit verbummelt, weil ihn ein Kunde versetzt hat, wird er im Gewirr der vorübergehenden Schuhe zwei „pflaumenblaue“ Ballerinas gewahr. Dazu eine unwillkürliche Geste mit der Hand: „für Philip bestand kein Zweifel: Sie meinte ihn“. So setzt er sich in Bewegung und folgt den Schuhen. Das Gesicht der Frau bleibt ihm verborgen. Er wird es bis zum bitteren Ende seiner Verfolgung nie sehen.

Der Protagonist gibt einer spielerischen Laune, einem unerklärlichen Impuls nach. Er hegt keinerlei Absichten, schon gar keine bösen. Als er nach einer Stunde seinen Jungen bei der Tagesmutter abholen sollte, tut er es nicht. Er lässt den Wagen stehen, vergisst sein Büro, lässt einen Flug nach Las Palmas verfallen und verabschiedet sich allmählich aus der mobilen Erreichbarkeit. Er hat nur Augen dafür, wie sich der Chiffonrock im Wind bauscht und die Rundungen seiner Trägerin modelliert.

Was für Gedanken hegt ein fülliger, etwas außer Form geratener Endvierziger, der eine junge Frau verfolgt? Der Erzähler sucht Antworten darauf. Weshalb will Philip unbedingt wissen, für wen sie im exklusiven Pelzgeschäft einen Mantel abholt? Er begleitet die Frau als Schatten bis zu einem Haus in der Agglomeration, wo sie verschwindet. Draußen richtet er sich für die Nacht ein.

Detailversessen begleitet der Erzähler seinen Protagonisten, besteigt die S-Bahn in unbekannter Richtung, wartet geduldig mit ihm im Regen und setzt sich in einer Imbiss-Bude neben ihn. Hartnäckig versucht er, in seine Gehirnwindungen hineinzukriechen und die Synapsen abzuklopfen, bloß um zu erkennen, dass der Mensch ein rätselhaftes Wesen ist, erst recht, wenn ihn das Begehren packt.

Sein Unbehagen bringt der wissende Erzähler gleich eingangs zum Ausdruck. Er weiß, wann und wo alles beginnt und wie lange das letztlich tragikomische Geschehen dauert: 36 Stunden. „Ich weiß alles, und ich begreife nichts.“ Deshalb verschiebt sich unmerklich sein Hauptaugenmerk. Er verlegt sich darauf, seine „Verstrickung zu erklären“. Vorher kann und will er nicht von Philip ablassen.

Diese Inständigkeit, diese, wie er selbst sagt, „Obsession der Wahrheit“, die ihn antreibe, und dazu sein scheinbares Allwissen machen ihn zunehmend selbst verdächtig. Er observiert nicht allein Philip peinlichst genau. Aus der Distanz des sich unbeteiligt gebenden Beobachters weiß er beispielsweise, dass die Ballerinas aus Kalbsleder sind. Von Philipsʼ intimen Gedanken zu schweigen, die vielleicht aber auch bloß Phantasien von uns allen sind, wenn wir uns vorstellen, wir würden jemanden verfolgen und jede seiner oder ihrer Handlungen zu erkennen versuchen. Wie aber ist zu erklären, dass der Erzähler den Verfolger nicht aus den Augen lässt, zwischendurch nach Venedig verreist und doch kaum fünf Minuten der Verfolgung verpasst? Der Erzähler reibt sich selbst mehr und mehr an den vielen Fragezeichen auf, hinter denen er sich als „Zeuge“ zu verbergen versucht.

Lukas Bärfussʼ Roman lockt seine Leserschaft in einen Strudel der Eindrücke, Ahnungen und Fragen, auf die es keine Antwort gibt – diesen Roman selbst ausgenommen. Er wirft mit Raffinement ein Räderwerk der Imagination an, das seine Leser als Ansprechpartner und Komplizen miteinbezieht. Sie werden lesend Opfer der eigenen Obsessionen. Sie denken mit, was Philip sich ausdenkt, und wie dieser wissen sie selbst nicht, wozu sie zu verführen sind. Es sind diese eigenen, vielleicht unmoralischen Vorstellungen, die dem ebenso improvisierten wie absolut folgerichtigen Setting zu seiner Spannung verhelfen.

Der Mensch ist unergründlich, ob er handelt, erzählt oder liest. Er bleibt im eigenen Kopf gefangen – vielleicht genauso wie der japanische Mathematiker, von dem das Buch ebenfalls erzählt. Ein rothaariger Vortragsredner spricht über ihn an der Technischen Hochschule, wohin Philip von der jungen Frau gelotst worden ist. Ein lateinisches Zitat signalisiert, dass es um ein jahrhundertealtes mathematisches Rätsel geht, das von eben jenem Redner, Andrew Wiles, 1994 gelöst wurde. Mit diesem Großen Fermatschen Satz hatte sich in den 1950er-Jahren auch Yutaka Taniyama beschäftigt und sich dafür weitgehend von der Umwelt abgekapselt. 1958 beging er unerwartet Selbstmord, unter Hinterlassung einer Briefnotiz: „Was den Grund meines Suizids betrifft, ich verstehe ihn selbst nicht ganz, aber er ist nicht das Ergebnis eines bestimmten Vorfalls oder einer bestimmten Angelegenheit.“

Um dieses Rätsel geht es Lukas Bärfuss allerdings kaum in seinem Roman. Das Schicksal des japanischen Mathematikers wird für ihn vielmehr zur Denkfigur. Sich derart in etwas versenken, heißt auch, vor etwas zu fliehen, sich vor etwas zu verstecken. Aber wovor? Ebenfalls 1994 zitierte der Selbstmörder Kurt Cobain in seinem Abschiedsbrief eine Songzeile von Neil Young: „Itʼs better to burn out than to fade away“. Es hallt in Bärfussʼ Roman nach. Vielleicht erklärt das etwas.

Um den Großen Fermatschen Satz zu lösen, schloss sich Taniyama im Zimmer, in der Arbeit, im eigenen Kopf ein. Von diesem psychodramatischen Huis Clos erzählt Hagard und schließt damit motivisch an Bärfussʼ Roman Koala an: den unbegreiflichen Selbstmord seines Bruders.

Indem der Erzähler in Hagard selbst immer stärker die Souveränität über seinen Gegenstand verliert, zielt sein Erzählen mehr und mehr darauf ab, wenigstens auf dieser Reise „ins Ungewisse den Verstand nicht zu verlieren“. Abzutauchen ist das eine, wie Philip das auszuhalten ein Zweites, doch beides ist nichts gegen die Schmach der Rückkehr in die normale Welt. Ist es das, was den Erzähler umtreibt? In der frühen Novelle Die toten Männer (2002) erzählt Lukas Bärfuss von einem kläglichen Befreiungsversuch. Aus Lebensekel sucht ein wohlhabender Buchhändler Rettung in einer großen Geste. Er würde gerne für den Tod eines Menschen angeklagt, doch man zieht ihn als Verdächtigten nicht einmal in Betracht.  Deshalb kehrt er reumütig in seine bürgerliche Bequemlichkeit und in den Schoß von Frau, Kind und einer bewunderten Mutter zurück.

Das mag es sein, was den Erzähler mit Philip verbindet. Es wirkt zuweilen so, als wären sie beide identisch. Einmal heißt es: „Wie oft waren wir schon hier, Philip und ich, saßen in diesem Wagen und schlugen uns die Nacht vom elften auf den zwölften März um die Ohren?“ In Gedanken, real? Möglicherweise.

Der Titel Hagard ist dem Französischen entlehnt und heißt in etwa so viel wie scheu, verstört. Im übertragenen Sinn bezeichnet „hagard“ eine schlampige wilde Gestalt, wie die von Philip. Lautlich klingt darin das gleichbedeutende englische „haggard“ an, das im übertragenen Sinne laut Wörterbuch auch einen „ausgewachsen gefangenen Falken“ bezeichnet. Innerhalb von wenigen Stunden verkommt Philip, der Immobiliengeschäftsmann, zu einem schlampigen Alien unter arbeitsamen Menschen, die sich vom Leben etwas erwarten.

Stilistisch setzt Bärfuss einen Kontrapunkt dazu. Seine Schreibweise ist von geradezu klassischer Strenge. Kurze prägnante Sätze wechseln sich rhythmisch mit wohlproportionierten langen Satzperioden ab, die bisweilen eine Kleistʼsche Kunstfertigkeit verraten. Sie machen jederzeit das Bemühen spürbar, dass sich der Erzähler nicht (wie Philip) gehen lassen will. Er sucht Halt in seiner Sprache, die in beständiger Pendelbewegung zwischen haarkleiner Nacherzählung und abschweifendem Räsonieren wechselt.

Die vielen Fragezeichen verleihen dem Roman ein höchst auffälliges Merkmal. Sie deuten zugleich an, dass der Ich-Erzähler – und mit ihm der Autor, wie vermutet werden kann – keine Auflösung anstrebt. Er bleibt in der Frage. Lukas Bärfuss belässt tatsächlich vieles in einem raffiniert ahnungsvollen Zwielicht, getreu einem Motto des Künstlers Raymond Pettibon: „The work is supposed to be finished by the reader […]. What matters is what takes place in the readerʼs imagination.”

So hält Hagard bis zum Schluss die Spannung aufrecht. Während der Erzähler versucht, selbst nicht „wahnsinnig“ zu werden, schützt die akkurate Formulierung auch den Autor davor, dass er beim Schreiben nicht aus der Haut, der Rolle, der Sprache fällt. Lukas Bärfuss ist mit seinem Buch einige Wagnisse eingegangen. Aus der Unmöglichkeit, ein wahres Buch zu schreiben, ist zu guter Letzt ein wahrhaftiges Buch von wunderbarer Stringenz entstanden, das die Leser und Leserinnen nach der Lektüre nicht so schnell loslässt.

Titelbild

Lukas Bärfuss: Hagard. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
173 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318403

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