Der Mensch in seiner Blöße zwischen Himmel und Erde

Karsten Müller hat „Die Hölzer“ von Ernst Barlach in einer Prachtausgabe herausgebracht

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 150. Geburtstag des Bildhauers, Zeichners, Grafikers, Dramatikers und Erzählers Ernst Barlach sind Die Hölzer, die umfassendste Bilddokumentation zu Barlachs Holzskulpturen, erschienen. Von 85 erhaltenen Holzbildwerken, deren Standort heute noch bekannt ist, sind 72 im Bildteil der Hölzer abgebildet, sie werden in großformatigen Ganz- und Detailaufnahmen, in Frontal- und Seitenansicht, Innen- und Außenperspektive von dem Fotografen Andreas Weiss so vorzüglich wiedergegeben, dass sie wie dreidimensional gut vorstellbar wären. „Holzhacken“ hat der Herausgeber des Bandes, Karsten Müller, Direktor des Barlach Hauses Hamburg, seinen einleitenden, profunden Beitrag überschrieben, der Barlachs Schnitzkunst gewidmet ist. Die Ergebnisse ihrer kunsttechnologischen Untersuchungen an Barlachs Holzskulpturen wiederum teilt Nicoline Zornikau mit. So ist tatsächlich ein „Festtagsbuch“ entstanden, das auch als „Forschungs- und Fotoprojekt“ seine Bedeutung hat und in dem man gleichermaßen mit Wissbegier wie Andacht und innerer Bewegung blättert. Barlachs Gebeugte und Bedrückte, Leidende und Verzweifelnde, Träumende und Widerstand Leistende preisen die Zeitlosigkeit.

Barlachs Denken und Empfinden erfolgte in Antithesen: Himmel und Hölle, Gott und Teufel waren die konstituierenden Kräfte für die plastischen Gestalten wie die Dramenfiguren im Raum, als Sinnbild für den Widerspruch von Materie und Geist, Körper und Seele, „Leibhaftigkeit“ und „Geisthaftigkeit.“ Der Kampf der Kräfte in den Figuren endet entweder als Sieg des Kreatürlichen über das Geistige oder des Geistigen über das Kreatürliche. Da die Außenwelt als Chaos erlebt wird, sucht man Halt im eigenen Selbst, trotz des immer auch gegenwärtigen Bewusstseins der Verlorenheit. „Alles ist wahr, was aus innerem Erleben keimt.“ „Symbole für die menschliche Situation in ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde“ hat Barlach deshalb seine Gestalten genannt.

Aus einer menschlichen und künstlerischen Krisensituation  wurde Barlach erlöst, als er 1906 zu einer Reise in den Süden Russlands aufbrach. Was er in dieser kurzen Zeit erlebte, war wie eine Initialzündung, die alles in ihm aufwühlte, ihn tief erschütterte und ihm gleichzeitig neues Selbstvertrauen verlieh. Er zeichnete wie besessen – Landschaftseindrücke, Figuren und Gesichter –, ganz überwältigt von der Grenzenlosigkeit der Steppe, von der Verlorenheit der Menschen in der endlosen Weite dieser Landschaft. In den russischen Steppenbewohnern fand er das Urbild des Menschlichen, nicht nur das naturalistisches Abbild einer in sich ruhenden Leiblichkeit, die menschliche Figur im Raum, ausgesetzt den Natur- und Schicksalsgewalten, gegen die sie sich zu behaupten hat. Mensch und Landschaft hat er in einer symbolhaften Einheit gesehen.

Selbstbewusst, die Hände auf die Knie gestützt, schaut uns das „Sitzende Weib“ (Fichte, 1908) an. Barlach hat sie in eine Würdeform gekleidet. Verzweifelt kämpft der „Schäfer im Sturm“ (Linde, 1908) gegen die Naturgewalten, man ahnt, wie viel unentfaltete Kräfte noch in ihm stecken. Der einfache, arme Mensch erscheint hier in zum Allgemein-Menschlichen erhobenen Typus. Er lebt noch – wie auch „Der Zecher“ (italienischer Nussbaum, 1909) – in unmittelbarem Bezug zur Erde, zum Boden, dem er unterworfen ist. Schon da zeigt sich, wenn auch noch äußerlich verstanden, die menschliche Geworfenheit, die auch als Verfallenheit bezeichnet werden kann. „Die sorgende Frau“ von 1910 (Eichenholz): eine jugendliche Bauersfrau in massiver Körperlichkeit, die, breitbeinig sitzend, die Hände im Schoß zusammengelegt hat. Sie sinnt sorgend, unfähig zur Tätigkeit. Die Sorge ist eine Last, die sich ihrem Gemüt aufgeladen hat. So ist alle Form dieser Figur lastend, am stärksten die Kurven der Arme, die den Händen keine Spur einer freien Beweglichkeit erlauben. Alles an dieser Gestalt ist „voll Sorge“. Ihre bangen Fragen richtet sie auch an den Betrachter, an dessen mitfühlende Verantwortung der Künstler appelliert.

Den „Sterndeuter“ (1909, italienischer Nussbaum) gibt es in zwei Fassungen: einmal blockhaft sitzend, die Beine gewinkelt, die Hände sinnend vor das Kinn gelegt, zum anderen stehend, den Körper etwas zurückgebogen, die Hände vor der Brust verschränkt, beide in forschendem Schauen das Gesicht zu den Sternen erhoben. Sie sind „eingehüllt in den Rhythmus der Linien und Flächen“, der an ihnen „aufsteigt in sanfter Bewegung und einströmt in den empor gerichteten Blick“, ein einziger Ausdruck ehrfürchtiger Versunkenheit. Der Mensch forscht in der Unendlichkeit des Raumes über sich, er ist ausgestattet mit einem Sensorium, das ihn über sich hinaus zu denken und zu fragen, das ihn Botschaften aus dem Universum empfangen lässt. Sein Körper ist fest mit der Erde verbunden, doch seine Gedanken schweben in einer Sphäre hoch über dieser Welt.

Diese Gleichzeitigkeit der Erdnähe und einer inneren Unruhe, die ihn forttreibt oder minder stark immer spürbar ist, diese Zwiegesichtigkeit, diese Zugehörigkeit zu zweierlei Sphären, einer sinnlichen und einer übersinnlichen, kennzeichnen die plastischen Gestalten Barlachs. Immer verdichtete sich ein Grundgefühl in allem, was Barlach schuf, ob er seine Motive in der russischen Steppe oder dann – seit 1910 – in der weiten Landschaft Mecklenburgs suchte und fand oder seine Figuren frei erdachte. Und immer wurde es ein Gleichnis für die Polarität der menschlichen Existenz, ein Gleichnis dafür, dass der Mensch zwar der Erde verhaftet ist, dass aber ein Keim in ihn gesenkt ist, der wachsen will, eine Unruhe in ihm da ist, die nie verstummt.

Der Ausdruck, die Gestik, das Physiognomische dominieren in Barlachs Gestalten, dagegen geht der Bildhauer in der Körperbehandlung andere Wege. Der nackte Körper hat ihm nichts bedeutet, seine Figuren sind in Gewänder gehüllt, die ihnen Schutz und Geborgenheit bieten sollen gegenüber Naturgewalten, Schicksalsschlägen oder den Bedrohungen der Zeit. In ihrer plumpen, undurchdringlichen Stofflichkeit sind sie aber auch Ausdruck eben jener Erdenschwere, die die Figuren nicht loslässt. Doch der Rhythmus ihrer Linien und Flächen geht zugleich in den die Figuren umgebenden Raum über, setzt die Aufgewühltheit der Gefühlsregungen mit dem Anruf von außen her oder von oben herab in Beziehung. Andererseits kann der innerseelische Gehalt aber auch von einer ruhigen, sich wölbenden Silhouette zurückgehalten werden. So wird ein vielfältiges Spannungsgefüge von innerer Erregung und äußerer Form erzeugt.

In der zweiten großen Barlach-Ausstellung der Galerie Paul Cassirer 1926 hatte der Künstler die „Gefesselte Hexe“ (Lindenholz, 1926) und den „Asket“ (Bronze nach einem Gipsmodell von 1925), die ausdrucksvolle Gruppe „Das Wiedersehen“ (Nussbaum, 1926), den sich dem ungläubigen Thomas offenbarenden Christus darstellend, und den „Träumer“ (1925) gezeigt, dessen Wesen und formale Beschaffenheit er mit den Worten umschrieb: „Es sind die Wellen der mecklenburgischen Landschaft.“ Zwischen ihm und der schlafenden Frau auf dem großen Doppelrelief „Die Vision“ (Eiche) aus dem Jahre 1912 besteht wohl eine Verbindungslinie; diese Frau könnte das Urbild des „Träumers“ sein. Ihr Traum aber weist uns auf ein Motiv hin, das bei Barlach mehrfach wiederkehrt, in der Graphik wie in der Plastik, die schwebende Menschengestalt – eine Variation des Motivs „Zwischen Himmel und Erde“. „Im Traume fliege ich oft“, hat er seinem Freund Friedrich Schult erzählt, „entweder dicht über den Erdboden hin, wie man in flachem Wasser schwimmt, oder schräg gegen Bäume ansteigend.“ In dem Relief „Die Vision“ klingt zum ersten Mal dieses für Barlach dann so charakteristische Motiv auf, der traumhafte Wille zum Schweben, die Loslösung des Schweren von der Erde. Diese schwebende Gestalt ist ein Vorbote des Güstrower Domengels, hier aber nicht den Tod kündend, sondern das Leben.  Zwischen der Schlafenden und der Schwebenden liegen zwar Welten, aber beide werden doch als Teile eines Ganzen, als Einheit von Irrealem und Realem, von Himmel und Erde verstanden. Das Schwebemotiv zeigt die Figuren jeweils in einer Grenzsituation menschlichen Seins und Bewusstseins.

Bei den drei Reliefgestaltungen „Die Verlassenen“ (1913, Nussbaum) hat Barlach nach einer Interpretation von Theodor Däubler „drei schwangere Weiber […] zur Schicksalsgemeinschaft“ zusammengefügt. Sie suchen Geborgenheit in der Erde, in den Erhebungen des Reliefgrundes und sind doch einer bevorstehenden Katastrophe ausgeliefert. „Große Schwere und großen Schmerz“ zu ertragen, hat Barlach visionär vorausgeahnt. Das Ausgesetztsein einem schrecklichen Schicksal gegenüber ist in einer knienden weiblichen Figur, die entsetzt die Hände an den Kopf zusammengeschlagen hat, Gestalt geworden („Das Grauen“, Linde, 1923).

Auch in einem der Hauptwerke der Spätzeit, dem „Fries der Lauschenden“ (1930/35, Eichenholz), geschaffen im Privatauftrag, ist jene Stimmung ablesbar, die Barlach damals während der Russlandreise erfasst hatte: dem Lauschen nach außen und in sich hinein. Jede der acht schlanken Holzfiguren, rhythmisch zusammengehalten zu einer Gemeinschaft, verkörpert ein menschliches Grundgefühl, die Träumende, der Begnadete, der Empfindsame, die Pilgerin, der Wanderer, die Tänzerin, der Gläubige und die Erwartende. Die Reihenfolge der Figuren hat Barlach immer wieder variiert. Sie lauschen einer sphärenhaften Musik, die wie „ein Schwingen in der Luft, ein Hauch von oben“ erscheint. Jeder hört diese Musik anders, wie „eine Stimme, die zu allen zu sprechen scheint.“ Jeder sinnt seinem eigenen Gefühlston nach, doch ist auch eine Übereinkunft rhythmisch und melodisch zusammengehöriger Töne angestrebt. Alle von ihrem Wohllaut umfangen, von der gleichen freudvollen, lieblichen Melodie. Weil das Ganze ihm fast zu „lyrisch“ erschien – „es muss da aber noch etwas anderes hinein, ein härterer Ton“, so sagte er Paul Schurek –, wollte er den weichen Linienfluss der Figurengruppe unterbrechen und ergänzte diese durch eine neunte Figur, einen blinden, alten Mann, gestützt auf zwei Stöcke, ganz in sich gekehrt. Dieser Blinde, durch dessen Gesicht Barlachs eigene Züge hindurchschimmern, ist der Kontrapunkt in diesem Chor verzückten Schweigens, der einzig Leidvolle unter den Lauschenden, in allem ein anderer, „härterer“ Ton, abweichend auch in den Proportionen. Er steht unsäglich allein. Doch selbst er hat noch etwas Versöhnliches, scheint angestrahlt von der heiteren Gelöstheit dieser Gruppe, deren Innigkeit er durch seinen Ernst vertieft. „Dass ich bei der Arbeit an diesen Figuren Heiterkeit und Gelassenheit gewann, sei ihnen besonders gedankt“, schrieb Barlach nach ihrer Vollendung, „sie spielten die Rolle von Gönnern und Nothelfern.“

In dem „Wanderer im Wind“ (1934, Eichenholz) spiegelt sich Barlachs persönliche Situation wider: „Statt römische Armgesten zu vollziehen [gemeint ist der Hitlergruß ­ K.H.], ziehe ich den Hut in die Stirn.“ Seinem Urteil über diese als zu „lyrisch“ empfundene Gestalt widersprach Paul Schurek mit Recht: „unbeirrt ging der Mann im Mantel seinen Weg durch Wind und Wetter, ein Sieg auch er, Triumph über die Widerstände eines bösen Jahres.“

Es gelang Barlach dann noch einmal in der Figur des „Flötenbläsers“ (1936) ein ähnlich schwereloser und heiterer, von der Zeit ganz unberührter Ton wie im „Fries der Lauschenden“. Das Lyrische bot sich ihm nun als Ausweg aus der Einsamkeit und Verfemung dieser Zeit an. „Im Fluss der Linien und gleitenden Flächen“ kann man eine „Umsetzung der Schalmeienmelodie in plastische Form“ erkennen (Manfred Schneckenburger, 1974).

Zwei seiner letzten Hölzer, die „Frierende Alte“ und die „Lachende Alte“ (Teak und Nußbaum, beide 1937), entstanden in seinem schlimmsten Jahr 1937, sind von geradezu beschwörender Ausdruckskraft: zusammengekrümmt, erbärmlich leidend, ohne die menschliche Würde verloren zu haben, die eine, von einem irrsinnigen Lachen den Körper nach hinten geworfen, mit grotesk grimassierendem Mund die andere. Sie haben schon so viel im Leben durchgestanden, was wird ihnen da die jetzige Zeit noch anhaben können.

Zu ihnen gesellt sich noch eine ganz stille Figur, der „Zweifler“ (Teak, 1937), der kniend die Hände ringt, in qualvoller Ungewissheit, den Blick fragend-anklagend, aber auch fast schon wieder hoffend emporgerichtet. Zwar geht die Gestalt, die wieder selbstbildnishafte Züge trägt, auf eine Bronze von 1931 zurück, aber dennoch ist dieser Abgesang des Plastikers Barlach erschütternd. Man glaubt ihn selbst, den immer schwerer Geprüften, die Hände ringen zu sehen wie diesen Zweifler, wenn er in seinem Güstrower Atelier daran dachte, was draußen seinen Geschöpfen geschah und was noch geschehen würde.

Ernst Barlach: Der Zweifler. 1937, Teak. Ernst Barlach Stiftung Güstrow. Foto: Andreas Weiss
(Aus: Ernst Barlach: Die Hölzer. Hamburg / Dortmund 2020, Abbildung 99).

„Das schlimme Jahr 1937“ (Eiche, 1936) kann als Barlachs prophetisches Vermächtnis angesehen werden. Dem Künstler drohte in diesem Jahr Berufsverbot, die Ausstellung „Entartete Kunst“ in München wurde eröffnet, fast 400 „entartete“ Werke Barlachs wurden aus den öffentlichen Sammlungen entfernt, der schwebende Engel aus dem Dom zu Güstrow abgenommen – die Mahnmale in Magdeburg und Kiel waren schon vorher abgebaut worden –, sein Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste erzwungen. Allen diesen Bedrohungen scheint diese aufrecht, in stummer Anklage verharrende Frau ausgesetzt. Sie stellt sich ihnen entgegen, leistet standhaft Widerspruch zur herrschenden Demagogie, zur Zerstörung der Menschenwürde, sie hat Gleichnischarakter. Keine der Barlachschen Gestalten begnügt sich mit dem Sein, jede will, hoffend und hartnäckig, das „Werden“. Auch wenn sie eine neue Bewusstseinsebene erreichen, bleibt ihre Unruhe bestehen.

Titelbild

Ernst Barlach: Die Hölzer. Woodwork.
Deutsch und Englisch. Hg. von Karsten Müller. Fotografien von Andreas Weiss. Hamburg: Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma.
Verlag Kettler, Dortmund 2020.
346 Seiten , 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783862067954

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