Aus alt mach teuer

Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre modellieren umständlich, wie Privatunternehmen und Behörden narrative Arten der Wertschöpfung etablierten

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Geist des Kapitalismus, unter diesem an Max Weber erinnernden Titel legten der französische Soziologe Luc Boltanski und seine Kollegin Eve Chiapello vor 20 Jahren ein dickes Buch vor, das es in sich hatte. Mit originellen Analysen zeigten die beiden Sozialwissenschaftler, wie die Management-Literatur Ende des 20. Jahrhunderts viele Motive der sogenannten „Künstlerkritik“ am Kapitalismus in die Organisationsweise der Betriebe integrierte. So erklärte ihr Buch zum neuen Geist ziemlich überzeugend, warum trotz oder gar wegen der Kritik durch 68er- und linksalternative Bewegungen die kapitalistische Wirtschaftsweise keinesfalls unterging, sondern schwungvoll prosperierte. Viele Aspekte der Kritik am alten, disziplinierenden und standardisierenden Produktionsmodell hatten die erfolgreichen Firmen produktiv gewendet. Sie adressierten nun die Lust an Authentizität und Freiheit ihrer Mitarbeiter wie Kunden. Seither beute der vom neuen Geist gepimpte Kapitalismus gleichsam 68er-Eigenschaften aus. Er beruhe auf „Autonomie, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität, Plurikompetenz“. Die „Fähigkeit, Netzwerke zu bilden“ wurde zur Erfolgsformel jener dynamisch die Internetwirtschaft vorantreibenden Plattform-Konzerne wie Google, Amazon und Facebook.

Jetzt hat Boltanski, in Co-Autorschaft mit dem Soziologen Arnaud Esquerre, mit einer auf neue Wirtschaftsweisen fokussierten Sozialstudie von gut 600 Seiten nochmals einen großen Wurf versucht: Bereicherung. Das Ergebnis ist allemal interessant – überzeugt insgesamt aber weniger als das alte Buch, das zu den Klassikern der jüngeren Sozialanalyse und Kapitalismuskritik gezählt werden kann. Das französische Wort „Enrichissement“ meint sowohl Anreicherung wie Bereicherung; das deutsche Wort lässt zunächst an einen Strafrechtsparagrafen denken. Der Untertitel Eine Kritik der Ware indiziert die Stoßrichtung des wissenschaftlichen Unternehmens, das  versucht, vier Arten der Warenform kritisch zu durchleuchten, mit denen wiederum vier Arten der Wertschöpfung einhergehen.

Die These lautet, dass zumindest in Frankreich der letzten 40 Jahre die Standardwarenform (das heißt in Tayloristischer Massenproduktion hergestellte Gebrauchsgüter) an Bedeutung verloren habe. Im Zuge der Deindustrialisierung der avanciertesten Volkswirtschaften haben die drei anderen (vermeintlich neuen) Arten der Warenform und der Wertproduktion an Bedeutung gewonnen. Es handelt sich um die Trendform (teuer verkaufbare, neu designte, schnell veraltende Modeartikel stehen beispielhaft hierfür), die Sammlerform (alles, was zu Sammlungen wertvoller Objekte ausgerufen und teuer verkauft werden kann: von Kunstwerken, über Hermès-Handtaschen und mythisierte alte Autos bis zu Immobilien in angesagten Gegenden) und die Anlageform, Objekte, die im Hinblick auf Wertsteigerung aber auch auf liquide Märkte, die deren Wiederverkauf ermöglichen, vermarktet und gehortet werden: klassischerweise handelt es sich dabei um Immobilien, neuerdings auch um teure Kunstwerke oder Uhren, Weine und Oldtimer.

Der vollentwickelte Kapitalismus schaffe Werte (und Verzinsungen des investierten Kapitals) also nicht mehr nur durch Investitionen in die Produktionsmittel von Massengütern. Er wachse durch die Erschließung und Ausweitung der anderen drei Waren- und Wertschöpfungsformen. Wobei diese – im Gegensatz zu den standardisierten Massenprodukten – vorwiegend von Reichen für Reiche produziert würden und somit gesellschaftliche Ungleichheit fortschrieben oder forcierten. Oft sind es gar keine neu produzierten Waren, sondern alte Dinge (Antiquitäten, Immobilien, auch Tourismusregionen mit Geschichtspotenzial), die durch geschickt arrangierte Narrative zu exklusiven Luxus Must-haves aufgewertet werden. Paradigmatisch stehen Umwidmungen alter Produktionsanlagen in oft privat finanzierte Kunstausstellungshallen (wie bei Fiat in Turin oder eine alte Lokomotivwerkstatt in Arles) für diese Verschiebung der Wertschöpfungsweisen.

Das schöne neue Luxus-Wert-Pferd wird von den Sozialwissenschaftlern leider von hinten aufgezäumt. Sie fokussieren durch Zusammenschau bisher unverbunden gedachter Sektoren auf neue, trickreiche Kapitalverwertung, die im Verbund operiere mit staatlichen oder lokalen Behörden und mit deren Tourismus- und Denkmalpflege. Dieses Dispositiv aus Kultur-, Geschichts- und Wirtschaftspolitik mit Renditeinteressen von Privatunternehmern wird decouvriert als bisher kaum bekannter Antriebsstrang einer neuen Wertschöpfung. Vernachlässigt wird in dem weithin narrativen und nicht sehr analytischen Buch, das gebannt die Anbieterseite fixiert, die Nachfrageseite: die gewachsene Kaufkraft und ihre Begehrlichkeiten. Weltweit gestiegener Wohlstand – und keineswegs nur der Superreichen – führt zur Suche nach neuen knappen Gütern und Sinn-Bedürfnissen. Vermögenszuwächse und Sättigung der Grundbedürfnisse generieren Nachfrage nach Sammel- und Trendobjekten – ferner nach teuren Erlebnissen wie Reisen. Die Konsumentenwünsche übersieht der warenfixierte Blick der Forscher weitgehend; denn diese auf Dienstleistungen basierte Wertschöpfung kristallisiert sich kaum an warenförmigen Objekten, sie ist weithin immateriell.

‚Das Kapital‘, das hier immer wieder als Hauptakteur und Hauptprofiteur der post-tayloristischen Wertschöpfung benannt wird, hat im Übrigen nicht erst seit 40 Jahren in diverse Bereiche mit Gewinnabsicht investiert. Immobilieninvestments gehören zu den ältesten Kapitalanlagezielen. Trends, also die Nachfrage für neue Produkte, vorauszuahnen – oder diese Trends durch Werbung und Marketing gezielt herzustellen –, ist ebenfalls ein älteres Dispositiv des Investierens. Zwar mag es stimmen, dass sich die Kapitalverzinsung in vielen Bereichen der Massenproduktion von Standardgütern in den letzten Dekaden (nicht zuletzt durch den globalen Markteintritt vieler neuer Hersteller aus ärmeren Ländern) verringert hat, während die Kapitalverzinsung im Bereich der Immobilien in Trendgebieten und der Luxusgüter wuchs. Doch mindert es die Überzeugungskraft des Buches, dass die Analyse und Erzählung der beiden Soziologen insgesamt allzu sehr auf Frankreich und seine spezifische Wirtschaftsentwicklung zentriert ist, was Boltanski und Esquerre durchaus einräumen. Wobei sie die genannten Verschiebungen in Frankreich als Vorreiter für Volkswirtschaften mit einer langen Geschichte, mithin für Alt-Europa, zu sehen scheinen.

In Frankreich sind die beiden wohl reichsten Männer, Bernard Arnault und François Pinault Unternehmer, die mit Luxusartikeln (Mode, Parfums, Champagner, Weine etc.) zu Multi-Milliardären wurden. Doch schon ein Blick über den Rhein hätte den Sozialwissenschaftlern offenbart, dass die reichsten Deutschen (Unternehmen wie Aldi und Lidl, Schäffler, VW oder BMW) durch den Handel von hoch standardisierten Discountartikeln oder mit gleichfalls massenproduzierten, standardisierten Autos (oder Software-Produkten, wie die SAP-Gründer) ihre Milliarden machten. Ein Blick über den Atlantik zeigt, wie die Anhäufung der größten privaten Reichtümer mittels Softwareherstellung im Verbund mit Monopolisierung von Marktsegmenten (Amazon, Microsoft, Google, Facebook) ebenfalls in Massenmärkten und nicht in Luxusnischen stattfand – und das in erstaunlich kurzer Zeit.

Kurzum: Die Wertschöpfung durch narrative Aufwertung alter Dinge und Gegenden (Patrimonialisierung eines Terroirs lauten die französisierenden Fachbegriffe) die Boltanski und Esquerre hier teils anschaulich narrativ und teils ziemlich umständlich modellierend rekonstruieren, ist gewiss ein Wachstumssektor entwickelter Volkswirtschaften. Dieser hat aber nicht annähernd die Bedeutung, die ihm die Autoren (leider eben auch ohne Zahlenangaben zur relativen Gewichtung dieser Bereiche) zuschreiben. Womöglich wird die Wertschöpfung durch Luxusobjekte irgendwann in Europa tatsächlich größer sein als die mittels Standardartikeln. Hinweise darauf, wann und wo dies (bei extrapolierten Wachstumskurven) der Fall sein könnte, wären interessant gewesen. Und man sollte sich darüber womöglich eher freuen als dies zu fürchten und zu kritisieren. Denn viele der damit einhergehenden Entwicklungen wären wünschenswert: steigender Wohlstand, der durch die gesteigerte Nachfrage diese Güter überhaupt erst attraktiv macht, vielfach angenehmere Jobs für die an der Narrationsökonomie Beteiligten etc. Einen Punkt treffen die Sozialwissenschaftler allerdings, wenn sie auf die ungleiche Verteilung der neuen Wertschöpfungsgewinne (und auf Verlierergruppen und -regionen) hinweisen. Doch wurden und werden auch die Gewinne der alten Wertschöpfung und Standardproduktherstellung kaum fairer an die daran Beteiligten verteilt. Auch hier wären abwägende Vergleiche von Nutzen.

Der Erzählfokus des Buchs auf die Herstellung der vermeintlich neuen, narrativ aufgewerteten Waren und auf die daran interessierten Kapitalverwertungsinteressen macht den Gang der Argumentation über längere Strecken umständlich. Diese Umständlichkeit und gelegentliche Verkomplifizierung bei der Darstellung von Verschiebungen der Konsumentennachfrage und der Kapitalinvestitionen (nebst Beteiligung von staatlichen Stellen, Werbung und Marketing) gipfelt in einer geradezu undurchschaubaren 40-seitigen „Skizze zu einer Formalisierung der Warenstrukturen“, deren Sinn und Nutzen nicht klar wird. Dieses mathematische Formelwesen produziert (wie sogar einmal eingeräumt wird) Banales; etwa die Feststellung, dass der Preis für ein (Teil-)Objekt einer Sammlung nicht den Preis der gesamten Sammlung übersteigen wird. Nun ja. Bei der Übersetzung dieses Kapitels musste die erfahrene Philosophin, Wissenschaftsjounalistin und Übersetzerin Christine Pries, die das oft ein wenig ungelenk formulierende Buch angemessen ins Deutsche übertrug, auf die Übersetzungshilfe einer Kollegin zurückgreifen. Eine alltagssprachliche Bedeutung des Formel- und Funktionswesens, zumal eine planerische oder auch kritische Anwendbarkeit dieses letzten Kapitels hat sich dem Rezensenten leider trotzdem nicht erschlossen.

Dienstleistungen, die doch den weit überwiegenden Teil der Wertschöpfung und des Volkseinkommens in fortgeschrittenen Volkswirtschaften produzieren, werden von den Soziologen vernachlässigt; das heißt, diese interessieren gewissermaßen nur als involvierte Tätigkeiten von Künstlern oder prekären Kulturbeschäftigten, die an der Aufwertung von Waren und deren zu Labeln stilisierten Herkunftsregionen mitwirken. Dass Tourismus, Events, Wellness oder auch die Rezeption der Künste (Theater, Musik) nicht nur aus warenförmigen Objekten (vor allem: Immobilien, Kunst- und Designobjekten, Antiquitäten aller Art) bestehen, kommt hier viel zu selten zur Sprache. Dass man modernes Wirtschaften in Konsumgesellschaften mit auskömmlicher Versorgung an Waren und elementaren Dienstleistungen als Konsum- oder Überflussgesellschaft beschreiben kann, die geradezu notwendig neue, narrativ-imaginäre Aufwertungen alter Dinge erfinden muss, wird hier bestaunt und sodann unter Vernachlässigung wichtiger Aspekte modelliert.

Die Suche der Reichen und der glücklicherweise zunehmend wohlhabenden, weltweiten Mittelschichten nach Distinktion, nach seltenen, womöglich einzigartigen Objekten und Erlebnissen, wird inszeniert als Geschichte der „Bereicherung“ mittels einer staatlichen wie privatwirtschaftlichen Organisation exquisiter Erlebnisse und Dinge. Aus Luxus-Konsum und narrativem Marketing (Konstruktion von Geschichte und Regionalismus) wird im Buch der Soziologen eine Räuberpistole mit ‚dem Kapital‘ als fintenreichem Hauptverbrecher.

Das alte Buch vom neuen Geist des Kapitalismus hatte eine mit guten Beobachtungen unterlegte These: Die neue Organisationsart der kapitalistischen Konzerne eignet sich Werte wie Spontaneität, Kreativität, Selbstverwirklichung an, ist damit erfolgreich, schafft aber soziale Ungleichheit keineswegs ab. Das neue Buch eiert hingegen durch ein Territorium von einleuchtenden Beobachtungen (Traditionen werden erfunden, Erzählungen stiften Sinn und Wert, Luxusfirmen sind oft einträglicher als Hersteller von Massengütern). Es bleibt jedoch unklar im Hinblick auf die Verhältnisse von Neuheit und Althergebrachtem. Es leidet unter fehlenden empirischen Belegen, etwa für die Anteile der Wirtschaftsbereiche am Bruttoinlandsprodukt, und an fehlenden internationalen Vergleichen oder Einordnungen. Das Argument, diese Daten lägen noch gar nicht vor, weil die staatlichen und privatwirtschaftlichen Bereiche, die hier erstmals als neues Bereicherungsdispositiv zusammengedacht würden, noch gar nicht als ein zusammenhängender Wirtschaftssektor erfasst würden, überzeugt nicht recht. Man wüsste gerne, ob und wie sich Frankreichs Bereicherungsökonomie mit dem Luxus-Sektor etwa in der Schweiz, in Deutschland, den USA, Japan und China vergleichen und gewichten ließe. Auf den 600 Seiten erfährt man dazu leider nichts.

Trotz all dieser Kritikpunkte lohnt sich die Lektüre der anregenden Studie aber doch. Vor allem weil durch die Rekonstruktion des Zusammenwirkens staatlicher Programme von Denkmalschutz, Stadterneuerung, Regional- und Tourismusförderung (ironischerweise meist von der linken Mitterand-Regierung und ihrem Kulturminister Jacques Lang ins Leben gerufen) im Verbund mit privaten Wirtschaftsinteressen tatsächlich ein Dispositiv gesteuerten Wirtschaftens in Wachstumsbranchen deutlich wird. Sympathisch ist auch Boltanskis Impuls der Empörung über massive ökonomische Ungleichheiten, der das alte Buch (als die sogenannte ‚Soziale Kritik‘ am Kapitalismus) wie nun das neue Buch grundiert. Freilich hätte man eine moralische oder an ökonomischer Gerechtigkeit (und Produktivität) orientierte Gewinn- und Verlustbilanz, die Gewinner und Verlierer der neuen Wertschöpfungsweisen deutlich herausarbeitet, doch lieber als These und Fazit des dicken Buches gelesen. So blitzt sie nun bloß sporadisch hier und da mal auf in einem insgesamt etwas verschwurbelten Modell diversifizierter Wertschöpfungen. Ein bedenkenswerter Modellierungsversuch, dem trotz starker Narrativität (Anekdoten und regionale Fallgeschichten) ein objektivierender Anstrich verpasst wurde, der in einem seltsam unlesbaren Formel-Kapitel kulminiert.

Titelbild

Luc Boltanski / Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware.
Übersetzt aus dem Französischen von Christine Pries.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
730 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587188

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch