Der grausamste Beruf

Julia Polzin verschafft mit der Neuausgabe von Ruth Brés Roman „Ecce Mater!“ einer vergessenen literarischen Stimme der ersten Frauenrechtsbewegung Gehör

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Name Ruth Bré ist heute nur noch wenigen geläufig. Es handelt sich um eines der Pseudonyme der um 1900 aktiven Frauenrechtlerin Elisabeth Bouness, die sich besonders für die Rechte lediger Mütter einsetze. Im Jahr 1905 veröffentlichte sie unter dem Aliasnamen ihre damals wohl erfolgreichste literarische Publikation. Der Roman trägt den auf Friedrich Nietzsches Ecce Homo! anspielenden Titel Ecce Mater (Sie, eine Mutter!). Nun wurde er von Julia Polzin neu herausgegeben.

Um es gleich vorwegzunehmen: Es handelt sich um einen Tendenzroman reinsten Wassers. Literarisch hat er entsprechend wenig zu bieten. In der damaligen Zeit der vielfältigen Epochenstile ist er völlig konventionell, fast konservativ und nicht eben geschmeidig erzählt. Dafür ist er vollgepackt mit feministischer Gesellschaftskritik. Die frauenrechtlichen Forderungen und Kritiken werden zumeist argumentativ klar vertreten, wenngleich sie dem heutigen Sprachgefühl gelegentlich allzu pathetisch anmuten mögen.

Im Zentrum des Romans steht die Lehrerin Helene Baumann. Sie ist Mitte 20 und „eine jugendliche, biegsame und doch kräftige Erscheinung mit anmutigen, ernst überhauchten Zügen“. Helene ist mit einem Architekten liiert, den sie aufgrund des für Lehrerinnen geltenden sogenannten Zölibatsgebots allerdings nicht heiraten kann, ohne ihre Anstellung zu verlieren. Zu Beginn des Romans erhält sie die niederschmetternde Nachricht, dass ihr „Geliebter“ für zwei Jahre nach Amerika geht, womit er beiden eine sichere Existenzgrundlage verschaffen will. In einer letzten, und wohl auch ersten, Liebesnacht am Vorabend seiner Abreise wird sie schwanger.

Aus Helenes Kollegium werden zwei weitere Frauen näher vorgestellt. Eine von ihnen, die jüngste Lehrerin an der Schule, hat gerade ihre Festanstellung erhalten und schaut darum hoffnungsvoll in die Zukunft. Die andere, eine Mittvierzigerin ist von der „stillen Resignation“ gezeichnet, „die sich mitunter über die Züge derer breitet, die ‚nur noch Lehrerinnen‘ sind“ – und nicht Ehefrau und Mutter, sagt der Subtext. Schuld daran ist eben das Zölibatsgebot. Für die damals schon als älter geltende Lehrerin bedeutet es „die Vernichtung all dessen, was ein Weib sich von Glück träumt“. Vor vielen Jahren war auch sie erfreut, als sie das Dokument der Festanstellung erhielt. Heute aber würde sie sich für die Liebe und gegen den Beruf entscheiden. Das heißt gegen den Beruf als Lehrerin, nicht gegen eine Berufstätigkeit überhaupt. Denn nur als Lehrerinnen müssen Frauen „ihr Herz ersticken und ihr junges Blut und alles, was ein Weib gemeinhin wünscht und hofft“. Das ist nicht allein die Mutterschaft, sondern zumal für junge Frauen vor allem ein befriedigendes Sexualleben. Gerade ihnen, den jungen Frauen, ist „die Liebe das Nächste, das Kind das Zweitnächste“. Weibliches Begehren wird also klar benannt. Allerdings wird hier erstaunlicher Weise die Ehe implizit zur notwendigen Bedingung erfüllter Sexualität erklärt.

Helene will „noch ein Weib sein, noch nicht ‚nur‘ Mutter“. Gegen die Doppelmoral in Sachen Sexualität erklärt sie für die „auf eigenen Füßen“ stehenden Frauen ihrer Generation: „Wir essen unser selbstverdientes Brot. Warum sollen wir uns denn nicht unserer selbsterwählten Liebe hingeben? Der Mann darf’s doch halten, wie er will.“

Da ihr Geliebter im fernen Amerika ist, entschließt sich die Schwangere, bis zu seiner Rückkehr das Kind als ledige Mutter alleine aufzuziehen. Als solche kann sie ebenso wenig im Schuldienst bleiben wie eine verheiratete Frau. Das Angebot des Schuldirektors, sie zu ehelichen, um ihr die ‚Ehre‘ zu erhalten, lehnt sie empört ab. „Im Rahmen des Gesetzes liess der Staat mich nicht zu meinem Glücke gelangen. So habe ich mich ausserhalb des Gesetzes gestellt“. Gegen das sittliche Urteil der Gesellschaft erklärt sie, sie trage ihr Gewissen in ihrer Brust, es sei der „einzige Richter“, den sie anerkenne.

Nun wird der Schuldirektor zwar als wohlmeinend, aber auch als ahnungslos gezeichnet. Der Pastor meint es ebenfalls gut mit Helene. Wenn er sie auch nicht unbedingt versteht, so unterstützt er sie doch nach Kräften. Überhaupt sind die Männerfiguren durchweg eher positiv dargestellt. So zielt die Kritik des Romans nicht auf einzelne Männer, sondern auf die patriarchalische Gesellschaft.

Wenn der Schuldirektor und der Pastor oder auch die beiden Kolleginnen Helenes für bestimmte Menschentypen in bestimmten Lebenslagen stehen, so gilt dies noch mehr für drei Damen der ‚besseren Gesellschaft‘ mit recht unterschiedlichen Gesinnungen und entsprechendem Lebenswandel, die im weiteren Verlauf der Handlung ihre Auftritte erhalten.

Zwar streitet der Roman insbesondere für die Rechte lediger Mütter und seine zentrale Kritik gilt dem sogenannten Zölibatsgebot für Lehrerinnen. Doch positioniert er sich überdies an vielen feministischen Fronten. So problematisiert er etwa das auch heute noch aktuelle Thema der Vereinbarkeit von „Familienleben und Berufsarbeit“ oder weist auf die vielen trinkenden und prügelnden Ehemänner hin. Es sei allemal besser, eine ledige Mutter zu sein, als durch die Ehe an einen prügelnden Trunkenbold gekettet zu sein, heißt es einmal. Ebenso kritisiert er die höhere Entlohnung von Männern und erklärt zur Überraschung sicher nicht nur des damaligen Publikums, dass eigentlich die Frauen besser bezahlt werden sollten. Tatsächlich bringt Helene hierfür sogar einige originelle Argumente vor: „Der Staat tut gerade so, als ob der Mann das Kind gebäre, als ob man ihn recht gut bezahlen und ernähren müsse, damit er kräftige Bürger gebären kann.“

Die Kritik am misogynen Ehe- und Scheidungsrecht wird wiederum sogar schon fast zu einem Plädoyer, die Ehe ganz sein zu lassen. Jedenfalls aber dafür, keine „Interessenheirat“ oder „Handelsehe“ einzugehen; „Liebe lernt sich nicht“, sagt Helene angesichts des Heiratsangebotes des Schuldirektors. Zudem gelte ihr die „Ehe aus Neigung“ als die „allein sittlich berechtigte“.

Schließlich tritt der Roman, wenn auch eher beiläufig und indirekt, in den damals heftig ausgefochtenen Kampf für das Frauenwahlrecht ein. So beklagt die Protagonistin, dass die ausschließlich männlichen Gesetzgeber „die Gesetze nach ihren Interessen zurecht“ schneiden. Erst „wenn wir Frauen in der Gesetzgebung hätten“, werde „ein glücklicheres Weibgeschlecht aufwachsen“. Doch glauben die Frauen des Romans nicht daran, das noch erleben zu dürfen.

Viele, eigentlich alle Argumente lassen sich in einem Satz zusammenfassen: „Des Weibes Menschenrecht wird verkürzt, wenn man es in seiner harmonischen menschlichen Entwicklung hindert.“ Dabei argumentiert Helene eher differenz- als gleichheitsfeministisch, wenn sie programmatisch erklärt, sie fordere „Die Frau als Weib mit eigenen Weibsrechten, dem Recht freier Herzenswahl, freier Mutterschaft neben freier wirtschaftlicher Selbständigkeit“.

Nicht alles, was sie vorbringt, überzeugt heute noch. So befremdet etwa ihre Auffassung, „eine Mutter“ sei „doch das Erste, was ein Kind haben muss“ und deshalb sei es „so natürlich, dass eine Frau sich ein Kind wünscht“.  Noch fragwürdiger ist ihre Auffassung, dass „die höchste menschliche Krone des Weibes die Mutterschaft“ sei. Auch unterläuft Helene ein naturalistischer Fehlschluss, wenn sie erklärt: „Die wahre Moral heißt: Die Gesetze und Triebe der Natur achten!“ Und weiter: „Nur das Natürliche ist das Moralische! Das Unnatürliche ist zugleich das Unmoralische!!“

Gegen Ende hin übt der Roman ebenso heftige wie ungerechte Kritik an der Frauenbewegung seiner Zeit. So klagt Helene etwa, es sei „viel Unehrlichkeit in der Frauenbewegung“, „bei manchen“ sei sie zudem „überhaupt nur Mode oder innere Anteilnahme“. Vermutlich liegt an dieser Stelle ein sinnentstellender Tippfehler (des Originals oder der Neuausgabe) vor und es müsste eigentlich „ohne innere Anteilnahme“ heißen. Die innerfeministische Kritik richtet sich jedenfalls nicht nur gegen Verfechterinnen der Frauenrechte, denen Unehrlichkeit und Teilnahmslosigkeit vorgeworfen wird, sondern auch gegen die Bewegung als solche:

Für Menschheitsfragen hat die Frauenbewegung überhaupt noch wenig Verständnis. Es gibt eine Bildungsfrage, eine Erwerbsfrage, eine Sittlichkeitsfrage usw., – aber eine Menschheitsfrage gibt es in der ganzen Frauenbewegung nicht, bis jetzt nicht. Ganze Menschen mit vollem Menschenrecht macht die Frauenbewegung aus den Frauen nimmermehr.

Tatsächlich aber hatte Hedwig Dohm genau dies schon einige Jahrzehnte zuvor gefordert und in die bekannte Formel „Menschenrechte haben kein Geschlecht“ gegossen. Helene aber meint: „Die Frau – ein Mensch! Das ist etwas so Unerhörtes, dass selbst die engagiertesten Frauenrechtlerinnen es nicht glauben können.“

Ungeachtet dieser Kritikpunkte ist die erneute Publikation des Romans uneingeschränkt zu begrüßen, verschafft sie doch einer damals auch unter den, wie es im Roman heißt, „Mutterrechtlerinnen“ schon fast einsamen und heute weithin vergessenen literarischen Stimme der damaligen Frauenbewegung Gehör.

Titelbild

Ruth Bré: Ecce Mater! (Siehe, eine Mutter!).
Herausgegeben von Julia Polzin.
Books on Demand, Norderstedt 2018.
157 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783746063034

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