Science Fiction, Satire, Humor und unsichtbare Wände

Der von Andrea Capovilla herausgegebene Tagungsband „Marlen Haushofer. Texte und Kontexte“ bietet Beiträge recht unterschiedlicher Qualität

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie Andrea Capovilla in der Einleitung zu dem von ihr herausgegebenen Sammelband Marlen Haushofer: Texte und Kontexte beklagt, gibt es auch fünfzig Jahre nach Haushofers Tod noch immer keine Werkausgabe der österreichischen Schriftstellerin. Nun befleißigt sich Capovilla zwar gelegentlich eines etwas hagiographischen Tons, diese Klage jedoch ist völlig berechtigt.

Der vorliegende Band fußt auf einer Konferenz, die 2020 am Ingeborg Bachmann Centre in London abgehalten wurde. Seine teils deutsch-, teils englischsprachigen Beiträge gehen „Themen und Motiven“ nach, die sich „durch [Haushofers] Gesamtwerk ziehen“. Es seien dies „[d]ie Sehnsucht und gleichzeitig die damit verbundenen Aporien aus einem beengten Leben auszubrechen und die Präsenz einer magischen, phantastischen oder märchenhaften Dimension, die mit der Kindheit verbunden ist“.

Eröffnet werden die Beiträge mit zwei Aufsätzen zu Haushofers wohl bekanntestem Werk: Die Wand. Caitríona Ní Dhúill unternimmt ein „metabolic reading“ der „dystopian novel“Dabei stellt die Autorin den Roman in den Kontext der „Great Acceleration“ der Nachkriegszeit und liest die „ambivalent vision of abrupt departure from the Age of Oil“ zugleich als deren Ausdruck. Denn die Protagonistin erlebe eine „abrupt trasition, or better ejection, from fossil-fuel economy to one powered by wood and muscle“.

Augenfällig sei, dass es der Roman ungeachtet seiner deutlichen Zivilisationskritik durchgehend ablehnt, „to portrait life on the land as any kind of idyll“. Dennoch empfinde die Protagonistin ihr neues Leben nicht als Verlust früherer Freiheiten, sondern im Gegenteil als Befreiung von sozialen und familiären Obligationen, der alltäglichen Langeweile und ehemals gern gehegter Illusionen. Eine Befreiung, für die sie allerdings einen hohen Preis zahlen müsse. Mit ihrem „metabolic reading“ will Ní Dhúill „feminist preoccopation with reproductive labour into close dialoge with eco-critical focus on energy regimes“ bringen. Denn ihr zufolge „foreshadows“ Haushofers Erzählerin „other eco-dystopian feminist protagonists“, wie sie etwa in literarischen Werken von Margaret Atwood, Joanna Russ und Marge Piercy zu finden seien. Vor allem aber betont Ní Dhúill die anhaltende Aktualität des Romans und seine „potential relevance of the world-ecolocical perspectiv“.

Margaret Littler erweitert in ihrem Beitrag The Posthuman and Marlen Haushofer’s Die Wand on Page and Screen die Perspektive und nimmt auch Julian Pölslers Verfilmung des Romans in den Blick. Dabei richtet sie ihren Fokus zunächst auf „the reflections of animal/human distinction and the dissolution of a unified self in the novel“, die sie unter Rückgriff auf den Posthumanismus-Begriff von Rosi Braidotti als „move to posthuman“ interpretiert. Weiter erklärt sie, Überlegungen zu Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft seien „central for the narrator’s palpation of the boundary between animal and human being“. Zur Plausibilisierung dieser These zieht Littler allerdings nicht die Texte von Kant selbst heran, sondern verlässt sich ganz auf die Kant-Interpretation Hannah Arendts. Vielleicht aber, so ist kritisch anzumerken, benutzt Haushofers Roman die beiden Begriffe gar nicht im philosophischen Sinne (Kants), sondern eher im Alltagsverständnis. Darauf deuten zumindest etliche der von Littler herangezogenen Textstellen hin, mit denen die Autorin etwa die Körpergebundenheit der Vernunft bei Tier und Mensch aufzeigen will. Auch dass die Erzählerin Tieren im Verlauf des Romans in immer stärkerem Maße Vernunft zuspricht, während sie selbst zu Beginn um ihren Verstand fürchtet, deutet auf den Alltagsgebrauch beider Begriffe hin. Jedenfalls wirft der Roman Littler zufolge „profund epistemological and ontological questions about what it is to be human“ auf. Unter Bezugnahme auf Gilles Deleuze’ Arbeiten zum Kino beleuchtet die Autorin im abschließenden Kapitel Julian Pölslers Verfilmung des Romans, welche „picks up on the novel’s radical questioning of what it might mean to be human in a less anthropocentric world“.

Sarah Neelsen wiederum wirft die Frage auf, ob Haushofer eine SF-Autorin sei. Wie nicht anders zu erwarten, zieht sie zur Beantwortung ebenfalls Die Wand heran, aber auch die Romane Eine Handvoll LebenDieTapetentür und Die Mansarde. Sie alle veranlassen die Autorin, die Frage positiv zu beantworten. Das mag zwar schon hinsichtlich der Wand überraschen, mehr noch jedoch in Hinblick auf die anderen drei Romane. Allerdings meint Neelsens SF-Begriff „in erster Linie nicht das literarische Genre“ Science Fiction. Vielmehr rekurriert sie auf „Denkfiguren“ von Donna Haraways weiterem und vagerem Verständnis, demgemäß unter SF neben Science Fiction auch „speculative fabulation“, „speculative feminism“, „fiction inspired by science“, „science based on fiction“ und sogar die indigene Kultur der String Figures zu verstehen sind. Neelsen beabsichtigt nun, anhand der genannten Werke und Haraways denkbar unscharfem SF-Konzept „das utopische Potential“ von Haushofers Romanen „zum Vorschein [zu] bringen“. Denn nicht nur die „Begebenheiten des Romans Die Wand lassen sich“ ihr zufolge „mit den Begrifflichkeiten Haraways zusammenfassen und damit neu einordnen“, sondern auch die der anderen beleuchteten Werke. Ebenso originell wie gewagt ist Neelsens These, dass die „Raumkonstellationen“ in den vier Romanen aus jeweils „drei Elementen“ bestehen, „nämlich einem Planeten und (meistens) zwei Satelliten: bürgerliche Welt + Jagdhütte und Almhütte in Die Wand, Familienhaus + Mansarde und Jagdhaus in Die Mansarde, Landhaus + Gästezimmer und Internat in Eine Handvoll Leben und Wohnung + Hospitalzimmer und Forsthaus in Die Tapetentür“. Dabei „verwandelt“ sich der Autorin zufolge „[i]n den meisten“ der genannten Werke „ein abgelegenes Zimmer […] in eine Raumkapsel“, die „der Protagonistin eine Zeitreise zwischen verschiedenen Epochen ihres persönlichen Kosmos [erlaubt]“.

Wörter wie Raumkapsel, Zeitreise und Kosmos mögen zwar Assoziationen zur Science Fiction evozieren, sind hier jedoch eher dem Bereich der begrifflichen Taschenspielerei zuzuschlagen. Macht man sich das SF-Verständnis von Haraway zu eigen, mögen „[d]as unerklärliche Auftauchen einer durchsichtigen Wand“, „der Flug auf dem Rücken eines gelben Hundes“ oder auch die „Verwandlung in ein Fabelwesen“ zwar als „typische[.] SF-Elemente“ gelten. Mit Science Fiction hat all das aber nicht unbedingt etwas zu tun. So hält sich der diesbezügliche Erkenntnisgewinn von Neelsens Beitrag denn auch in Grenzen. Auch ihre Ausführungen über die „Hybridisierung menschlicher und tierischer Identitäten“ in Haushofers Romanen sind nicht wirklich überzeugend. In der Wand etwa würde „das Familienmuster durch Auflockerungen der Rollen [verändert]“, indem „Menschen und Tiere, aber auch Menschen und Pflanzen entsprechend dem Navajo-Spiel der string figures „in neuen Mustern miteinander verbunden“ würden.

„Signifikante[n] Genealogien in Marlen Haushofers Die Mansarde“ geht Marlen Mairhofer nach und zeigt, dass in der zu Beginn des Romans ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen der Protagonistin und ihrem Gatten um die Art des vor dem gemeinsamen Schlafzimmerfenster stehenden Baumes „zwei grundlegend verschiedene Zeichensysteme [kollidieren]“ und dass in diesem „subtilen Ringen um Definitionsmacht […] zentrale Motive des Romans […] antizipiert [werden]“.

Helmut Grugger wiederum stellt kluge erzähltheoretische Überlegungen zu Himmel, der nirgendwo endet an und macht nebenbei auf die „Einwände“ aufmerksam, die der „scheinbar[.]“ eine „Kindheitsidylle“ schildernde Roman gegen die zur Handlungszeit „herrschenden Erziehungsvorstellungen“ erhebt.

Thomas Kronschläger unternimmt eine „Rekontextualisierung“ von Haushofers Kinderliteratur „aus der Perspektive der Kinder- und Jugendliteraturforschung“. Sein Plädoyer gegen die „Entwertung der Kinderliteratur“ mündet in der Aufforderung zu einer „Neuperspektivierung Marlen Haushofers als eine Autorin für alle Alter“. Erst dies werde ihrem „literarischen Rang[.]“ gerecht. Die „All-Ages-Qualitäten des Haushoferschen Schaffens“ zeigten sich etwa insbesondere in ihren Märchen. Dass Haushofers zu ihren Lebzeiten erfolgreiche Kinderbücher nach ihrem Tod „nahezu vergessen“ worden seien, findet Kronschläger beklagenswert. 

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die beiden abschließenden Beiträge von Daniela Strigl und Daniel Syrovy. Erstere geht dem „Anteil“ verschiedener Autorinnen an der „Linie der Ironie und satirischen Zuspitzung“ in der österreichischen Nachkriegsliteratur nach und richtet dabei ein besonderes Augenmerk auf Haushofers Werke. Syrovy wiederum stellt Haushofers Roman Die Wand und Hannelore Valencaks Die Höhlen Noahs nebeneinander. Im Unterschied zu dem einen oder anderen Beitrag kommen Strigls und Syrovys Aufsätze ohne überschüssiges theoretisches Brimborium und waghalsige Thesen aus, sind dafür aber umso gewinnbringender. Wie Strigl überzeugend zeigt, hat Haushofer „Humor und Ironie immer schon unter den Aspekten von Macht und Gender [betrachtet]“ und bringt sie als „eine Form von Notwehr gegen die männliche Herrschaft“ in Stellung. Zudem „unternimmt“ Haushofers Literatur „einen Generalangriff auf die Würde, nicht nur des Mannes“. Denn „[d]ie ironische Perspektive und die forcierte Brutalität ihrer Erzählungen und Romane kündigen das Selbstverständliche der patriarchalen Nachkriegsordnung ebenso radikal auf wie den Konsens des Vergessens“ der Zeit des Nationalsozialismus. Darüber hinaus zeichne „Haushofer mit boshafter Charakteristik von Individuen als Typen ein kritisches Bild der bürgerlichen Wirtschaftswunderwelt“ ihrer Zeit.

Wie Daniel Syrovy plausibilisiert, steht nicht nur Haushofers Werk, sondern die „österreichische[.] und pragerdeutsche[.] Literatur“ insgesamt weniger in der Tradition der Science Fiction als vielmehr in derjenigen der „Phantastik“ und des „magischen Realismus“. Diese bildeten den „schlüssige[n] literarische[n] Kontext für die postapokalyptischen Spekulationen“ in den Werken von Haushofer und Valencak. Aufschlussreich sind auch Syrovys nebenbei eingeflochtene Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte von der „ersten handschriftlichen Fassung“ bis zum veröffentlichten Roman Die Wand, in deren Verlauf der Text „immer ambivalenter[.]“ geworden sei.

Titelbild

Andrea Capovilla: Marlen Haushofer. Texte und Kontexte.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2022.
220 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783732907854

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch