Empathie – ein Schlüssel zur verlorenen Familiengeschichte
Bernhard Chiquet reist in seinem Debütroman „Nach Manhattan“ seinen Vorfahren nach, die es vor mehr als hundert Jahren aus einem Schweizer Dorf nach New York zog
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm Anfang waren da nur ein paar Kindheits- und Jugenderinnerungen des Autors an den Großonkel und die Großtanten, dazu ein paar Anekdoten, die in der Familie gerne hervorgeholt wurden, nichts Genaues, aber oft Kurioses, dazu einige Fotos, die mehr Rätsel aufgaben als Antworten lieferten, schließlich noch einige Dokumente, Briefe und Zeugnisse. Und es gab Erbstücke wie etwa Schuhe und einen Mantel von allerbester Qualität. „Mir waren die Schuhe leider zu klein“, erinnert sich Bernhard Chiquet,
[i]ch durfte als Halbwüchsiger dafür einen halblangen schwarzen Mantel aus feinem Wollstoff austragen, mit Applikationen aus schwarzer Seide auf dem Kragen. Auf der Innentasche war eine Stoffetikette aufgenäht mit der Aufschrift John D. Rockefeller Jun. Esq. Der Mantel erregte zu jener Zeit, um 1969, Bewunderung und Neid bei meinen Schulkameraden.
Rockefeller? Ja, von dem Onkel, den die Familie Long‘ Alcide nannte, dem Bauern aus dem Schweizer Dorf Cornol mit seiner von Mist verkrusteten Hose hieß es immer, er sei einst Butler und Kammerdiener bei Rockefeller Junior in New York gewesen. Auch die Schuhe seien aus dessen Besitz; sie waren Maßanfertigung, die der Diener als Geschenk erhielt.
Wie passt das alles zusammen – Butler in New York und Bauer eines kleinen Hofs im Schweizer Jura, wo man vorwiegend Französisch spricht oder genauer ein Patois? Der Nachfahre wollte es eines Tages wissen und begann deshalb zu recherchieren. Herausgekommen ist eine Familiengeschichte als Roman und zugleich eine private Geschichte der Auswanderung und Rückkehr im frühen 20. Jahrhundert, die einen staunen lässt, wie Menschen aus einer dörflichen Enge in die buchstäbliche Weite der Welt hineinfinden. Für Romantik ist darin allerdings kein Platz, wohl aber für Menschlichkeit, die der Autor nie aus dem Blick verliert.
Sein Glück finden im Unbekannten. Für die Geschwister aus Cornol – es waren insgesamt vier (zwei blieben in der Schweiz) – bedeutete es vor allem ein Versprechen, nämlich gute Arbeit zu finden, gutes Geld zu verdienen und als Zugabe noch eine Portion Lebensglück. Am Ende jedoch sind drei von ihnen wieder zurückgekehrt und reich wurde niemand. Sie waren für die Daheimgebliebenen zu Américains geworden, zuerst bestaunt, danach eher belächelt und ignoriert. Ein wohl wiederkehrendes Phänomen des Fremdwerdens: wie sehr neue Lebensverhältnisse, eine andere Kultur den Menschen in seinem Habitus beeinflussen, gleich ob bewusst oder unbewusst, als ob ein Mensch in der Fremde ein anderer wird und so den Anschluss zum einst Vertrauten verliert.
Als der Autor ein junger Mann war, haben ihn diese Geschichten nicht sonderlich
interessiert – im Gegenteil. Rückblickend nennt er sich „anmaßender Ignorant“:
Die alte Frau [gemeint ist eine seiner Tanten, N.E.] hast du als Wesen aus einer andren Welt betrachtet und auch so fotografiert. Du hast dich mit den Sprüchen der Familiensaga begnügt. Sie war mit einem Erfinder verheiratet in den USA und ist arm zurückgekehrt. Du hast sie als Clown bezeichnet, ihr Haus als Loch.
Man darf in dem Roman, der aus dem Puzzle der Erinnerungsstücke, aus Teilen der „Familiensaga“ und aus den wohl umfangreichen, aber oft ergebnislosen Recherchen in den USA entstand, auch eine Art Wiedergutmachung für die Ignoranz von damals sehen.
Dass es ein Roman wurde, hat sicherlich mit den eher dürftigen Fakten zu tun und den vielen offenen Fragen. Er bot sich als Ausweg an, während die Empathie, also die Fähigkeit, sich in das Leben anderer Menschen einzufühlen und hineinzudenken, sich als Schlüssel für eine geradezu ausschweifende Erzählung von immerhin 400 Druckseiten erwies. Chiquets Recherchen zum zeitgeschichtlichen Umfeld und zum Alltag in einer Stadt wie New York geben dem Roman gewissermaßen erzählerischen Halt, einen Rahmen und auch ein Stück Beglaubigung.
Als Alcide, der unbedingt Diener werden will, 1907 in den USA ankommt, landet er zunächst in Sterling/Ohio, einem kleinen Ort südlich von Cleveland, um sich von dort auf den Weg nach New York zu machen. Er findet einen Agenten, der ihm seinen ersten Job in einem exklusiven Club vermittelt. Danach arbeitet er für einen Banker und Broker und landet schließlich als Butler bei Rockefeller.
Inzwischen ist in Europa der Krieg ausgebrochen und Alcides jüngere Schwester Julia hat ebenfalls Arbeit in den USA gefunden. Sie ist Kindermädchen bei einer wohlhabenden Familie in New Jersey und wird Jahre später einen Ingenieur heiraten. Die ältere Schwester Joséphine hatte als erste den Weg über den Atlantik genommen, arbeitete als Kindermädchen und Näherin. Auch Mathilde findet Arbeit. Sie hat es gut getroffen bei den Baileys und begleitet sie sogar auf deren Reisen und lernt so Paris kennen. 1916 wird Präsident Woodrow Wilson wiedergewählt und im Jahr darauf treten die USA in den Ersten Weltkrieg ein. Alles ist in Bewegung und verändert sich ständig.
Den Sound der Zeit liefert das Jazz Age und wir werden an Bessie Smith‘ Stimme erinnert, die das Grammophon durch die Wohnung der Baileys schickt. Auch Meteorologisches darf nicht fehlen, wenn es vom nasskalten Frühlingsanfang 1911 heißt: „Dicker Nebel schwappte vom Long Island Sound hinüber in den East River. Es nieselte, als Alcide mit dem Hündchen von Mrs. McCurdy das Haus verließ.“ Ein andermal ist es eine Hitzewelle, die New York fest im Griff hat. Wenn Chiquet dabei von Kindern erzählt, die in der Wasserfontäne des Hydranten herumplanschen, dann hat er wahrscheinlich eines der bekannten Fotos von Helen Levitt vor Augen gehabt, auf dem genau diese Szene zu sehen ist. Im Kino läuft ein Film mit Charlie Chaplin, längst hat man sich an die bewegten Bilder gewöhnt. Nur wer aus der tiefsten Provinz kommt, staunt noch darüber. Ein andermal besucht man in einem Broadway-Theater die Operette „The Chocolate Soldier“ – mit einem Schweizer als Helden.
Ja, so wie es uns Bernhard Chiquet erzählt, so hätte es wohl sein können und so war es vielleicht auch. Wenn es sonst gelegentlich in der Literatur heißt, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen seien rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt, so ist das jetzt genau umgekehrt. Dazu ein kleiner Nachtrag: Der Zufall wollte es, dass kürzlich die Autorin Katharina Volckmer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Bericht über ihre Großcousine veröffentlichte, die in den 1950er Jahren aus der norddeutschen Provinz nach New York auswanderte. „Ich war schon immer fasziniert von Leuten, die in ein anderes Land ziehen und sich dauerhaft dort niederlassen, von diesem Willen das eigene Leben umzukrempeln“, schreibt Volckmer. Und dann ist da diese Riesenstadt New York, die immer noch Welthauptstadt genannt werden darf, und in der Chiquet sich auf die Spurensuche nach seinen Vorfahren begab. „Jeder Quadratmeter ist so dicht mit Geschichten und menschlichen Schicksalen bevölkert, dass es manchmal überwältigend sein kann.“ Der Roman „Nach Manhattan“ erzählt genau davon.
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