Toxische Beziehungen
Ulla Coulin-Riegger ergründet in ihrem Romandebüt „Mutters Puppenspiel“ eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ich will in das Grenzenlose / Zu mir zurück“, lauten die ersten beiden Verse von Else Lasker-Schülers Gedicht Weltflucht (1902). Und weiter heißt es: „O, ich sterbe unter Euch! / Da Ihr mich erstickt mit Euch. / Fäden möchte ich um mich ziehn – / Wirrwarr endend! / Beirrend, / Euch verwirrend, / Um zu entfliehn / Meinwärts!“
Dieses ersehnte „Meinwärts“ ist als Motto von Ulla Coulin-Rieggers Debütroman Mutters Puppenspiel vorangestellt. Treffend gibt es die Richtung vor, die die Verhaltens- und systemische Familientherapeutin, Jahrgang 1950, ihrer Protagonistin und Ich-Erzählerin, der 38-jährigen HNO-Ärztin Lisette, weist: heim zu sich selbst, weg von ihrer toxischen Mutter-Beziehung mit all den manipulativen Spielchen, die die Tochter zwar durchschaut, aber denen sie lange nichts entgegengesetzt hat. Erst nach einem schmerzlichen Verlust beginnt sie, sich aus den narzisstischen Spiegelkabinetten zu befreien. Bis dahin bleibt Lisette, beruflich erfolgreiche Medizinerin mit eigener Praxis, im privaten Bereich emotional mehrfach gebunden: in erster Linie an die gefühlskalte und selbstverliebte Mutter, ab und an in der Erzählung der Tochter nur „Frau Dornbusch“ genannt, und dann an den deutlich älteren Geliebten Emil, einen Kunsterzieher und Geschichtslehrer (der an anderer Stelle im Roman überraschenderweise auch als Kunsterzieher und Englischlehrer vorgestellt wird), seit 25 Jahren verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter.
Nachdem mein Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, verstorben war, verließ meine Mutter unser großes Elternhaus (genannt „die Villa“) und zog in eine nach ihren Worten „luxuriöse Eigentumswohnung“. Jeden Sonntag, bis auf wenige Ausnahmen, besuche ich sie zur Kaffeestunde. Wir wohnen keine drei Straßen voneinander entfernt.
So beginnt Mutters Puppenspiel. Wie eine Marionette fühlt sich Lisette an den Fäden der Mutter hängend. Etwa beim Sonntagsritual mit Kaffee- und Sekttrinken, wenn die Tochter schon von vornherein „durch aufgesetzt fröhliches Verhalten“ der „Zweisamkeit etwas Gemütliches abzuringen“ versucht. Das zwanghafte Ritual, dem schon ein entsprechender Kleidungscode der Tochter vorausgeht, nimmt seinen Lauf: Kaffeetrinken, Teller abwaschen und am Sekt nippen, bevor die Tochter der Mutter die Handtasche bringen und schließlich auch noch die Brille aus dem Schlafzimmer holen soll, wohlwissend, dass die Brille wie immer im Badezimmer liegt. Doch am Gang ins Schlafzimmer, „der so sehr nach ihr duftet“, führt kein Weg vorbei, erst danach darf die Tochter die Brille im Bad finden, um am Ende des Sonntagsrituals mit einigen Scheinen aus dem „Geldbeutel aus Krokodilleder“ bedacht zu werden.
„Hier, für dich, kaufe dir etwas Schönes“, sagt sie, und klingt dabei wie: „Ich gebe dir nun etwas von mir, dafür erwarte ich aber auch, dass du immer für mich da bist, wenn ich dich brauche.“ […] Ich nehme etwas verschämt das Geld und bedanke mich brav. Ich brauche es nicht, es geht mir finanziell sehr gut. Aber das sage ich nicht.
Schließlich wirken die unsichtbaren Bänder der Erziehung weiter. So wie Lisette noch als erwachsene Frau das Sonntagsritual absolviert und Handtasche und Brille der Mutter zu apportieren hat, richtet sie sich seit ihrer Kindheit, selbst abgerichtet, meist nach den Wünschen anderer. Dabei ist sie immer auch bestimmt von „der Angst nicht zu genügen“. Ob beim Tennisspiel mit dem Vater („wann immer er wollte“) gegen die Prokuristen der Firma auf dem hauseigenen Tennisplatz, indem sie versucht, „für ihn das Spiel zu gewinnen“, beim Spielen mit der vom Vater an Weihnachten aufgebauten Eisenbahn, „um dem Vater für einige Stunden den Sohn zu ersetzen“, oder bei späteren Treffen als junge Erwachsene: Meist läuft die „Hoffnung auf Zuneigung […] vorbei ins Leere“. Entsprechend bedürftig nach emotionalem Halt, nach Zuspruch durch die Mutter bleibt Lisette nach dem Tod des Vaters. Dabei scheint der Zeitpunkt für eine Abnabelung endlich da. Denn Lisette ist nicht nur verliebt, sondern mit 38 Jahren vielleicht auch endlich schwanger.
Doch sie bleibt zunächst – in umgekehrter Spiegelung – dem familialen Muster der Dornbuschs verhaftet: ihr Vater war kinderlos verheiratet, als er die damals 19-jährige Mutter von Lisette schwängert und schließlich heiratet. Doppelt so alt wie ihre Mutter seinerzeit ist Lisette zu Beginn des Romans schwanger vom 16 Jahre älteren und verheirateten Emil, Vater einer erwachsenen Tochter. Sie hatte nicht verhütet, befürchtete sie doch nach längerer Beziehung mit einem früheren Liebhaber, unfruchtbar zu sein – ein Makel, zumal Lisette sich vom sehr eindimensionalen Frauenbild der Eltern (Mütter und Heilige versus Flittchen, Dirnen und Schlangen) durchaus nicht gänzlich gelöst hat. Gleichwohl kann sie sich sich als Alleinerziehende vorstellen, wenn schon die Mutter in beleidigtem und beleidigendem Ton fragt: „Du wirst das doch nicht etwa behalten wollen?“
Und Emil? Er ist gerade mit seiner Frau auf Silberhochzeitsreise nach Sizilien aufgebrochen; und weiß zunächst noch nichts von der Schwangerschaft. Auch er erscheint gebunden – an seine Frau, die er nicht liebt, zuvor noch an eine weitere Geliebte – und entscheidungsschwach. Als er es am Telefon erfährt, fragt er nur „Warum?“, eine Reaktion, die Lisette umso mehr verletzt, als die Mutter ohnehin die Zweifel an „diesem Emil“ nährt.
Die Romanhandlung nimmt mehr und mehr Fahrt auf. Die Frauenärztin soll am Ende des dritten Monats den Mutterpass ausstellen: Doch das Ultraschallbild zeigt keinen Herzschlag mehr und Lisette muss sich einer Ausschabung unterziehen. In der Nacht vor dem endgültigen Verlust ihres Kindes schläft Lisette selbst wie ein kleines Kind bei der Mutter. Der Eingriff verläuft nicht ganz so reibungslos, wie sich Lisette das vorstellt. Mit Hilfe von Ruth, mit der sich Lisette in der Klinik anfreundet und die empathisch Trauergefühle ermöglicht, gelingt ihr letztlich der Auf- und Ausbruch aus dem mütterlichen Marionettenspiel.
Das Tempo der Geschehnisse wird am Ende jedoch stillgestellt in einem Familientableau: Lisette und Emil machen Ausflüge und nehmen ab und an auch die Mutter als Dritte im Bunde mit. Ja, Letztere darf sogar Lisettes Brautkleid aussuchen. Das Ganze wäre etwas holzschnittartig und kitschig am Schluss, wenn nicht Ruth eine entscheidende Frage stellen würde. Doch: „Auf diese Frage erwartet sie keine Antwort und eng umschlungen kehren wir zu den Gästen zurück.“
Mutters Puppenspiel ist ein geschickt konstruierter, literarisch unprätentiöser Roman mit mehrfachen und gebrochenen Spiegelungen der Figuren. Coulin-Rieggers Debüt über fragile Identitäten ist zudem ein Text über Frauen- und Männerbilder, über bewusste und unbewusste Zuschreibungen. Mutters Puppenspiel ist zugleich eine Erzählung über misslingende Kommunikation zwischen den Geschlechtern und den Generationen sowie über deren Erwartungen und Bedürfnisse.
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