Lesen in der Corona-Krise – Teil 16

Das gekrönte Virus: Die Philosophin Donatella Di Cesare setzt sich in dem Essay „Souveränes Virus?“ mit der Corona-Krise auseinander

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schönes und Hässliches sind eng miteinander verknüpft in Donatella Di Cesares hellsichtigem und gedankenreichem Essay: Elegant in Sprache und Stil ist ihr Text ein funkelndes poetisches Juwel, das seinen hässlichen, ja brutalen und prosaischen Inhalt an keiner Stelle hinter sich lassen kann, um befreit aufzufliegen und sich im Elfenbeinturm des Schönen zu feiern und selbst zu bespiegeln. Der Gegenstand ist so verstörend wie traurig, unendlich schmerzhaft auch, die Art und Weise, wie hier über ihn gedacht und geschrieben wird, nahezu hermetisch und von hoher Kunstfertigkeit. Das lässt den Kontrast von Denken und Leben, von Kunst und (desillusionierender) Realität nur umso deutlicher hervortreten.

Di Cesare zeichnet ein fülliges, breit angelegtes Panorama der Corona-Pandemie und erweitert das ubiquitäre Corona-Vokabular, dessen Funktionalität und Kälte unsere Wirklichkeit noch zusätzlich entzaubert und verflacht, entscheidend. Unsere Lebenswelt sieht sich seit nunmehr über einem Jahr beherrscht von Begriffen wie Inzidenz, FFP2, RKI, STIKO, Vektor- / mRNA-Vakzin. AHA-Regeln disziplinieren unseren Umgang miteinander, in welchem jedes Gegenüber unter dem Allgemeinverdacht steht, ein möglicher Virenherd zu sein und damit eine potenzielle Ansteckungsgefahr darzustellen.

In sechzehn Kapiteln umkreist Di Cesare, die Theoretische Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom lehrt und als eine der wichtigsten Stimmen unter den italienischen Intellektuellen für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften in Italien und im Ausland schreibt, ihr Thema: die vielfältigen und diffizil verflochtenen Zusammenhänge der Corona-Pandemie mit dem Kapitalismus bzw. der kapitalistischen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Denkordnung. Di Cesare, letzte Schülerin von Hans-Georg Gadamer in Heidelberg, sieht im epochalen Ereignis der Pandemie die Probleme unseres 21. Jahrhunderts wie in einem Brennglas gebündelt: Ihr Text beschäftigt sich gleichermaßen mit Demokratiemodellen und ökologischen Fragen, Expertokratie und Infodemie, Verschwörungstheorien und dem Verhältnis von Philosophie und Politik sowie den Möglichkeiten einer neu zu denkenden, zukunftsweisenden Politischen Philosophie.

Kaum jemals zuvor war so stark spürbar wie in der gegenwärtig herrschenden Pandemie, was Politik und politisches Handeln bedeuten: das Führen von Diskursen, das Hin und Her der Meinungen, das Abwägen von Entscheidungsfolgen, das Offenlegen von Interessenkonflikten und das Aushandeln von Kompromissen, die Beschäftigung mit übergeordneten Zielen, der Widerstreit von Freiheit und Verantwortung, Schutzbedürftigkeit und Einschränkung, Individuum und Staat. Kaum je zuvor hat politisches Handeln ein solches Konglomerat ethischer Fragen, Implikationen und Herausforderungen mit sich gebracht wie zurzeit: Welchen Preis hat der Schutz des Lebens, wenn dafür die Grundrechte in Frage gestellt bzw. eingeschränkt werden, ist nur eine dieser dringlichen Fragen. Die Corona-Pandemie hat uns die Natur eines globalen Notfalls gezeigt:

Wir haben gelernt, dass die menschliche Gesundheit, die wirtschaftliche Gesundheit und die Gesundheit des Planeten grundlegend miteinander verbunden sind. Pandemien, Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt sind existenzielle Bedrohungen, die keine Ländergrenzen kennen,

formulierte es HRH Charles, Prince of Wales, zum diesjährigen Commonwealth Day.

Das Coronavirus ist ein souveränes Virus, das die Mauern des Nationalismus und der Abschottung umgeht. Die in einer globalisierten Welt ausgebrochene Pandemie ist nach Di Cesare beispiellos, schon aufgrund der Schnelligkeit der Ansteckung, die sowohl der Aggressivität des Virus wie auch seiner beschleunigten weltumspannenden Zirkulation geschuldet ist: „Kein geographisches Gebiet bleibt verschont“. Wir stehen in einem epochalen Ereignis, das ein Vorher und ein Nachher markiert und das schon jetzt das 21. Jahrhundert tiefgreifend verändert hat.

„Unsichtbar, ungreifbar, ätherisch und beinahe abstrakt“, schreibt Di Cesare, „fällt das Coronavirus über unsere Körper her. […] Niemand kann sich davor retten. Der Angriff erfolgt aus der Luft. […] Es ist das Virus der Asphyxie, eine Atemkatastrophe“. Nach Ansicht der Philosophin handelt es sich bei der Corona-Pandemie nicht um einen Zwischenfall, sondern um etwas, das in das Innerste des Systems einbricht beziehungsweise aus diesem heraus ausbricht, in diesem entstanden ist. Das Corona-Virus hat „das Laufwerk gestoppt“ und ein Wachstum unterbrochen, das „in der Zwischenzeit zu einer unkontrollierbaren Wucherung ohne jedes Maß und Ziel geworden ist“.

In welcher Welt leben wir? In welcher Welt werden wir leben?

Mit der Corona-Pandemie verknüpft ist auch die Schwierigkeit, ja: Unmöglichkeit, uns die Zukunft vorzustellen. Wer werden wir sein? Wie wird die Gesellschaft sich transformieren? Was werden wir lernen? Wie werden wir trauern um die Toten? Mit welchen Folgen werden wir zu leben haben? Was wird bleiben und was werden wir verlieren? Eine Vielzahl schwerwiegender und kaum lösbarer Fragen in einer Katastrophe ungewissen Ausgangs. Die Pandemie lässt uns unsere existenzielle Vulnerabilität erleben, am eigenen wie am gesellschaftlichen Leibe spüren. Wir sind verwundbar. Die Räder stehen still – und waren doch auf ständige Aktivität und unaufhaltsamen Fortschritt programmiert.

Die Corona-Katastrophe als ein „apokalyptisches Szenarium“ hat uns in drastischer Weise vor Augen geführt, wie sehr die Menschheit inzwischen gegen die eigene Selbstzerstörung kämpfen muss: „Die Vorstellung bricht sich Bahn, dass der Tod des Einzelnen mit dem Ende der Welt zusammenfallen könnte“. Ist das denkbar: Dass alles, was die Menschheit in Jahrhunderten und Jahrtausenden aufgebaut hat, für immer verschwindet? „Alles fällt, und wird wieder gebaut“, schrieb im vorigen Jahrhundert William Butler Yeats. Momentan fällt es schwer, sich dieses „und wird wieder gebaut“ vorzustellen. Wird es wieder eine Zeit ohne Masken geben? Eine Zeit ohne Angst davor, die Atmo-Sphäre mit anderen zu teilen? Wird es wieder eine Zeit geben, in der wir uns unbeschwert und frei bewegen können? „Ist es schon zu spät?“, fragt Di Cesare, und: „Wird die Botschaft diesmal gehört werden?“ Ihr zufolge lässt sich der Wunsch nach Veränderung nicht verbergen, der in den letzten Jahren aufgrund eines „ungerechten, perversen und veralteten Wirtschaftssystems“ angewachsen sei.

„Es musste ein bösartiges Virus auftreten, um eine Pause durchzusetzen“, schreibt sie. Das verlangsamende Virus hat über die allgegenwärtige Beschleunigung gesiegt – und den Atem als grundlegenden Vollzug des Lebens ins Bewusstsein gerückt: Während die Philosophin an ihrem Essay arbeitet, bekämpfen Ärzte und Krankenpersonal auf den Intensivstationen die irreparable Atemnot, werden Patienten invasiv beatmet. Nach allem, was geschehen ist, werden der Atem und das Atmen keine Selbstverständlichkeit mehr sein. Den Imperativ des Wachstums, die Pflicht zur Produktion wie auch die Obsession des Ertrags – sie alle hat das Virus gestoppt.

Di Cesares Essay fingiert das Corona-Virus als Souverän. Seinen Namen hat das Virus von der es umgebenden charakteristischen Krone – Aureole – erhalten, sein Bild hat sich in unser aller Bewusstsein eingebrannt und gehört fortan zum Bestand des kollektiven Wissens wie des kollektiven Unbewussten. Nach und nach sickert das Virus, dringen die Atemmasken und alles, was mit der Pandemie an Maßnahmen ursächlich zusammenhängt, in unsere Träume ein. Die Aureole des Virus ist so beeindruckend wie furchterregend, seine Krone mächtig. Das Virus „entweicht, entschlüpft, überschreitet Grenzen, zieht weiter“. Erstmals, bemerkt Di Cesare, habe ein unsichtbares und unbekanntes, beinahe immaterielles Wesen die gesamte menschliche Zivilisation der Technik paralysiert: „Das war im planetarischen Maßstab noch nie zuvor geschehen.“ Alte Dogmen wurden pulverisiert, feste Gewissheiten zutiefst erschüttert. Hätte uns vor dem Auftauchen dieses Virus jemand gesagt, wie unsere Lebenswelten sich heute gestalten, wie sehr Bestehendes in Frage gestellt und unveränderlich Geglaubtes zerrüttet würde – wir hätten es weder glauben wollen noch uns vorstellen können.

Wäre es nicht unser aller tägliche Lebenswelt, man könnte Di Cesares Essay für eine Dystopie halten, die in fernen Zeiten, auf einem fernen Planeten, angesiedelt ist und von einer erschreckenden Un-Ordnung und Perversion erzählt. Dies ist beispielsweise im Kapitel „Der Lockdown der Opfer“ der Fall, das mit den Sätzen beginnt:

Es ist die Nacht des 18. März (2020), als ein Flugbegleiter von seinem Balkon aus eine lange Kolonne von Militärfahrzeugen aufnimmt, die den Friedhof von Bergamo verlassen, um die Särge der Verstorbenen in andere Städte zu verbringen. Das dortige Krematorium kann nicht mehr alle Leichname verbrennen. Die Scheinwerfer der Lastwagen blinken, wie um sich zu entschuldigen, wie um jene Aufgabe zu beklagen, jene Verpflichtung, die sie sich niemals hätten vorstellen können.

Die Bilder von Bergamo – innerhalb kürzester Zeit verbreiteten sie sich im Internet, das Video löste, nicht allein in Italien, ein tiefes Trauma aus. Das Sterben an Covid-19: von Sirenen, Schutzanzügen, Masken und Einsamkeit begleitet: „Es geht eine ganze Generation davon, die, die das Gedächtnis bewahrte“. Beerdigungen: verboten, Friedhöfe: abgesperrt. „Die Körper erhalten nicht die fromme Sorgfalt, die einem unvordenklichen Kult entstammt“, beklagt die Philosophin. Sie werden mit dem eingeäschert, womit sie im Augenblick des Ablebens bekleidet waren, „eingehüllt in einem keimtötenden Stoff“. Den Angehörigen wird lediglich die Asche übergeben – es ist ein Risiko, das Plastiksäckchen mit den persönlichen Gegenständen des Verstorbenen – „ein paar Hausschuhe, eine Gebäckdose, eine Uhr“ (man fühlt sich an das Eich-Gedicht Inventur erinnert) – entgegen zu nehmen. Der Tod wird gereinigt, desinfiziert, sterilisiert; mit den an Covid-19 Verstorbenen, schreibt Di Cesare, verfährt man wie mit Atommüll und bakteriell verseuchten Abfällen.

Der Souverän – das gekrönte, unregierbare Virus – hat dem Größenwahn der Menschen, wie es scheint, ein für alle Mal ein Ende gesetzt. Es hat gezeigt, wie „die kulturelle und soziale Wirklichkeit […] in die menschlichen Nerven-, Endokrin- und Immunsysteme eingeht“, wie Siri Hustvedt es in einem 2019 im Schweizer Kampa Verlag erschienenen Salon-Gespräch (Wenn Gefühle auf Worte treffen) mit Elisabeth Bronfen im Blick auf uns – auf eine oft schmerzliche und störende Weise – bindende kulturelle Vorstellungen formuliert hat. Bis gestern noch konnten wir uns als „allmächtig zwischen den Trümmern“ ansehen, schreibt Di Cesare, „als die Ersten und Einzigen auch im Primat der Zerstörung“. Dieser Primat wurde uns genommen – von einem Etwas, das stärker und noch zerstörerischer ist als wir selbst: „Dass es sich dabei um ein Virus handelt, einen niederen Teil organisierter Materie, macht das Ereignis nur umso traumatischer.“

Di Cesares Essay ist ein lesenswertes Buch. Dass wir mit offenen Fragen und dem schalen Gefühl von Düsternis und Vergeblichkeit, einem radikalen Auf-uns-selbst-Zurückgeworfen-Sein, zurückbleiben, ist nicht dem Text, sondern den gegenwärtigen Umständen anzulasten. Ein Trost in all dem Schweren mag die feine Ausstattung des Büchleins sein: Federleicht liegt es in der Hand, und die zarte, angenehme Haptik von Einband und Papier verströmt etwas beinahe melancholisch Tröstliches – ein Hauch, so will es scheinen, in der Allgegenwart der Atemnot.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

 

Titelbild

Donatella Di Cesare: Souveränes Virus? Die Atemnot des Kapitalismus.
Aus dem Italienischen von Daniel Creutz.
Konstanz University Press, Konstanz 2020.
114 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835391321

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